Pornosucht

Pornosucht ist eine Erfindung von Medien, Kirche und Selbsthilfe-Industrie

Lass dir nicht einreden, dass du krank bist.
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Ein Taschentuch, wahrscheinlich voll || Symbolfoto: imago images | Steinach

Ich sitze in einer winzigen Boeing zwischen Washington und Toronto und nutze, wie es sich für eine anständige Akademikerin gehört, die Gelegenheit für panische Last-Minute-Änderungen an meinem Vortrag.

Mein freundlich interessierter Sitznachbar weiß offenbar im Nu, dass ich unterwegs zu einer Konferenz bin. Worüber ich denn sprechen werde? "Über die Darstellung von Pornosucht …", setze ich an, und seine Mimik kippt schlagartig. "Terrible!" bricht es aus ihm heraus, bevor ich meinen Satz beenden kann. Eine furchtbare Krankheit! Die Ehe seines Kollegen sei daran zerbrochen. Nach acht Jahren! Demonstrativ betroffenes Kopfschütteln. Auch er habe Angst, gesteht er mir, wohl unbewusst an seinem Ehering drehend. In der verbleibenden Flugzeit schaffe ich es nicht, ihm seine Sorgen zu nehmen. Für mich bestätigt diese willkürliche Mikrobegegnung: Pornosucht ist als Krankheitsbild in amerikanischen Köpfen angekommen.

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US-Medien überschlagen sich mit Überschriften wie "Porno-Epidemie überrollt das Land" oder "Pornos sind Amerikas neue Gesundheitskrise". In Filmen wie Shame oder Don Jon können fiktionale Pornosüchtige auf der großen Leinwand bemitleidet, in Serien wie South Park oder Californication über sie gelacht werden. Die Allgegenwärtigkeit des Themas hat auch reale Folgen: Mehr als zehn US-Staaten haben mittlerweile Pornografie zur öffentlichen Gesundheitsgefährdung deklariert.

Pornos gucken macht Spaß und Pornos sind im Internet jederzeit und überall umsonst verfügbar, ergo: ungesunder Exzess. Klingt einleuchtend. Ich bin trotzdem skeptisch.

"Die prüden Amis wieder!" höre ich häufig, wenn ich meinen Mitdeutschen genau das erzähle. Doch auch hierzulande hält dieses Schlagwort Einzug. Bei Google erzielt es inzwischen gut eine Million Treffer, taucht vermehrt in großen Medien auf. Im März berichtet das ZDF: "Pornographie ist zu einer neuen Droge geworden, die Zahl der Abhängigen steigt." Die Rhetorik, die Annahmen, der Alarmismus – ähnlich wie in den USA.

Die Logik ist verlockend simpel: Pornos gucken macht Spaß und Pornos sind im Internet jederzeit und überall umsonst verfügbar, ergo: ungesunder Exzess. Klingt einleuchtend. Ich bin trotzdem skeptisch. Zu erklären, warum, ist kompliziert. Selbst die 250 Seiten meiner vermutlich niemals fertig werdenden Doktorarbeit reichen dazu kaum. Ich will dennoch versuchen, es herunterzubrechen.

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Das Thema sei "kein Spielplatz für dahergelaufene, sich auf Steuerzahlerkosten gesundstoßende Gedichtinterpretierer", die mit ihrer "Fake-Wissenschaft" Ärzte in Frage stellen wollen, teilt mir ein charmanter Facebook-Nutzer ungefragt mit. Liebe Grüße an dieser Stelle!


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Er hat natürlich Recht: Ich bin weder Neurobiologin noch Verhaltenspsychologin, habe also keinerlei Expertise, zu beurteilen, ob Pornokonsum tatsächlich körperlich abhängig macht. Aber erstens wird das auch unter jenen, die diese Expertise haben, noch diskutiert. Auch wenn sich die WHO inzwischen entschieden hat, "zwanghaftes Sexualverhalten", darunter offenbar auch "übermäßiger Pornokonsum", in ab 2022 in ihren Diagnosen-Katalog aufzunehmen. Und zweitens geht es mir um etwas ganz anderes.

Als Kulturwissenschaftlerin, äh, Gedichtinterpretiererin, verstehe ich Pornosucht in erster Linie als Narrativ: als Erzählung, die von bestimmten Akteuren gesponnen und über bestimmte Kanäle verbreitet wird, sich dabei verschiedener Erzählstrategien und Motive bedient. All das zu analysieren, liegt durchaus in meinem Kompetenzbereich. Ich schwör! Und ich halte das Pornosucht-Narrativ aus vielen Gründen für fragwürdig, problematisch und sogar gefährlich.

Medizinische Diagnosen sind keine puren naturwissenschaftliche Wahrheiten. Die Frage "Wer oder was ist krank?" beinhaltet immer auch die Frage "Wer oder was ist normal?". Sie ist somit von Moralvorstellungen beeinflusst. Wer mag, kann das bei Foucault nochmal in schön nachlesen. Das vielleicht beste Beispiel ist Homosexualität: Bis 1990 (!!!) stand sie auf der WHO-Liste der psychischen Störungen. Ähnlich der Fall der weiblichen Hysterie oder Nymphomanie. Bestimmte sexuelle Identitäten oder Praktiken zu pathologisieren, hat bei uns quasi Tradition. Pornosucht schreibt diese Tradition fort.

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Die sexuelle Praxis, auf die sie primär abzielt, ist Masturbation. Schon mal vom "No Nut November" gehört? Dahinter verbirgt sich kein Nüsse-Fasten, nein. Sondern die Aufforderung, sich einen Monat keinen runterzuholen! Auch unter dem Hashtag #NoFapChallenge werden Männer zum Verzicht aufgerufen. Knapp 400.000 Mitglieder zählt die Community der sogenannten Fapstronauten. Ihre Posts lesen sich wie eine gruselige Neuauflage der alten Legende, dass Selbstbefriedigung blind mache. Willkommen zurück im 18. Jahrhundert! Auf ihrer Website heißt es: "Wir sind hier, um dir zu helfen, mit Pornos aufzuhören."

Dieser Abstinenz-Ansatz kommt nicht von ungefähr. Die Wiege der Pornosucht liegt in der Selbsthilfe-Kultur der Anonymen Alkoholiker. 1976 gründete ein Mitglied in den USA die Anonymen Sexsüchtigen. Kein Witz. Mit den zwölf Schritten, Gruppentreffen, Sponsorensystem, Enthaltsamkeitschips und allem, was dazu gehört. 1984 kamen sie nach Deutschland und bieten heute in jeder größeren Stadt ihre Dienste an. Schritt eins: "Wir geben zu, dass wir der Lüsternheit gegenüber machtlos sind."

"Ich bin süchtig, was soll ich tun?" sagt ein Mann zu seiner Frau, seinem Chef, sich selbst. Es ist spannend, wie sie sich zum Opfer eines bösen Mediums stilisieren.

Pornosucht und ihre Heilung wurde also von medizinfernen Laien konzipiert. Aus der Selbstdiagnose heraus. Und das alles im christlichen Kontext. Nicht nur dient die Kirche oft als physischer Raum, sondern auch als ideologischer Rahmen. Gott ist elementarer Bestandteil der zwölf Schritte – und auch vom Pornosucht-Narrativ als Ganzen.

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"Jesus hat mich vor Pornos gerettet" steht in großen Lettern auf dem T-Shirt eines Geheilten auf YouTube. Dem würde auch der Deutsche Jeremy Hammond zustimmen, den wir in der ARD-Mediathek treffen. Er ist trockener Pornoholiker und berichtet von seinem Weg aus der Sucht – hin zu Gott. Auf seiner Seite free!ndeed möchte er Männer aus der Abhängigkeit befreien, Ehen wiederherstellen und andere "Erweckungsträger" züchten. Kein Einzelfall.

Selbst wenn es weniger explizit um Glauben geht, kommt kaum ein Bericht ohne das leise oder lautere Pochen auf "christliche Werte" aus. Monogamie, Ehe, selbstverständlich heterosexuell und am liebsten weiß. Kein Wunder, dass konservative bis rechte Gruppen mit besonderer Freude auf den Pornosucht-Zug aufspringen.

"Ich führte ein Doppelleben" heißt es in den Berichten Betroffener ständig. "Irgendwann hat meine Frau mich erwischt." Hier ist meines Erachtens nicht das Pornogucken das Problem, sondern das Verheimlichen. Das liegt oft auch daran, dass Männer sich für ihre sexuellen Wünsche schämen und diese lieber alleine online ausleben, statt anzusprechen. Natürlich fühlt sich das dann auf beiden Seiten wie Fremdgehen an und ist schuldbesetzt oder verletzend. Das müsste nicht so sein! Kommunikation wäre ein simples Heilmittel.

Ich rede übrigens die ganze Zeit nur von Männern, weil die Pornosuchtunterhaltung sich nahezu ausschließlich um sie dreht. Frauen tauchen eigentlich nur als leidende Randfiguren, erschütterte Ehefrauen, nie als Pornokonsumentinnen auf. Auch das sollte uns stutzig machen.

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Ich weiß noch, wie ich das allererste Mal von dieser vermeintlichen Krankheit gehört habe: "Porno-Patrick packt aus" titelte der Stern 2013, als Patrick Nuo im Dschungelcamp war und im Fernsehen seine Sucht gestand. Er ist nicht nur ein gutes Beispiel dafür, welche Rolle Beichten von Celebritys (zugegeben, ein dehnbarer Begriff) in der Verbreitung spielen, sondern auch für die Tendenz, sich selbst zum Kranken zu ernennen. Als Reaktion auf meinen letzten Text erreicht mich ebenfalls ein Leserbrief: "Ich war jahrelang pornosüchtig!"

Warum tun sich das reihenweise heterosexuelle, weiße Männer an? Gerade sie, die in Diskursmacht baden, könnten die öffentliche Unterhaltung in jede andere Richtung lenken. Mir scheint: es dient als Entschuldigung! "Ich bin süchtig, was soll ich tun?" sagt er zu seiner Frau, seinem Chef, sich selbst. Es ist spannend, wie sie sich zum Opfer eines bösen Mediums stilisieren.

Ich habe den Eindruck, dass viele Männer überfordert von ihren eigenen Sehlüsten sind. Erschrocken, wovon sie erregt werden. Dass auffällig viele Gläubige, sogar Geistliche, sich als pornosüchtig bekennen, bestätigt das in meinen Augen. Es passt nicht in ihr Selbstbild. Dann ist man lieber süchtig als ein schlechter Mensch. Alternativ könnte ihnen auch einfach mal jemand sagen, dass sie mit ihren Sehnsüchten nicht allein und diese völlig normal sind.

Stattdessen wird ihnen Abstinenz verschrieben, Therapien, gerne auch Antidepressiva. Von "Diesease Mongering" zu sprechen, scheint mir nicht übertrieben. Die pornoblockierende Software Covenant Eyes macht jährlich Millionen Dollar Umsatz, Pornoentzugskliniken und Online-Workshops sind ausgebucht, Selbsthilfebücher boomen – viele profitieren von der gerade heiß laufenden Pornosucht-Heilungs-Maschinerie. Natürlich besteht dann ein Interesse, möglichst viele Menschen zu überzeugen, betroffen zu sein. Genau das versuchen wohl die mich regelmäßig erreichenden Spammails, die suggestiv fragen: "Haben Sie ein Problem mit Pornos?" Nö.

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Bedenklich finde ich auch die auffällige Nähe zum derzeit immer lauter werdenden Klagelied der Krise der Männlichkeit. Vor lauter Feminismus haben wir die Männer vergessen! Jetzt müssen wir sie vor Pornos retten, sonst verschwenden sie alle ihre kostbare Zeit und Potenz ans Masturbieren! Mit Erektionsstörung als ultimative männliche Angst wird besonders gerne als angebliches Symptom gearbeitet.

Die Stunden, die Menschen mit Netflix, Katzenvideos oder ASMR-Videos verbringen, zählt niemand. Warum untersuchen wir das nicht?

Die gesamte Debatte, so pseudo-medizinisch sie daherkommt, wird vor allem emotional geführt. "Aber diese Bilder vom Gehirn!" wird gerne angebracht. Ja, die kenne ich auch. Pornos beeinflussen unser Belohnungszentrum. Genauso wie Shopping, Sport oder Spaghettieis. Das wollte trotzdem noch niemand verbieten! Die Stunden, die Menschen mit Netflix, Katzenvideos oder ASMR-Videos verbringen, zählt niemand. Warum untersuchen wir das nicht? Ganz einfach: Weil Pornos immer als Sonderfall behandelt werden.

"Sie wollen also sagen, Pornosucht gibt es gar nicht?" fragt mich kürzlich ein Journalist. Ich will nicht leugnen, dass er existiert, dieser Mann, der sieben Stunden am Tag Pornos schaut und alles andere in seinem Leben vernachlässigt. Ich glaube nur nicht, dass es ihn so oft gibt, wie Clickbait-orientierte Medien es aussehen lassen. Und sehe außerdem tieferliegende Probleme als Wurzel. Depressionen, soziale Ängste. Nicht ausgelöst von Pornos, sondern ein guter Nährboden für deren ungesunden Konsum. Diese Extremfälle zu instrumentalisieren, um eine Anti-Porno-Agenda zu pushen, finde ich falsch. Wer täglich zu Pornos masturbiert, ist nicht automatisch krank. Ganz im Gegenteil.

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Ich glaube, Pornosucht ist als kulturelle Erzählung so ein Verkaufsschlager, weil sie die Angst vor Sex und die Angst vor Medien vereint. Beide sind historisch gewachsen und zugleich im Moment besonders akut. Eine sich wandelnde soziosexuelle Landschaft und die gleichzeitig fortschreitende Digitalisierung verunsichern die Menschen. Je diverser und somit komplexer die Welt wird, desto empfänglicher sind wir für einfache Antworten und Sündenböcke. Das beweist die derzeitige Populismuswelle. Meiner Meinung nach müsste man dem Pornosucht-Narrativ mit offenem Dialog und Enttabuisierung entgegenwirken, statt zusätzlich Panik zu machen.

Aber mich fragt ja keiner. Ich darf halt nur Gedichte interpretieren.

Update vom 1. Juli 2019, 17:55 Uhr: In einer früheren Version des Textes fehlte der Hinweis, dass die WHO "zwanghaftes Sexualverhalten", und damit auch übermäßigen Pornokonsum, inzwischen in ihren Diagnosen-Katalog aufgenommen hat. Wir haben das ergänzt.

Madita Oeming ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Paderborn.

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