Zwei Zimmer einer funktionalen WG
Alles Fotos: Maximilian Salzer

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"Die erste Frage ist immer: 'Wie machst du das mit dem Masturbieren?'" – Zu Besuch in einer funktionalen WG

In einer Wohnung in Wien teilen sich die Bewohner ein Schlafzimmer, ein Sexzimmer und den Inhalt ihrer Kleiderschränke.

Wäsche aufhängen! Vollkommen zu Recht verhasst unter allen, die gern in sauberen Klamotten auf die Straße gehen. Es kostet Zeit, es nervt und jedes Mal, wenn man am Wäscheständer drei Tage lang mit dem "Ich müsste jetzt mal … "-Blick vorbei gelaufen ist, wartet die nächste Ladung in der Waschmaschine. In einer WG im Wiener Bezirk Ottakring fühlt sich Wäsche aufhängen dagegen fast an wie eine Party. Drei junge Frauen tanzen lachend durch den Raum, es läuft der Song "Wäsche" der Band Kofelgschroa und alle singen mit. "Die Wäsche trocknet an der Sonne. Die Wäsche trocknet auch am Wind. Die Wäsche trocknet auch am Licht. Wie schön ist das eigentlich?" Einen ganzen Song lang lassen sie sich Zeit, bis sie fertig sind. Und das ist nicht das Einzige, was hier anders läuft als in anderen WGs.

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Anna* ist eine von den Wäsche-Tänzerinnen. Gemeinsam mit ihrem Bruder Daniel* und drei Mitbewohnern hat sie im Erdgeschoss eines Wiener Wohnhauses eine funktionale WG gestartet. Sie teilen die Zimmer nicht nach Personen, sondern nach Funktionen. Hier schläft und wohnt nicht jede und jeder im eigenen Zimmer wie in einer konventionellen WG. Stattdessen teilen sich die Mitbewohnerinnen und Mitbewohner ein kleines Schlafzimmer, in dem die Betten und Kleiderschränke so arrangiert sind, dass kein Zentimeter verschwendet ist und man sich trotzdem noch bewegen kann, zum Teil mit Hochbetten. Theoretisch haben hier alle noch ihren eigenen Schrank. Praktisch darf man sich aber an den Sachen der Anderen genauso bedienen wie am Inhalt des Kühlschranks und am Duschgel im Bad. Es gibt ein Wohnzimmer, ein Büro und ein Sexzimmer. Nur eine Person in der WG hat sich gegen das funktionale Wohnen entschieden und ist im Besitz eines eigenen Zimmers.

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Was für viele klingt wie der real gewordene Alptraum eines Lebens ohne Privatsphäre, ist für Anna und Daniel seit anderthalb Jahren ein gut funktionierender Alltag. So gut, dass sie auch eine WG zwei Stockwerke darüber angesteckt haben. Im April haben Marie*, Laura* und Paul* ebenfalls auf funktional umgestellt. "Unser Ziel ist, das ganze Haus zu übernehmen", sagt Anna und lacht. Die beiden Wohnungen haben sie schon mal zu einer Einheit verschmolzen. Wer unten oder oben wohnt, ist für Außenstehende kaum noch zu beurteilen. Aus jeder Tür kommen plötzlich zwei neue Menschen, die man noch nicht gesehen hat. Eigentlich ist das aber auch nicht wichtig. Die Grenzen dafür sind fließend – wie für das Meiste in den WGs. Warum zur Hölle lebt man so, obwohl man es nicht muss?

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Alle haben das Gefühl, etwas dazu gewonnen zu haben

Das dachte sich Anna auch, bevor sie funktional wohnte. "Ich fand das vorher wirklich crazy", sagt sie. "So eine Sache, die eben nur Hippies und Kultur- und Sozialanthropologie-Studierende machen." Doch nachdem sie auf einer längeren Reise jede Nacht im Hostel verbracht hatte und es dadurch gewöhnt war, kein eigenes Zimmer zu haben, entstand die Idee, den Platz der riesigen Wohnung im Erdgeschoss nicht länger zu verschwenden, nur weil man sich eine WG nicht anders vorstellen kann. "Früher hatten wir je ein einzelnes Zimmer, weil man die anderen WG-Zimmer ja selbst nicht verwendet. Jetzt hat jeder ein Büro, ein Wohnzimmer und ein Ruhezimmer", sagt Anna.


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Auf diese Art des Zusammenlebens mussten sie sich erst einlassen. Doch inzwischen hat sich vieles für die Bewohner und Bewohnerinnen verändert – vor allem ihre Einstellung zu Besitz. "Es macht überhaupt keinen Sinn, alle Sachen in dreifacher Ausführung zu haben", sagt Marie. "Auch, wenn ich mich am Anfang, damit schwer getan habe: Es ist nicht praktikabel, hier nicht zu teilen." Wirklich selbst gehören tun einem hier nur noch persönliche Gegenstände oder Laptops und Handys. Für sie ist das inzwischen Alltag und nichts Besonderes mehr. Für ihre Besucher umso mehr. "Die erste Frage ist immer: 'Wie machst du das mit dem Masturbieren?'", erzählt Anna. "Und die, die sich das nicht zu fragen trauen, wollen wissen, wie wir das handhaben, wenn wir jemandem mit nach Hause nehmen." In der unteren WG gibt es dafür das Sexzimmer mit der blauen Tür – und masturbieren kann man schließlich auch dann, wenn die anderen mal nicht zu Hause sind.

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Sexzimmer

So hippiemäßig das auch klingt: Als Kommune begreifen sie sich hier trotzdem nicht. "Eine Kommune ist mit Dingen belastet, die wir nicht sind. Wir haben keinen Sex untereinander und wir teilen zwar vieles, aber nicht alles. Wobei, ein Klischee haben wir schon erfüllt, letztens hatten wir Läuse", sagt Laura und grinst.

Steigende Mieten und Wohnungsknappheit

Dass sie sich für dieses Konzept entschieden haben, hat auch mit Geld zu tun. Keine Überraschung, wenn man sich den immer knapper und teurer werdenden Wohnraum in Wien ansieht. Dabei gehört Wien europaweit noch zu den Städten mit eher günstigem Wohnraum, weil der soziale Wohnbau die Situation noch vergleichsweise entspannt. Trotzdem sind die Mieten zwischen 2008 und 2016 laut Arbeiterkammer um 43 Prozent gestiegen. Ein unverhältnismäßig hoher Wert im Vergleich zur Lohnentwicklung und allgemeinen Preisanstieg. "Geld ist sicher nicht der Hauptgrund, warum wir das hier machen", sagt Laura. "Aber natürlich spielt es eine Rolle. Würde ich mehr Miete zahlen, könnte ich mir meine Ausbildung nicht leisten."

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Zahlen dazu, wie viele Menschen in solchen WGs leben, gibt es nicht. Es wäre auch schwierig, welche zu erheben, erklärt Daniel. "Wer bestimmt denn, ab wann eine Wohnung funktional ist? Viele leben so, ohne es funktional zu nennen. Pärchen, Geflüchtete, Menschen, bei denen das Geld nicht reicht. Interessieren tut das die Leute aber nur, wenn es elitäre Studentenkinder machen."

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Es sei vor allem die jüngere Generation, die auf funktionales Wohnen komisch reagiere, sagt Daniel. Für ältere Generationen ist das Teilen von Wohnraum viel normaler. Auch die Tatsache, ein eigenes Zimmer zu haben, ist ein eher neues Phänomen, wie zahlreiche Statistiken belegen. 1961 hatte man in Wien durchschnittlich 22 Quadratmeter pro Kopf zur Verfügung, 2001 waren es 38. Der Wert bleibt seither annähernd konstant. Das kann sich aber bald wieder ändern. Prognosen der Statistik Austria zufolge wird Wien ab 2026 wieder zwei Millionen Einwohner haben. Für die Stadt wird es schwierig, dem Zuzug hinterher zu bauen. Der Trend geht vor allem in Richtung kleinerer Single-Wohnungen, von denen es noch nicht genügend gibt. Dass sich Menschen Wohnungen teilen, könnte dann wieder normaler werden. Und funktionale WGs zeigen, dass daraus kein schlechteres Leben resultieren muss.

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"Uns geht die zunehmende Individualisierung auf die Nerven", sagt Laura. Alle haben bisher schon in konventionellen WGs gewohnt und sind einstimmig der Meinung, dass funktionale WGs ein viel familiäreres und gemeinschaftlicheres Gefühl entstehen lassen – und vor allem dafür sorgen, die Kommunikation unter den Mitbewohnern zu verbessern. "Wir haben im Prinzip dieselben Probleme wie andere WGs auch", sagt Daniel. "Jemand hat nicht geputzt oder sein Zeug nicht weggeräumt. Im Unterschied zu anderen thematisieren wir so etwas aber gleich." Für die Bewohnerinnen und Bewohner ist die funktionale WG oft das erste richtige Zuhause in Wien geworden, in dem sie sich wirklich wohl fühlen. "Eigentlich sind ja wir die normalen", sagt Daniel am Ende. "Vielleicht wäre es besser über diese komischen anderen Leute Artikel zu schreiben. Die, die sich isoliert in ihr eigenes Zimmer zurückziehen und mit niemandem reden."

*Die Namen wurden auf Wunsch der Protagonisten geändert.

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