Der Kuss ist der intimste Moment, den zwei Menschen öffentlich teilen können. Vier Augen, zwei Lippen, der Rest der Welt egal. Wenn diese Augen und Lippen zu zwei Frauen gehören, sind sie dem Rest der Welt aber oft nicht egal. Meistens kommt die Welt in Form eines Typens, der einem auf die Schulter tippt. "Echt heiß, was ihr da macht!"; "Braucht ihr Hübschen Verstärkung?"; "Seid ihr Lesben?"; "Seid ihr zusammen?".
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Natürlich sind längst nicht alle Männer Spanner oder gehen davon aus, dass zwei Frauen einen (ihren) Penis brauchen, um glücklich zu werden. Ein Blickmagnet sind zwei Frauen trotzdem immer. Manche Blicke sind vorwurfsvoll ("Ihr seid wohl geil auf Aufmerksamkeit"). Manche sind neugierig. Manche lassen einen fühlen wie ein kostenloser Porno. Ich verstehe, dass küssende Frauen außerhalb von queeren Bars und Clubs etwas Einhornhaftes haben und Menschen nunmal Außergewöhnliches anschauen. In den Blicken und Sprüchen schwingt aber auch die Unterstellung mit: Ihr macht das Ganze als Show.
Dass mir jemand seine Dienste anbietet, wenn ich in der Bar mit einem Kerl schmuste, oder mir zu meiner Sexualität gratuliert hat, ist mir noch nie passiert. Bei der Konstellation Frau/Mann geht man automatisch davon aus, dass sie sich genug sind, auch bei zwei Männern. (Dafür ist bei Schwulen die Gefahr größer, dass ihnen im falschen Stadtteil das verliebte Grinsen mit einer Faust vom Gesicht gewischt wird.) Der Gedanke ist absurd, dass ich um halb sechs die ganzen ineinander gekeilten Männer und Frauen im Club antippe und sie zu ihrem Beziehungsstatus oder ihrer sexuellen Orientierung interviewe. Oder ich zwei rummachenden Männern, die sich offensichtlich nur füreinander interessieren, anbiete: "Also wenn euch eine Vulva fehlt—gebt Bescheid!"
Das alles kann man schnell unter Mimimi verbuchen, unter Jammern auf hohem Niveau. "Ich solle mich doch freuen, dass mich niemand mehr anspuckt", sagte mal ein Mann, als meine damalige Freundin und ich das selbstlose Angebot seines "echt großen" Schwanzes eher unsanft ablehnten. Und überhaupt, sagte er: Wenn wir keine Aufmerksamkeit wollen, sollten wir zu Hause bleiben. Zwei Frauen seien nun einmal eine Sexfantasie und Männer, er miteingeschlossen, triebgesteuerte Idioten.
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Wäre es wirklich so viel verlangt, seine Zuneigung zu zügeln, zumindest an Orten mit erhöhtem Alkoholpegel und gesenkter Hemmschwelle? Die Sprüche kommen allerdings auch im Park und aus runtergekurbelten Autofenstern. Als ich einmal nach einem Abschiedskuss vor er U-Bahn wieder die Augen aufmachte, war da ein Kerl der rhythmisch seine Hand in der Jeans bewegte. Ich verstehe alle Frauen, die nicht öffentlich zärtlich sind, weil sie nicht ständig Deppen missionieren wollen, sondern auch mal in Ruhe ihre Liebe/Affäre/betrunkene schlechte Entscheidung genießen wollen.
Anderseits: Dem Idioten-Argument liegt ein tristes Bild von Männern als triebgesteuerte Neandertaler zugrunde, die nunmal nicht anders können. Und wenn die meisten Frauen, die auf Frauen stehen, ihre Zuneigung öffentlich zensieren, werden die anderen Einhörner bleiben. Phantasiewesen statt Normalität. Oder sogar ein Dorn im Auge.
In einer amerikanischen Studie aus dem Jahr 2014 wurden 1.000 Menschen unter anderem danach gefragt, wie OK sie es finden, dass Paare desselben Geschlechts öffentlich Zuneigung zeigen. Das Ergebnis: Heteros stimmten zwar zu, dass nicht-traditionelle Paare dieselben Rechte haben sollen (etwa Besuchsrecht im Krankenhaus). Händchenhalten, Wangenküssen und Rumknutschen zwischen Mann und Frau fanden sie aber viel akzeptierter, als wenn Paare desselben Geschlechts dasselbe machen. Wobei Heteromänner Zuneigung zwischen zwei Frauen viel weniger anstößig finden als zwischen zwei Schwulen.
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Paare, die aneinander kleben, als hätten sie einen gemeinsamen Stoffwechsel, sind nervig, egal welchen Geschlechts und welcher sexuellen Orientierung. Aber gleiche Rechte heißt eben mehr, als nun auch die Möglichkeit zu besitzen, sich gemeinsam krankenzuversichern. Es ist auch das Recht, nervig zu sein, ohne dabei fetischisiert zu werden.Ich verstehe, dass zwei Frauen faszinierend sind. Ich selbst würde ja auch am liebsten hinstarren. Bei weiblichen Porno-Schauerinnen war 2015 "Lesben" der meistgesuchte Begriff, bei männlichen lag er auf Platz sechs.
Warum Frauen sich für ihresgleichen interessieren, liegt auf der Hand: In Sexszenen zwischen zwei Frauen—wie unrealistisch und sexistisch sie in Mainstream-Pornos auch sein mögen—liegt der Fokus auf oralem Sex und der Klitoris: was viele Frauen eben anmacht und zum Orgasmus bringt. Dass Männer "Lesben-Pornos" geil finden, erklärt der Neurowissenschaftler Ogi Orgas damit, dass die sexuellen Reize doppelt sind. Nach dem Motto: Zwei nackte Frauen sind doppelt so gut wie eine. Dass Männer sich dabei für Frauen interessieren, die sich nicht für sie interessieren, ist für ihn nicht paradox. "Sexuelle Fantasien gehorchen eigenen Regeln", sagt er dem Online-Magazin The Atlantic. "Sie haben nichts mit Anstand, gesundem Menschenverstand oder sogar physischen Gesetzen des Universums zu tun."
Der Fetisch kommt natürlich auch daher, weil der Kuss zwischen Frauen oft als PR-Stunt missbraucht wurde und auch dem einen oder anderen C-Promi zur Steigerung des Marktwertes diente. Trotzdem: Sich in ein Frauengespann einzumischen, bedeutet, dass man das, was zwischen den beiden passiert, nicht für voll nimmt. Wenn ich einen guten Tag habe, lächle ich die Blicke weg und beantworte die Fragen. "Nein, danke, keine Verstärkung nötig." "Nein, nicht lesbisch, mit Sex halte ich es wie Morissey: I am attracted to humans. But, of course . . . not many." Manchmal erkläre ich, dass es unhöflich ist, Wildfremde nach ihrem Intimleben zu fragen. An schlechten Tagen bin ich einfach nur pampig. An guten und an schlechten Tagen versuche ich, trotzdem weiter zu machen.
Wie häufig Frauen Zärtlichkeiten verstecken, merkt man eigentlich erst an Orten, wo sie es nicht zu tun brauchen. Auf der Girlstown meets STRAIGHTBox-Party, auf der diese Fotos entstanden, wird so heftig geschmust, als müssten die Frauen all das nachholen, was sie sonst in der Öffentlichkeit unterlassen. Viele erzählten mir, wie schwierig es ist, sich im echten Leben nicht zu zensieren. Dass es oft einfacher ist, unsichtbar zu bleiben, aber sie nicht unsichtbar sein wollen. Sie küssten sich vor unserer Kamera als ein Zeichen dafür, dass ihre Liebe und Lust nicht nur auf dem Christopher Street Day Platz hat. Damit ihr Kuss irgendwann kein Real-Life-Porno mehr ist, keine Provokation. Sondern einfach nur ein Kuss. Vier Augen, zwei Lippen, der Rest der Welt egal.Folge Wlada auf Twitter.