Das malen Kinder, die vor dem Islamischen Staat flüchten mussten
Foto: Olivia Kortas

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Das malen Kinder, die vor dem Islamischen Staat flüchten mussten

Militiaflaggen statt Blumen und Sonnenschein—der Alltag in einem Flüchtligscamp an der syrisch-türkischen Grenze.

Olivia Kortas studierte politischen Journalismus mit Fokus auf Europa, die Hälfte der Zeit in den Niederlanden, dann in Dänemark. Für ein Hochschulprojekt lebte sie drei Wochen in verschiedenen Flüchtlingscamps an der türkisch-syrischen Grenze, um über die Hoffnungen, Zukunftspläne und den ganz normalen Alltag der kurdischen Flüchtlinge zu schreiben. Mitgebracht hat sie ein Stimmungsbild der Region, in Form von Kinderzeichnungen. Flaggen und Nationalfarben, statt Ponys und Blumenwiesen. Wir haben mit ihr gesprochen.

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VICE: Hast du dich davor schon intensiv mit dem Thema IS auseinandergesetzt? Wie bist du dazu gekommen, an der syrischen Grenze zu arbeiten?
Olivia Kortas: Ich hatte mich davor schon mal für einen Artikel lange mit der IS-Propaganda in Europa beschäftigt. Und ich verfolge natürlich die aktuellen Entwicklungen. Bei diesem Projekt im Süd-Osten der Türkei lag der Fokus aber weniger auf dem IS, sondern auf den Kurden. Viele der Camps wurden von kurdischen Gemeinden organisiert. Ich habe darüber geschrieben, wie das Leben dort nach neun Monaten aussieht. Wie läuft der Alltag ab, welche Zukunftspläne haben die Menschen? Wie helfen die kurdischen Gemeinden den Flüchtlingen? Ich schrieb außerdem über die türkischen Parlamentswahlen am siebten Juni. Besonders in den kurdischen Gebieten war der Wahlkampf sehr emotional und präsent. Die Menschen hofften auf den Parlamentseinzug der pro-kurdischen HDP.


Eingekesselt vom Islamischen Staat: Der Weg nach Mossul.


Wie kann man sich den Alltag in dem Flüchtlingscamp vorstellen?
Es gibt verschiedene Flüchtlingscamps und so unterscheidet sich der Alltag. Flüchtlinge, die viele Familienmitglieder verloren haben, leben in etwas komfortableren „Container"-Camps. Dort ist die Stimmung etwas ruhiger, eine Rückkehr in die Heimat kommt für diese Menschen noch nicht in Frage. Ich war lange Zeit in einem Camp, das nur wenige Kilometer von Kobane entfernt liegt. Die Menschen dort sind angespannter, es herrscht Aufbruchstimmung. Nur 120 der einst 900 Zelte stehen noch, seit Wochen verlassen Menschen fast täglich das Camp und gehen zurück nach Kobane. Das Campleben an sich ist sehr routiniert und die Flüchtlinge nehmen den Alltag selbst in die Hand. Morgens wird das Frühstück verteilt: Brot, Oliven, manchmal auch Käse. Die Kinder putzen am Vormittag die Klohäuschen und sammeln den Abfall auf den Campwegen ein.
Eine kleine Gruppe von Flüchtlingen kocht das Mittagessen für das gesamte Camp. Meist Bohneneintopf, Salat und dazu Brot. Nachmittags suchen die Menschen in ihren Zelten Schutz vor der Hitze. Das Camp besteht nur aus Zelten und ist zehn Kilometer vom Dorf Suruc entfernt. Viel zu tun gibt es für die Menschen dort nicht. Zwei bis drei Mal die Woche kommt ein freiwilliger Lehrer aus Suruc und unterrichtet das lateinische Alphabet, Kurdisch und Türkisch. Einige Flüchtlinge arbeiten tagsüber für die Bauern in der Umgebung und verdienen so etwas Geld. Aber fast alle Menschen haben schon mit dem Camp abgeschlossen und bereiten sich auf ihre Rückkehr nach Kobane vor.

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‚Der Vormarsch des Kalifats'—unsere Doku mit vorher nie gesehenen Bildern aus dem Inneren der Terrormiliz Islamischer Staat.

Was war den Eindruck zu den Kindern dort?
Viele der Kinder im Camp benehmen sich sehr erwachsen und selbstständig. Sie kochen, putzen, bauen Zelte ab und helfen den Campmitarbeitern, wo sie nur können. Die Jüngsten spielen viel und sind lebendig. Sie basteln Drachen aus Plastiksäcken und plantschen an den Wasserstellen. Manche Kinder würden lieber im Camp bleiben, anstatt zurück nach Kobane zu gehen. Dort erwarten sie die Ruinen ihrer Häuser und viel Arbeit beim Aufbau. Die Eltern-Kind-Beziehung dort weicht etwas ab von dem, was wir hier gewohnt sind. Kurdische Eltern haben meist fünf, sechs, sieben Kinder. Im Camp sind zudem gerade andere Dinge wichtig—das Interesse der Eltern für Spiele und Zeichnungen ist gering. Trotzdem sind sie stolz, wenn ihre Kinder von Kobane und vom Kampf der YPG und der YPJ singen.

Alle Fotos: Olivia Kortas

Wie lief die Malstunde ab?
Eine internationale Helferin schenkte den Kindern die Stifte und ein paar Blätter Papier. Ich war gerade erst im Camp angekommen. Eine Camparbeiterin fragte mich, ob ich für ein, zwei Stunden ein Auge auf die Kinder werfen könnte. Ich war also nur Aufseherin und ließ die Kinder frei malen. Das Ganze fand in einem grauen Plastikzelt statt, in das zehn Holzbänke und zwanzig Stühle gequetscht wurden. Ein paar der Vier- bis Zehnjährigen haben direkt eifrig angefangen zu malen, die meisten haben mich aber direkt umzingelt und angefangen zu schreien. Sie wollten ‚Sor, kerk, zer' — ‚rot, grün, gelb'. In der gut gemeinten Packung Wachsmalkreiden, die eine rumänische Helferin kaufte, gab es davon aber je einen.

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Die Motive waren also alle recht ähnlich?
Zumindest wollten die meisten mit Rot, Grün und Gelb malen. Das sind die kurdischen Farben, die Farben ihrer Heimat. Und die der Kämpfer, die ihre Stadt Kobane befreiten. Insgesamt waren die Bilder fast ausschließlich politisch. Die Kinder malten, als ginge es darum, wer am schnellsten die meisten Blätter füllen kann. Sie hatten richtig Spaß und waren stolz auf ihre Bilder.

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Azads Trikolore in den kurdischen Farben, nachdem er seine rote Wachsmalkreide bekommen hatte.

Der linke Flugzeugträger deutet die Flagge der YPG an, der rechte zeigt eine Flagge in den kurdischen Farben.

Das einzige Bild, das komplett in Blau gemalt wurde. Im Hintergrund könnten Häuser zu sehen sein und im Zentrum eine Explosion.

"Das ist mein Zuhause, Kobane", sagt die neunjährige Nesrin.

Rojava heißen die kurdischen Gebiete im Norden Syriens. Die YPG ist eine kurdische Volksschutzeinheit—ebenso wie die YPJ, in der aber ausschließlich Frauen kämpfen. Die PKK ist die Arbeiterpartei Kurdistans. Sie steht in Deutschland auf der Terrorliste.

,Kobane' steht auf Arabisch in der Mitte des Herzen. Der Elefant im rechten Eck hält eine YPG Flagge im Rüssel.

Ein gelbes Dreieck mit einem roten Stern: Die YPG Flagge. Die Kinder im Camp singen häufig davon, wie die Militia ihre Heimat Kobane befreit hat.

Einige Kinder zeichnen keine politischen Symbole und Flaggen, benutzen aber ausschließlich die kurdischen Farben.

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Seit neun Monaten leben die Kinder in Zelten. Einige von ihnen Zeichnen ihre Häuser, hier mit einem schwarzen Loch im Eingang.

Die Flagge des Politischen Arms der PKK. Sie ist in Deutschland wegen der Kämpfe zwischen der PKK und dem Türkischen Staat seit 1993 verboten. YPO sollte eigentlich APO bedeuten — die Abkürzung für den PKK-Führer Abdullah Öcalan. Viele Kinder lernen das lateinische Alphabet erst im Flüchtlingscamp und verwechseln deshalb Buchstaben.

Ciwan zeichnet einen Steg an dessen Ende ein Friedensvogel auf einem Ast sitzt.

Die Jüngsten zeichnen Herzen in grün, rot und gelb.

Ein roter Stern auf einem grünen Quadrat ist die Flagge der kurdischen Frauenmiliz YPJ.

Auf einem Regenbogen in kurdischen Farben wächst ein Baum — darunter und darüber steht der Spitzname Abdullah Öcalans, „Apo". Seit 16 Jahren ist der PKK-Führer in Haft auf der Gefängnisinsel Imrali.