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Wir müssen aufhören, alte Menschen als lieb und harmlos zu idealisieren

Dinge wie die EDEKA-Werbung und PawPaw spielen mit unserem schlechten Gewissen. Dabei brauchen wir eigentlich keines zu haben.

Katzen und Babys bekommen in letzter Zeit einen starken Konkurrenten: alte Menschen. Katzen und Babys sind einfach nur süß, lieb und unschuldig. Alte, einsame Menschen sind aber bei der richtigen Inszenierung ein glatter Schuss in jedes noch so kalte Herz. Die EDEKA-Werbung kurz vor Weihnachten—also genau zu dem Zeitpunkt, als man sich gerade entschlossen hatte, Weihnachten eben nicht bei den Großeltern zu verbringen—hat uns alle ein bisschen in der Ecke weinen lassen. Ich habe mich tatsächlich noch nie nach einer Werbung so schlecht gefühlt.

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Weil Weihnachten aber schon so lange her und unser Schlechtes-Gewissen-Vorrat fast wieder leer ist, gibt es bereits einen neuen Fall: PawPaw-Gate. Wer es nicht mitbekommen hat: Auf Twitter hat eine Enkelin das Foto ihres Opas getwittert. Der Text sinngemäß: Er hat Essen für sechs seiner Enkel gemacht und nur eines ist gekommen. Auf dem Bild ist ein trauriger, alter Mann zu sehen. Und wieder: Glatter Schuss in mein kaltes Herz.

dinner with papaw tonight… he made 12 burgers for all 6 grandkids and I'm the only one who showed. love him — kelsey (@kelssseyharmon)17. März 2016

Auch die hierzulande weniger bekannte Werbung von Johnson's, in der Großeltern aufgefordert werden, über das Wegbleiben ihrer Kinder und Enkel aus ihrem Leben zu erzählen, trifft mich hart. Und ich ertappe mich dabei, wie ich mit dem fremden 70-jährigen Mann im Video mitweine. John Lewis—eine britische Supermarktkette—hat im November eine ähnliche Werbung wie EDEKA herausgebracht. Auch hier wurde der Clip gefeiert und das beworbene Teleskop war binnen weniger Stunden ausverkauft—während ich mich schäme und in der Ecke weine.

Die Liste mit Beispielen ließe sich ewig fortsetzen, wobei das Phänomen nicht nur die Werbung betrifft. Auch Kurzfilme widmen sich dem Thema und machen mir ein bisschen zu allem Überfluss noch mehr Angst vor dem Älterwerden. Immerhin vereinsamt man doch, wenn Kinder ihre eigene Familie gründen. Oder?

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Wenn es nach der Tränendramaturgie der erwähnten Videos geht, ja. Aber das ist vielleicht nicht die ganze Wahrheit. Immerhin geht es Internetvideos um starke Reaktionen und große Emotionen—da machen sich Botschaften wie „Vielleicht ist er aber auch ein alter Nazi, der gegen Kinder und Ausländer schimpft?" nicht ganz so gut. Ganz so idyllisch wie in der Werbung ist es in Wirklichkeit leider nicht immer.

Eine Freundin von mir trifft es ziemlich gut auf den Punkt: „Mein Opa hat meine Mama regelmäßig verdroschen. Außerdem hat er unheimlich viel gesoffen. Sie hat den Kontakt abgebrochen, weil es für sie nicht mehr psychisch tragbar war, ihn so uneinsichtig zu sehen. In den letzten Lebensmonaten ist sie ihrer Pflicht als Tochter nachgegangen und hat sich um ihn gekümmert—gut getan hat es ihr nicht." Auch wenn ich mich in meiner Umgebung umhöre—manchmal gibt es wirklich gute Gründe, warum man gewisse (Groß-)Elternteile nicht so oft sieht.

Was wir nämlich nicht vergessen dürfen—wenn wir unsere Familie lieben, dann sehen wir sie auch. Natürlich hat man einen Job, lebt vielleicht in einer anderen Stadt, hat vielleicht auch schon seine eigene Familie. Aber das ist alles kein Hindernis, um Großeltern anzurufen, sie zu besuchen und sie in die eigene neue Familie zu integrieren. Zumindest, wenn es von beiden Seiten gewünscht ist.

„Meine Oma hat den Kontakt mit uns abgebrochen. Sie ist einfach introvertiert und gerne alleine—ein Besuch von uns stresst sie sehr. Wir rufen noch immer an, aber sie mag uns nicht hören oder sehen", erzählt mir eine andere Freundin.

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Das kenne ich auch aus meiner eigenen Erfahrung. Mein Großvater ist sehr überfordert, wenn wir länger als zwei Tage da sind—es gefällt ihm nicht, wenn Gegenstände im Haus verschoben werden und wenn man sich nicht an seine Alltagsabläufe hält. Auch Anrufe bekomme ich von ihm trotz bester psychischer und physischer Fitness nur sehr selten. In Wien hat er mich genau ein Mal besucht—vor 12 Jahren.

Trotz meiner Einladungen möchte er mich hier nicht besuchen—und so manage ich meine knappe Freizeit, Urlaubstage und Alltagsstress drei Mal im Jahr so, dass ich ihn besuchen fahren komme. Mehr geht sich beim besten Willen nicht aus. Und es tut mir verdammt weh—ich weiß, er sitzt daheim und hat zwar seine Kumpels, aber ich weiß, dass er seit dem Tod meiner Oma jeden Abend alleine einschläft. Die Vorstellung ist grausam.

Wir könnten uns durchaus öfter sehen und hören—wenn ich nicht die alleinige Verantwortung für den Kontakterhalt in dieser Beziehung hätte. Eine soziale Beziehung ist eben keine Einbahnstraße. Und so lange Großeltern fit und vital sind, sehe ich nicht ein, warum ich mir ein schlechtes Gewissen einreden lassen sollte—von keinem Clip der Welt. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass jener Teil der Menschheit, der bei der EDEKA-Werbung geweint hat, voller kaltblütiger Monster ist, die ihre Großeltern absichtlich vernachlässigen. Es ist nur sehr schwer, aktiv auf Großeltern zuzugehen und sie zu integrieren, wenn man einen Arschvoll zeitintensiver Verpflichtungen hat—denen man irgendwie nachgehen muss, wenn man keine einsame und arbeitslose Existenz sein möchte.

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Die PawPaw-Sache ist übrigens mittlerweile aufgeklärt. Der Opa des Mädchens hat eingeräumt, dass es ein Kommunikationsfehler war und einige der sechs Enkel nicht mal wussten, dass er für sie gekocht hatte.

Natürlich sollten wir innehalten und reflektieren, ob wir uns genug um unsere Großeltern kümmern. Und manchmal (in besonders harten Extremfällen) ist es auch legitim, ein schlechtes Gewissen zu haben. Aber uns sollte auch bewusst sein, dass wir vielleicht eh ganz normale Enkel und Kinder sind und unsere Großeltern mehr Freude mit uns haben, wenn wir unser Leben so aufbauen, dass wir glücklich sind.

Weil es damit aber nicht so einfach getan ist, habe ich mich mit einer Expertin unterhalten, die ihre Doktorarbeit im Bereich der Geriatrie geschrieben hat und die bereits seit 20 Jahren in Altersheimen mit kranken aber auch fitten Senioren arbeitet. Und ja, die auch noch meine Mama ist.

VICE: Kann es sein, dass Menschen im Alter introvertiert werden und gar nicht so oft ihre Familie sehen wollen?
Dr. Ferková: Aussagekräftige Statistiken dazu sind mir nicht bekannt. Aber ich merke im Arbeitsumfeld und durch Gespräche mit den Familien, dass sich oftmals die Persönlichkeit ändert—extrovertierte Menschen werden introvertiert und umgekehrt. Die Prioritäten ändern sich auch im Alter. Familie bleibt meistens eine davon—aber nicht mehr in der kümmernden Rolle.

Woran liegt es, dass manche Senioren gar nicht so viel Kontakt mit ihrer Familie suchen ?
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass alle Menschen gerne Kontakt mit der Familie haben oder Besuche empfangen. Es geht um die Zeitspanne. Sie wollen nicht überfordert oder gefordert werden—sie wollen nicht kochen, aufräumen oder sich den ganzen Tag konzertieren, fühlen sich dazu aber verpflichtet wenn ein Familienbesuch da ist—immerhin haben sie das die Jahre davor gemacht. Die Möglichkeit, jederzeit seine Ruhe haben zu können, spielt eine eklatante Rolle und wird zu einem Bedürfnis. Da ist ein gewisser Alters-Egoismus mitverantwortlich.

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Warum besuchen gesunde und fitte Großeltern eher seltener ihre Enkel als umgekehrt?
Als junger Mensch handelt man oft spontan und ist auf der Suche nach Neuem und Aufregendem. Ältere Menschen sehen in vielen Tätigkeiten, in denen wir noch einen Reiz sehen, keinen Reiz mehr—ein Beispiel bei Dingen wie in eine fremde Stadt fahren und in einem fremden Bett schlafen. Die eigene Ruhe, die eigenen Tagesabläufe werden wichtiger. Das hat mit einem gewissen, oft unterbewussten Schutzmechanismus zu tun—immerhin spüren auch kerngesunde Senioren das Alter und begeben sich seltener in eventuell riskante und neue Situationen.

Wie ist deine die Erfahrung nach 20 Jahren Seniorenarbeit? Empfangen Seniorenheim-Bewohner oft Besuche? Was ist da so der Durchschnitt?
Eigentlich ja. Es schwankt natürlich—von zwei Mal im Jahr bis täglich ist alles vertreten. Es kommen auch eher Kinder als Enkel zu Besuch. Gefühlter Durchschnittswert ist bei einem Besuch pro Woche. Aber man sieht oft, dass sich die Kinder nicht wohlfühlen und schnell weggehen wollen. Sie wollen ihre Eltern nicht altern sehen und sie haben Schuldgefühle, dass das Elternteil ins Heim „abgeschoben" wurde. Auch wenn es deren eigene Entscheidung war und die Eltern eh gesund sind.

Interessant ist auch, dass die Kinder, die seltener zu Besuch kommen, proportional mehr Zeit mit dem Arzt und dem Pflegepersonal verbringen. Sie besprechen zehn Mal dasselbe Thema und beschweren sich oftmals, dass sich niemand gut um ihr Elternteil kümmert—sie kompensieren.

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Hast du Tipps, wie man das schlechte Gewissen los wird?
Nein, es gibt keinen allgemein gültigen Fahrplan. Das ist komplett individuell.

Also ist schlechtes Gewissen immer vorhanden?
Meiner Erfahrung nach schon—es sei denn, man holt das verwitwete oder alleinstehende Großelternteil zu sich. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass eine neue Wohnumgebung psychischer Stress für einen alten Menschen ist und auch für einen selbst Probleme bedeuten kann. Mehrgenerationenhäuser sind am Aussterben, waren aber eine Art des Zusammenlebens, die die Schuldgefühle nicht aufkommen haben lassen. Dafür gab es dann aber andere Probleme bei allen Parteien.

Wenn ein Vater seine Tochter schlägt und dann Demenz bekommt und ein Pflegefall wird—wie geht dann die Tochter am besten damit um? Hast du da Erfahrungen gemacht?
Die heutigen Senioren kommen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit—es ist oft Alkoholismus und Gewalt innerhalb der Familie vorhanden. Erst letztens hat eine Tochter mit mir gesprochen—ihr Vater und mein Patient hat sie in ihrer Jugend schrecklich behandelt.
Meiner Erfahrung nach kümmern sich die Kinder—meistens auch eher Töchter—dann trotzdem um ihr Elternteil. Sie gehen spazieren, kapseln ihre Erfahrungen von früher ab und sorgen sich. Die Söhne lassen sich in solchen Fällen eher weniger blicken. Meistens ist bis zum Eintritt ins Heim auch kein Kontakt zu der Familie vorhanden. Die Tochter in dem oben erwähnten Fall hat es auch für ihre psychologischen Prozesse gebraucht—das ist oft so.

Merkt man bei fitten Senioren einen Unterschied vor und nach einem Besuch der Familie?
Ja. Sie essen mehr, werden aktiver und sind gesprächiger. Man sieht, wie sie glücklicher werden und wie sie das Erlebnis mit Energie füllt. In Kontrast zu kinderlosen Bewohnern, die nie oder kaum Besuch bekommen, ist der Unterschied der psychischen und physischen Verfassung sehr auffällig.

Folgt Fredi auf Twitter: @schla_wienerin