'Hema Hema' – Ein Drehbuchauszug mit Blick ins Jenseits

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DIE LITERATURAUSGABE 2017

'Hema Hema' – Ein Drehbuchauszug mit Blick ins Jenseits

Maskierte Dämonen, Göttinnen und der Tod selbst erwarten dich in dieser nicht verwendeten Szene aus dem bhutanesischen Indie-Filmdrama.

Fotos: Pawo Choyning Dorji

Aus der Literaturausgabe 2017.

AUSS. WALD – NACHT

Der Wald ist dunkel. Es gibt ein Lagerfeuer. Auf einer einfachen Bühne wird ein Theaterstück gespielt, mehrere Hundert Maskierte bilden das Publikum. Zwei Feuer grenzen die Bühnenseiten ab. In einem Halbkreis stehen fünf TÄNZERINNEN MIT WEISSEN GÖTTINNENMASKEN, ihre Masken sind identisch. Ihr Tanz folgt dem Rhythmus eines Glockenklangs. Einige Musiker spielen traditionelle Instrumente: Bangka, Ting-Ting, Posang, Dung, Dran-nye. Sie tragen ebenfalls alle Masken. Auf einem weißen Bett in der Mitte liegt ein Schauspieler, der einen Toten spielt. Seiner Maske fehlen Mund, Nase und Augen. Sie ist gesichtslos. Vor dem Bett stehen Schauspieler in MENSCHENMASKEN, die Angehörige des Toten darstellen. Sie tun so, als würden sie weinen. Agay steht dem Theaterstück vor.

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Durch das Stück führt DIE BARDIN, eine alte Dame mit einer hypnotischen Stimme. Die Hälfte ihres Gesichts ist hinter einer Maske versteckt.

BARDIN

Oh, höre!
Der Tod, den du am meisten fürchtest, ist hier.

Die FAMILIE weint und klagt mit mehr Inbrunst.

BARDIN

Fürchte nicht den Tod,
sondern fürchte die Geburt.

Musik und Tanz gehen weiter.

BARDIN

Du bist im Bardo.
Du befindest dich an der Schwelle zwischen Tod und Geburt. Du bist allein hier. Wenn du mich hörst, dann tust du es durch deinen Geist.

FÜNF MASKEN erscheinen, die Augen, Ohren, Nase, Zunge und Hand repräsentieren. Sie bewegen sich äußerst langsam, wie japanische Butoh-Tänzer, und verschwinden wieder.

BARDIN

Deine Augen, Ohren, Zunge, Nase und dein Körper haben dich verlassen.
Obgleich du tot bist, wird das Ohr deines Geistes mich hören, wenn ich zu dir spreche.

Bei jeder der Masken gibt es Ausrufe aus dem maskierten Publikum, viele schnappen hörbar nach Luft.

BARDIN

Du wirst auch hören, wie deine Angehörigen weinen.
Lass sie los.
Sie wissen nicht, wie sie dich loslassen sollen.

Das Publikum macht gemeinsam ein Geräusch.

BARDIN

Wie lange du hier verweilen wirst, weiß niemand.

AUSS. WALD – NACHT

Die Bühne sieht anders aus. In der Mitte der Bühne steht der riesige HERR DES TODES, mehr als 2,10 Meter groß und mit einer ZORNIGEN ROTEN MASKE. Darin befindet sich kein Mensch; es ist ein Bildnis mit enormen Augen und ebenso großem Mund. Vor ihm kniet der Tote.

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In seiner Rechten hat der Herr des Todes ein langes Messer, in seiner Linken einen großen runden Spiegel. Seine Arme und Beine sind aus Kleidung, die mit Stroh gestopft ist.

BARDIN

In der Gegenwart des Herrn des Todes, im Gericht der Unterwelt, wird über dich gerichtet.

DRE NAKCHUNG, in einer sehr zornigen schwarzen Maske und schwarzer Kleidung, mit Pferdeschellen an den Fußknöcheln, springt dramatisch auf die Bühne. Er tanzt um den Toten und sieht ihn dabei voll Verachtung an. Er blickt zur Seite. Plötzlich kommt sein Gefolge aus TÄNZERN MIT ZORNIGEN MASKEN auf die Bühne; sie ähneln ihm, sind aber kleiner und tragen ebenfalls Schellen an den Füßen.

Sie tragen Waffen: Netze, Speere, Macheten. Wildes Pfeifen und Rufen ertönt.

BARDIN

Heute wird über dich gerichtet.
Hast du jemandem das Leben genommen? Hast du genommen, was nicht gegeben war? Hast du Körper oder Geist geschändet?

Eine Person in einer SCHLANGENMASKE tritt ein. Sie tanzt zu dem Toten und lässt einen Schauer aus Hunderten Würfeln auf den knienden Mann fallen. Sie landen allesamt auf der Vier. Alle zornig maskierten Tänzer krümmen sich vor Lachen. Der kniende Tote tut so, als würde er weinen, und schlägt sich an die Brust.

BARDIN

Oh, du! Hast du deine Mutter verführt? Deine Tochter gekaut und verschluckt? Deinen Vater vergewaltigt?
Dann tritt eine Person in einer SCHWEINEMASKE mit einem Spiegel auf. Das Schwein tänzelt umher und sieht in den Spiegel, zum Spiegelbild des Toten.

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BARDIN

Ja, du verbirgst etwas. Es ist deutlich zu erkennen. Du verbirgst etwas. Gestehe.

Das Schwein poliert den Spiegel und blickt hinein.

BARDIN

Ja, du hast eine ganze Familie auf Erden leiden lassen. Ich kann es sehen.
Was hast du getan?
Gestehe besser, bevor wir es herausfinden, sonst wirst du auch als Lügner verurteilt und dich treffen noch schlimmere Folgen.

Der Tote benimmt sich reuig. Er weint, schlägt sich an die Brust und wälzt sich auf dem Boden.

Dre Nakchungs Gefolge greift den Toten an. Sie versuchen, ihn mit Netz und Seil zu fesseln und mit dem Speer zu durchbohren. Sie versuchen, die Seele des Toten aus ihm herauszuzerren.

BARDIN

„Halt!", sagt der Engel.

Eine durchdringende Tingsha-Zimbel erklingt, als LHAKARPO, eine schöne und milde Göttin in einem weißen Gewand, mit Fingerzimbeln in der Hand vor den Toten tritt. Ihr folgen anmutige WEISSGEKLEIDETE GÖTTINNEN. Als sie auftreten, laufen die Figuren mit Tiermasken in alle Richtungen davon. Dabei machen sie groteske Bewegungen mit ausgestreckten Gliedmaßen und fallen nach und nach zu Boden. Manche liegen auf dem Bauch, andere auf dem Rücken; alle wirken tot.

BARDIN

Halt! Es muss eine Sache geben, die er richtig gemacht hat. Wir werden seine Taten wiegen.

AFFENMASKE tritt mit einer Waage auf. Er legt schwarze Steine und weiße Steine in die Schalen. Er steht über dem Toten und wiegt dessen Taten. Die schwarzen Steine beginnen, die Waage zu kippen.

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Ermutigt von dem anscheinenden Überwiegen der bösen Taten und bereits siegessicher kichern die Tierdämonen aufgeregt und stehen langsam auf.

Lhakarpo spielt ihre Fingerzimbeln, tanzt mit ihrem Gefolge um das Schicksal des Toten. Die Dämonen tanzen gierig, um ihn in die Hölle zu zerren. Die zwei Seiten vollziehen ein furioses Tauziehen, wirbeln aneinander und wieder zurück. Die Dämonen gewinnen den Krieg und schleifen den knienden Mann von der Bühne. Lhakarpo fängt an, sanft mit den Zimbeln zu klingeln, als würde sie aufgeben.

BARDIN

Sie sagen, er habe gelogen.

Die Dämonen wirbeln auf den Toten zu, umschließen ihn. Lhakarpo bewegt sich auf ihn zu.

BARDIN

Lhakarpo beschwört den Toten: „Du musst gestehen. Es ist dein eigener Geist, deine eigene Projektion, der du das Geständnis machst. Er muss in seinen bisherigen Leben zumindest ein wenig Gutes getan haben."

Das Publikum ist ein Meer aus Masken; kein Gesicht ist unmaskiert. Die meisten im Publikum sitzen auf dem Boden, umgeben von Personal in Tiermasken, das die Veranstaltung begleitet. Manche Zuschauer hängen von den Bäumen über der Menge. Das Personal trägt Speere und Macheten.

AUSDRUCKSLOSE MASKE wirkt unruhig und blickt sich nach links und rechts um. Er sieht einige Vertreter des Personals an, dann schaut er hinter sie.

Er hebt sich von dem Meer aus Masken ab, weil die anderen Zuschauer alle auf die Bühne blicken, während er sich ständig umsieht. Er erblickt eine Person in einer FRIEDLICHEN MASKE, die das Bein einer anderen in einer ABSCHEULICHEN MASKE streichelt. Es war nur ein winziger Augenblick, doch irgendwas ist eindeutig im Gange.

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