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Drogen

Warum Krankenkassen dieser Patientin lieber Opioide bezahlen als Cannabis

"Als Cannabis-Patient wird man von manchen Leuten noch immer wie ein Junkie behandelt", sagt Sasa.
Foto: Privat

An einem Freitag im Jahr 2015 setzte Sasa Raber das Oxycodon ab. Was dann begann, sagt sie heute, seien drei der furchtbarsten Tage ihres Lebens gewesen. "Ich hatte das Gefühl, mich von der Welt zu lösen. Alles wurde schwammig, es kam mir aus allen Körperöffnungen. Dazu Kreislaufprobleme, Heulkrämpfe, Magenschmerzen, gleichzeitig Schweißausbrüche und Schüttelfrost." Manchmal habe sie nur kauernd in der Ecke gesessen. "Ich war froh, dass ich das überlebt habe." So etwas kannte sie bis dahin nur von Christiane F., sagt sie heute. Dabei hatte Sasa das Oxycodon nicht als Drogenersatz genommen, sondern als Medizin. Es hatte ihre chronischen Schmerzen in der Wirbelsäule beseitigt, aber wegen der Nebenwirkungen auch gleichzeitig das Leben wie sie es kannte. Auf Rat ihrer Berliner Ärztin setzte sie es schließlich – viel zu abrupt – ab.

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Inzwischen ist Sasa 31 und therapiert ihre Krankheiten mit Cannabis. Der absurd lange und umständliche Weg dahin zeigt, wie rückständig das deutsche Gesundheitssystem noch immer ist.

Vor drei Jahren erlitt Sasa einen schweren Bandscheibenvorfall an der Lendenwirbelsäule. Außerdem diagnostizierten die Ärzte eine beginnende Arthrose sowie Borreliose im Spätstadium. Mit anderen Worten: Sasa ist schwerkrank. Antibiotika halfen, die Borreliose einzudämmen. Ganz heilbar ist die Infektionskrankheit, die Gewebe und Organe angreifen kann, nicht mehr. Sasa wird ihr Leben lang damit kämpfen – und Schmerzen haben vom Bandscheibenvorfall. Im Krankenhaus verschrieben ihr die Ärzte Medikamente. Cannabis als Medizin war für sie da noch weit entfernt. Stattdessen pumpten Ärzte das starke Opioid Dipidolor in ihre Venen. Nach insgesamt fünf Wochen verließ sie das Krankenhaus. Mit Medikamentennebel im Kopf und Rezepten für mehr Schmerzmittel in der Hand. Auf einem der Zettel stand Oxycodon.

Oxycodon: Keine Schmerzen, aber fertig mit der Welt

So wie Heroin oder Fentanyl ist Oxycodon ein starkes Opioid. Da es stark abhängig macht, sollten Ärzte es eigentlich nur dann verschreiben, wenn sonst nichts mehr hilft. In den USA verschrieben Ärzte alleine 2015 so viele Opioide, dass sich jeder Einwohner drei Wochen am Stück, 24 Stunden lang damit abschießen hätte können. Bis zu 90 Menschen sterben dort jeden Tag an einer Opioid-Überdosis. Aber das Geschäft ist riesig und ein Ende der Opioid-Krise nicht in Sicht. Mit OxyContin, wie Oxycodon in den USA heißt, machte die Firma Purdue 2017 einen Jahresumsatz von 1,5 Milliarden Euro.

Auch Sasa hat die Wirkung von Oxycodon erfahren. "Ich hatte zwar keine Schmerzen mehr, aber war fertig mit der Welt", sagt sie. Ihr Kopf habe sich angefühlt wie Brei. Kreislaufprobleme, Müdigkeit. Sasas Welt zerfloss. "Sechs Monate Dauerrausch, aber nicht die angenehme Art", sagt sie. Ihren Job als Fraktionsgeschäftsführerin der Piraten Marzahn-Hellersdorf konnte sie nicht mehr machen, Leben im Stillstand. Aber Sasa sagt, sie habe nicht akzeptieren wollen, dass das so bleibe. Sie habe gesehen, was es bedeutet, medikamentenabhängig zu sein, bei ihrer Mutter, die ebenfalls schwer krank ist: "Ich wollte da unbedingt rauskommen." Obwohl sie das Oxycodon abgesetzt hatte, musste Sasa weiter Medikamente nehmen. Die wiederum griffen ihren Magen an. Also suchte sie nach Alternativen. Im Herbst 2016 entdeckte sie Cannabis für sich.

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"Das erste Jahr habe ich es illegal genommen", sagt Sasa. Das war vor dem März 2017, dem Monat, in dem medizinisches Cannabis in Deutschland legal wurde. Sie habe rechtliche Konsequenzen in Kauf genommen, denn ihre Eigentherapie habe gewirkt. "Ich kann so klare Gedanken fassen, meinen Job machen, einfach wieder leben", sagt sie. Cannabis lößte die Borreliose-Krämpfe, entspanne ihre Muskeln und lindere die Schmerzen. Auch ihr Arzt habe das bestätigt – und ihr sofort eine Monatsdosis von 30 Gramm verschrieben, als das Gesetz für medizinisches Cannabis in Kraft trat.

Die neue Regelung wurde dafür kritisiert, dass sie an manchen Stellen unklar formuliert ist und so viel Spielraum für Interpretation liefert. Sicher ist aber, dass die Ärzte und nicht die Kassen entscheiden sollen, ob ein Patient Cannabis als Medizin braucht. Trotzdem übernehmen die größten deutschen Krankenkassen bislang nur etwa die Hälfte aller Kosten für medizinisches Gras.

Cannabis ist in der Apotheke etwa dreimal so teuer wie auf der Straße. Mindestens 20 Euro kostet das Gramm. Weil Sasa wegen ihrer Krankheiten nur halbtags arbeiten darf und deswegen wenig verdient, hätte sie weiter illegal einkaufen müssen. Also beantragte auch sie bei ihrer Krankenkasse, der Barmer, die Kostenübernahme. Ihr Orthopäde füllte Anträge aus und schickte Studien über die medizinische Wirkung von Cannabis, ehrenamtlich in seiner Freizeit. Fünf Wochen lang tat sich nichts. Als Sasa schließlich bei der Barmer anrief, sagte man ihr, das Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherungen (MDK) sei eingegangen – und am gleichen Tag direkt abgelehnt worden. Dabei hatte der MDK bestätigt, dass Sasa schwer krank ist, eine Grundvoraussetzung für die Kostenübernahme.

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"Das Hauptargument der Krankenkassen, warum sie zum Beispiel Oxycodon zahlen, aber medizinisches Cannabis nicht, ist, dass sie wissenschaftliche Studien aus Deutschland wollen, die die medizinische Wirkung belegen", sagt Sasa. Eine unmöglich zu erfüllende Forderung. Zu Cannabis gibt es auf der ganzen Welt klinische Studien – aus Deutschland aber nicht. Doch das Gutachten wurde noch absurder. "Sie haben argumentiert, dass man unter Cannabiseinfluss zunehmen würde und ich sowieso schon übergewichtig sei", sagt Sasa. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie gerade 50 Kilo abgenommen, und das während sie Cannabis konsumierte. Doch auch die schriftliche Bestätigung ihres Arztes half nichts. Stattdessen riet man ihr in dem Schreiben, es doch mal mit leichten bis starken Opiaten zu versuchen. Die Mittel, die ihren Magen kaputt gemacht hatten.

Mit Cannabis im SPD-Büro

Sasa Raber konnte es nicht fassen und legte Widerspruch ein. Als die Kasse nicht reagierte, nahm sie sich einen Anwalt. Ende 2017 schrieb Sasa ans Sozialgericht, mit einem Antrag auf einstweilige Anordnung. Im März bekam die Barmer dann wieder einen Brief, diesmal vom Gericht. Die Juristen begründeten ausführlich, warum die Krankenkasse die Kosten vorerst übernehmen müsse, bis das Verfahren abgeschlossen sei. Für zunächst höchstens ein Jahr zahlt die Barmer jetzt Sasas medizinisches Gras. Ihre Klage setzt Sasa trotzdem fort. Es sei wichtig, ein rechtskräftiges Urteil zu haben, sagt sie, auch wenn nicht sicher sei, ob sie damit überhaupt einen Präzedenzfall für andere Cannabis-Patienten erstreitet.

"Als Cannabis-Patient wird man von manchen Leuten noch immer wie ein Junkie behandelt", sagt Sasa, die inzwischen als Geschäftsführerin der SPD-Fraktion Neukölln arbeitet. Dabei ist es nicht so, dass sie den ganzen Tag stoned im Büro sitzt und darüber nachdenkt, ob Prinzenrolle und Hershey’s nicht mal was zusammen machen sollten. "Cannabis wirkt bei mir nicht so wie bei gesunden Menschen. Die Wirkstoffe docken bei mir an den Schmerzzentren an", sagt Sasa. Einen Rausch habe sie praktisch nie, obwohl sie von früheren Trips in die Niederlande wisse, wie sich einer anfühlt, sagt sie. Heute richte sich ihr Gras-Konsum aber nur noch danach, wie stark ihre Schmerzen gerade sind.

"Ich will nur mein Leben bestreiten und dafür die passende Medizin", sagt Sasa. Doch stattdessen bekomme sie Medikamente wie Oxycodon, die abhängig machen: "Die Pharmaindustrie verharmlost dieses Medikament in Deutschland massiv", sagt sie. Ihr wäre vieles erspart geblieben, sagt sie, wenn sie stattdessen einfach nur einen Joint geraucht hätte.

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