FYI.

This story is over 5 years old.

Popkultur

White Punk on Hope: Gee Vaucher

Gee Vaucher redet endlich mit uns.

Gee Vaucher ist eins der Gründungsmitglieder von Crass und eine geniale Künstlerin, die das Artwork des Punkrock mitgeprägt hat. Ihr Mal- und Collagenstil ist von 890.786 anderen Künstlern für ihre beknackten Plattencover abgekupfert worden, so z. B. auch von Winston Smith.

Gee wohnt gemeinsam mit Penny Rimbaud, mit dem wir uns vor ein paar Monaten für die Anti Music Issue unterhalten haben, im Dial House in Epping Forest, Essex. Wir sind seit ein paar Jahren befreundet, aber unsere bisherigen Anfragen, sie für das Magazin zu interviewen, wurden immer mit einem freundlichen, aber bestimmten „Nein“ beantwortet.

Anzeige

Das erste Mal fragte ich sie, nachdem ich ihr eine Kopie einer unserer Photo Issues geschickt hatte, auf die wir besonders stolz waren, und sie sagte so etwas wie: „Na ja, ich habe mir die Sachen in eurem Heft angesehen und ich fand sie leider komplett scheiße.“

Das letzte Mal, dass wir Zeit zusammen verbrachten, war beim Raindance Film Festival, nachdem sie mir freundlicherweise geholfen hatte, meine Filme Swansea Lovestory und The VICE Guide to Liberia in die Festivalauswahl zu kriegen.

In der Fragerunde nach der Vorführung sagte Gee lautstark: „Ja, es ist schön und gut diese Filme über die armen Leute in Liberia zu machen, aber warum tut ihr nicht lieber was dagegen, indem ihr z. B. mal in euer Portmonee greift!“

Gee, die Mitte 60 ist, arbeitet momentan an einer Bilderserie von Kindern, die sie in ihrem Kuhstall neben ihren Kühen lagert. Wir unterhielten uns darüber, wie Saatchi die Seelen der Leute kauft, über Dagenham und die Tücken des Kommunenlebens.

Vice: Lass uns über deine neuen Arbeiten reden, die du gerade gemacht hast.

Gee Vaucher: Es sind zwei mal zwei Meter große Porträts von Kindern, die zu früh zu viel gesehen haben. Ich habe versucht, sie nicht geschlechtsspezifisch zu machen. Man muss seine eigenen Schlüsse ziehen. Ich mag die Zähigkeit von Kindern. Selbst, wenn sie mit schrecklichen Situationen konfrontiert sind, kommen sie irgendwie durch und merken, dass das Leben weitergeht.

Anzeige

Hast du sie aus der Erinnerung gemalt oder sind sie frei erfunden?

Ich mache meist erst eine Collage und male diese dann ab. Ein paar sind Bilder, die ich so, wie sie sind, gefunden habe, aber natürlich sind es keine Reproduktionen. Ich mache in meinen Arbeiten nie zweimal dasselbe—mal mache ich Drucke, dann Skulpturen, dann Ölbilder.

Viele Leute dachten, dass die Sachen, die du für Crass gemacht hast, wie Feeding the 5.000 Collagen waren. 

Aber es waren Gemälde. Mit den Collagen fing ich an, als ich merkte, dass ich es nicht schaffte, ein Bild in einer einzigen Nacht fertig zu kriegen. Sie wollten ein drei Meter hohes Bild oder so etwas und es war schlicht unmöglich. Also kürzte ich das Ganze ab und begann diese „Abkürzungen“ mit Malerei zu kombinieren und diese Technik auch für Sachen zu nutzen, die keine Auftragsarbeiten waren.

Wie kam es, dass du damals in New York warst?
Ich war dort, weil ich im Prinzip mein ganzes Leben an einem Ort verbracht hatte, im Dial House, wo ich immer noch wohne. Zu der Zeit wurdest du in London als Illustratorin total scheiße behandelt. Du solltest die bekloppten Ideen von anderen Leuten illustrieren. New York war anders, viel respektvoller. Ich arbeitete als politische Illustratorin und ich bekam ein paar fantastische Aufträge.  Was zum Beispiel? 
Ich machte z. B. für die New York Times was über die Korruption rund um Klassenfotos—wie Eltern genötigt wurden, sie zu kaufen, und was sie dafür zahlen mussten. Sie ließen mir ziemlich freie Hand; sie gaben mir die Geschichte zu lesen und ließen mich machen. Ich bin niemand, der Entwürfe macht, aber sie sagten: „Mach doch bitte mal einen Entwurf und leg ihn uns dann vor.“ Ich sagte aber: „Auf gar keinen Fall.“ Also machte ich die Arbeit einfach sofort richtig und sie fanden sie toll. Und so entwickelte es sich dann. Die Themen wurden dann auch härter—als nächstes kam Freddie Cowen, ein Nazisympathisant, der bei seiner Mutter lebte, und eines Tages seine Gewehrsammlung nahm und von einem Dach aus Leute erschoss, bevor er sich selbst umbrachte. Dann zeichnete ich Carlos den Schakal, nachdem er auf [Joseph] Sieff, den [britischen] Zionistenführer, geschossen hatte. Ich machte auch viele Arbeiten für das Magazin der New York Times und für Magazine wie Ebony, was mir echt Spaß machte, da es vor allem um schwarze Themen ging und ich mich mit der Redaktion sehr gut verstand.  Wie war es im Vergleich mit den Staaten in Großbritannien?
Sie erlegten einem in dem, was man tun konnte, sehr enge Grenzen auf, also beschloss ich keine Illustrationen zu machen, bei denen man kreativ sein musste. Ich machte Sachen über den Lebenszyklus von Austern und so etwas, technische Sachen.  Hast du je einen Agenten gehabt?
Nein, ich bin glücklich, dass ich von meiner Arbeit leben kann, und freue mich wirklich, wenn Leute mir einen Raum anbieten, in dem ich arbeiten kann, denn ich zeige meine Sachen wirklich gern in Ausstellungen. Was mehr sollte ich wollen? Ein paar meiner Sachen sind zu verkaufen. Ich versuche nicht, eine Million zu verdienen.  In den letzten 20 Jahren ist der Kunstmarkt komplett durchgedreht.
Das tut er während einer Rezession immer. Er ist das einzige, das nie nach unten geht.

Anzeige

Mit deinen Erfahrungen in der Kunstwelt—hast du eine Veränderung beobachtet, nachdem die Saatchis kamen und die Kunst zu kommerzialisieren begannen?
Nun ja, sie haben ja nicht so sehr die Kunstwelt kommerzialisiert—es fühlte sich eher an wie: „Die Schweine, jetzt machen sie das schon wieder.“ Es ist ein wenig, wie eine junge Band zu nehmen und zu einer Ware zu machen, sie zu Stars zu machen, womit die Leute dann, wenn sie noch sehr jung sind, überhaupt nicht klarkommen. Sie halten einem mit dem Ruhm auf der einen und dem Geld auf der anderen Seite ein dicke, fette Möhre vor die Nase und in der Sekunde, wo man da ausbricht, lassen sie einen wie einen Sack Steine fallen. Das ist mit vielen der Leute am Goldsmiths College passiert. Saatchi hat einen ganzen Jahrgang aufgekauft und dann wieder fallen gelassen. Ich glaube, so haben sie eine ganze Menge wirklich guter Künstler kaputtgespielt. Junge Leute sehen Kunst jetzt als eine Möglichkeit an, Stars zu werden. Aber man kann seine Seele nicht verkaufen und Saatchi hat, glaube ich, eine Menge Seelen auf dem Gewissen. Das ist nicht hinnehmbar. OK, einige Leute haben davon profitiert, aber viele sind unter die Räder gekommen. Es ist sehr schwer, mit seiner Arbeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich habe mein Leben lang sehr viel Glück gehabt, aber ich habe auch keine hohen Ansprüche. Solange ich mein Atelier habe und mich da zurückziehen kann, bin ich zufrieden.

Anzeige

Wo bist du aufgewachsen?
In Dagenham. Dort arbeiteten die Väter und Mütter von uns allen entweder bei Ford oder Allied Trades, also versuchten sie in der Schule vor allem, uns von der Straße fernzuhalten und auf Jobs dort vorzubereiten. Wir machten nur zwei Ausflüge, aber für mich war es toll, weil ich die Fabriken wunderschön fand. Du gingst in die Fabrikhalle und sahst diese Kessel, die halb so groß wie der ganze Raum und voller Farbe waren, Lippenstiftfarbe. Ich habe es geliebt. Es hat mich zwar trotzdem nicht überzeugt, für Yardley zu arbeiten, aber visuell war es toll. Dann bewarb ich mich bei der örtlichen Kunstschule und kam auf Grundlage meiner Arbeiten da rein. Damals wurdest du noch aufgrund einer tollen Mappe angenommen, auch wenn du sonst nichts vorzuweisen hattest. Viele junge Leute wollen einen Kunst-PhD machen und ich sage dann immer: „Würde Picasso mit einem PhD rummachen? Warum macht ihr nicht einfach, was ihr wollt?“ Der einzige Grund, warum man an eine Kunstschule geht, ist das Material. Als ich zur Kunstschule ging, gab es das alles umsonst. Wie die Leute sich das heute leisten können, ist mir ein Rätsel. Ich würde das heute, als jemand aus Dagenham, mit dem Geld meiner Eltern, nicht mehr machen können. Das ist schrecklich.  Was hat dich als Kind künstlerisch geprägt? Haben deine Eltern dich durch Galerien geschleppt?
Nein, solche Sachen habe ich nie gesehen. Wir hatten nur eine einzige Buchreihe, und das war Charles Dickens. Ich habe viele Dinge aus Zeitungen und Zeitschriften kopiert und ich weiß noch, dass ein Lehrer an der Schule einmal zu mir sagte: „Du solltest aufhören zu kopieren und selbst etwas machen.“ Ich war ziemlich schockiert und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich reichte ein Bild bei einem Wettbewerb ein, wurde aber disqualifiziert, weil ich etwas draufgeschrieben hatte. Es war ein Bild vom Abendmahl in einer Höhle, wo Jesus blaue Haut hatte und dastand und jemand an dem Tisch saß und ein Schild hielt, auf dem stand „Ban the Bomb“, also wurde ich disqualifiziert.  Was passierte, nachdem du mit dem Kunststudium fertig warst?
Ich arbeitete drei Tage die Woche in einem Kunstzentrum in Barking, wo Schulen hinkommen konnten, um einen Tag lang Kunst zu machen. Ich war dort Technikerin.  Lebtest du damals schon im Dial House?
Ich hatte meine eigene Wohnung, ein paar Kilometer vom Dial House entfernt. Ich hatte beschlossen, nicht mit der Gang zusammenzuziehen, denn ich wollte unabhängig bleiben. Aber nach einer Weile zog ich dann doch dort ein. Es kam mir irgendwann sinnlos vor, immerfort Rasenmäher und Staubsauger von A nach B zu schleppen. Wann wurde klar, dass du immer das Artwork für die Crass-Sachen machen würdest?
Nun, du kennst mich ja. Wenn man mir einen kleinen Finger reicht, nehme ich die ganze Hand. Ich liebe es, mit anderen Menschen zu arbeiten, und ich musste erst lernen, mich etwas zurückzunehmen, denn wenn jemand einen Vorschlag macht, mache ich mir den sofort zu eigen und lege los, und das kann andere Leute manchmal etwas vor den Kopf stoßen. Ich mag es nicht, auf irgendeine Weise kontrolliert zu werden. Ich bin sehr wählerisch. Wenn man mir nicht genug Freiraum lässt, interessieren mich die Sachen nicht.

Hast du je einen Job fertig gemacht, obwohl man dich gezwungen hat, Änderungen vorzunehmen? 
Ich ging aus New York weg, als immer klarer wurde, dass meine Arbeiten dort nicht mehr akzeptabel waren. Ich habe einmal eine Arbeit geändert und habe mich danach irgendwie beschmutzt gefühlt und mir gesagt, dass ich da weg wäre, wenn es noch einmal passiert. Es passierte noch einmal, beim New Yorker Magazine—genau genommen haben sie eine Arbeit komplett nicht angenommen. Also musste ich gehen. Mein Leben ist viel von Zufällen geleitet worden. In der Hinsicht habe ich viel Glück gehabt. Wenn ich irgendwo allein und ohne alles in der Wildnis stehe, kommt plötzlich jemand aus dem Gebüsch und bietet mir Hilfe an.  Bist du auf irgendeine Weise religiös oder abergläubisch?
Religiös ist vielleicht das falsche Wort—spirituell ist wahrscheinlich treffender. Meine Eltern waren Methodisten, was mir aber gerade erst klar geworden ist. Ich war wegen der Banksy-Ausstellung in Bristol, bummelte durch die Stadt und landete irgendwann in einem Shopping Center. Links davon war eine Wesleyanische Kirche. Ich dachte, ich muss da rein und mich von diesem ganzen „Buy! Buy! Buy!“ um mich rum erholen. Ich ging nach oben und dort gab es all diese Zimmer, die dazu da sind, Geschichten zu lesen, und plötzlich machte es Klick: Meine Eltern waren Methodisten! Ich weiß nicht, warum es so lange gedauert hat, bis mir das klar wurde. Mein Vater war ein großartiger Geschichtenerzähler—keine religiösen Geschich­ten, sondern extrem lustige Geschichten, bei denen alle Nachbarn kamen, um zuzuhören. Und daher kam das—ist es nicht komisch? Also mochte ich die Banksy-Ausstellung zwar auch, aber hatte von dem Besuch in der Kirche eigentlich mehr, was ich echt lustig fand.  Aber im Vergleich zu einer katholischen Kirche findet man in einer methodistischen Kirche wenig Bilder. 
Das gibt es dort nicht—es geht um die Erfahrung und um das Geschichtenerzählen. Es gibt da so eine Geschichte, die mein Vater immer erzählte und die während des Krieges spielt. Die Familie war nach Dagenham gezogen und er hielt im Garten ein paar Hühner. Dagenham wurde viel bombardiert und ein Huhn wurde von einem Granatensplitter am Hals verletzt. Mein Vater liebte seine Hühner aber nun mal, weil sie Eier für die Kinder legten, also rannte er raus, schnappte sich das Huhn und rief den Nachbarn zu: „Hat jemand Nadel und Faden?“, und ein Witzbold von nebenan rief: „Was für eine Farbe willst du?“ Ich verstand den Witz damals nicht. Ich sah alle anderen lachen, wenn er es erzählte, weil sie die Situation kannten, und als ich älter war, verstand ich es.  Ich liebte auch die Kameradschaft in unserem Viertel—alle hakten die Zäune in den Hinterhöfen aus, sodass man sich frei bewegen konnte, alle hatten Schlüssel und alle halfen sich gegenseitig auch aus—es war eine tolle Gemeinschaft. Und seitdem habe ich mein Leben lang mit anderen Leuten zusammengewohnt, sei es in Dagenham, sei es im Dial House oder in New York, wo sich in dem Haus auch alle kannten.

Was magst du an dieser Art zu leben?
Ich mag Extreme. Ich mag das Abenteuer, zusammen zu arbeiten, und Dial House war immer eine Herausforderung. Meist war es toll, manchmal aber auch ein Albtraum; aber weißt du, in jeder Situation lernst du etwas über dich, denn wir haben alle so viel an uns, das sonst verborgen bleibt. Und natürlich hast du diese Situation in einem offenen Haus, wo Leute aufkreuzen, die am Rande der Hölle stehen.  Hast du nie das Gefühl gehabt, dass es gefährlich sein könnte?
Nein, eigentlich nicht. Wenn es das gewesen wäre, hätte ich mich darauf verlassen, dass ich es mitbekommen hätte. Da gab es mal einen Typ, der ein ziemlicher Säufer war und am Morgen schon drei Flaschen Wodka trank. Es war wirklich erstaunlich, weil es ihm überhaupt nichts anzuhaben schien. Er torkelte nicht oder so was. Er aß auch nichts. Ich musste ihn zwingen, etwas Brot zu essen. Ich konnte ihn aber nicht aufnehmen; er war extra den weiten Weg hierher gekommen und ich sagte ihm: „Wenn du es da rausschaffen willst, musst du anfangen, dich ein bisschen besser zu behandeln.“  In einem offenen Haus passiert so was einmal im Monat und das ist auch das Prinzip davon. Aber je älter man wird, desto mehr denkt man, ich habe nicht so viel Zeit und muss zusehen, dass ich vorankomme. Ich kann kaum glauben, dass das mit Crass 30 Jahre her ist. Was ist die Kunstform, die du am liebsten machst: Film, Malerei, Musik?
Ich mag eigentlich alles. Ich schaue einfach, was kommt. Ich hatte diese Woche eigentlich nicht vor, noch ein Gesicht zu malen, aber ich fand eins, das ich schon weggestellt hatte und eigentlich übermalen wollte, und dachte, das hat was und ich muss da irgendwie dranbleiben. Ich hoffe, es in den nächsten Tagen fertig zu kriegen.  Wie viele Bilder werden es mit diesem dann sein?
Sechs. Ich bewahre sie in der Scheune bei den Kühen auf. Ich habe keine Wahl. Ich würde sie lieber nicht dort aufbewahren, aber ich habe woanders keinen Platz für sie.  Sind sie schon mal von einer Kuh angefressen worden?
Nein, aber manchmal reißen sie sie um. Ich würde sie gerne ordentlich lagern, aber wir haben den Platz einfach nicht. Das habe ich nun davon, dass ich so große Sachen male.  Hast du viele Angebote, deine Arbeiten zu zeigen?
Ja, aber ich brauche völlige Freiheit. Ich reise gerne, aber noch mehr liebe ich es, allein in mein Atelier zu gehen, sonst fühle ich mich oft fehl am Platz. Wenn man mich für eine Ausstellung anfragt und ich nichts habe, das halbwegs neu ist, fühle ich mich nicht wohl dabei, denn ich habe so schon genug um die Ohren. Manchmal gehe ich mit nichts ins Atelier, aber irgendetwas passiert immer. Ich bin gefragt worden, nächstes Jahr diese große Ausstellung zu machen und im Jahr darauf eine in Paris, also muss ich eine Menge Sachen produzieren. Aber ich kann es nicht erzwingen, denn ich brauche den Raum und die Zeit, um es zu tun; ich muss mich anstrengen und experimentieren und das braucht seine Zeit. Ich bin vorsichtig damit.