So ist es, mit einem tödlichen Hirntumor Frauen kennenzulernen
Das ist Marc | Foto: privat

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So ist es, mit einem tödlichen Hirntumor Frauen kennenzulernen

"Was machst du beruflich?", fragt sie. "Ich habe einen Hirntumor", sage ich. Plötzlich muss sie dringend zu ihren Freundinnen zurück. Und ich aufs Klo. Kotzen.

Ich bin besoffen, sie ist besoffen. Wir halten uns an der Theke fest und versuchen, Smalltalk zu machen. Lachen, weil es uns einfach nicht gelingen will. Viel zu viel Bier, viel zu spät in der Nacht. Aber irgendwann fragt sie: "Und, was machst du beruflich?"

Ich zucke. Gleich bin ich disqualifiziert.

Früher war die Antwort einfach: "Ich studiere Medizin." Eine bessere Antwort kannst du beim Flirten kaum geben.

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Heute sage ich: "Ich habe einen Hirntumor. Also mache ich nicht besonders viel."

"Aaaaahhhh", macht sie vielsagend und reißt die Augen auf. Dann muss sie dringend zurück zu ihren Freundinnen. Und ich aufs Klo. Kotzen.

Strategisch ist das nicht besonders klug, ich weiß. Ich hätte ihr sonst was erzählen können, denn vermutlich hätten wir uns eh nie wieder gesehen. Und wenn doch, dann hätte ich ihr, nachdem sie sich unsterblich in mich verliebt hat, in einem bewegenden Augenblick von meiner Krankheit erzählt.

Aber so bin ich nicht. Ich will, dass die Karten auf dem Tisch liegen, und zwar von Anfang an. Und das nicht nur, weil der Tumor mein Leben bestimmt. Ich bin 26 und die meisten Frauen, die ich kennenlerne, sind auf der Suche nach Mr. Right. Sie wollen jetzt, mit Mitte, Ende zwanzig möglichst die Weichen für den Rest ihres Lebens stellen. Während der Rest meines Lebens, nun ja, mehr oder weniger überschaubar ist.

Vor fünf Jahren ging das los. Es gab nicht den einen Moment, in dem ich wusste, mit mir stimmt was nicht. Ich hätte ein Dutzend Menschen aus meinem Umfeld aufzählen können, die die gleichen Probleme hatten wie ich: Konzentrationsschwierigkeiten, Müdigkeit, Überforderung. Ich war mitten im Medizinstudium, die Belastung an der Uni war hoch, außerdem habe ich viel gefeiert – da kann so etwas schon mal vorkommen. Erst, als ich immer häufiger für kurze Augenblicke wie weggetreten war und immer weniger Stoff schaffte, ging ich zum Arzt.

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Marc einen Tag vor der OP | Foto: privat

Mein Arzt schaffte es ein halbes Jahr lang nicht, mir eine Diagnose zu stellen. Ein halbes Jahr, in dem ich unerträgliche Kopfschmerzen hatte und immer weniger auf die Reihe bekam. Als ich den Arzt wechselte, sagte der Neue es mir nach einem einzigen Blick auf das MRT-Bild: ein Tumor. Und fand es erstaunlich, dass ich so gelassen blieb. Augenblicklich schaltete ich von Depression in den Kämpfermodus. Jetzt würden wir das Ding fertig machen!

Ganz fertig machen ließ es sich aber nicht. Durch seine Lage im Gehirn ist mein Tumor unheilbar. Auch nach der OP blieben Reste zurück, die früher oder später wieder wachsen werden. Es ist nur eine Frage der Zeit. Für meine Lebenserwartung bedeutet das: Mit richtig viel Glück lebe ich noch zehn Jahre, wenn ich Pech habe, fängt der Tumor morgen an zu mutieren, und mir bleiben noch sechs Monate. Ich kann mein Leben nicht planen. Ich lebe in einem "Dazwischen".

Operation, Bestrahlung, Chemotherapie – das alles war kein Spaziergang, aber ich hatte etwas, worauf ich meine Energie richten konnte. Der Kampf gegen den Tumor bestimmte mein Leben über drei Jahre. Jetzt weiß ich nicht recht, wohin mit mir.

Die Zeit, in der meine besten Freunde die Partys ihres Lebens feierten, verbrachte ich in Krankenhausbetten. Inzwischen sind sie fast alle in Langzeitbeziehungen, manche bekommen Kinder, die meisten haben gute Jobs. Ich musste das Medizinstudium nach der OP schmeißen, weil ich einfach nicht mehr hinterherkam. Meine Konzentrationsspanne reicht inzwischen gerade mal für eine halbe Stunde intellektuelle Arbeit – danach bin ich platt. Stattdessen studiere ich Geodäsie – die Wissenschaft von der Ausmessung und Abbildung der Erdoberfläche. So habe ich wenigstens den Studentenstatus. Alle Jubeljahre gehe ich mal in eine Vorlesung, versuche, mir das anzuhören, und penne gefühlt nach der Hälfte ein.

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Vielleicht auch deshalb, weil mir die Sinnlosigkeit dieses Studiums schmerzlich bewusst ist. Im Grunde kann ich es vergessen, jemals irgendwo angestellt zu werden. "Ich könnte Ihnen höchstens eine Stelle in der Behindertenwerkstatt anbieten", sagte mir letztens die freundliche Dame von der Agentur für Arbeit.

Ich bin echt ein optimistischer Typ, aber nach diesem Gespräch habe ich den ganzen Tag geheult. Durch den Tumor habe ich eine hundertprozentige Behinderung. Die Antiepileptika, die ich einnehmen muss, fahren mein Gehirn total runter. Und die Nebenwirkungen sind fies: Meine Muskeln und Gelenke schmerzen, ich habe Wassereinlagerungen und zittrige Hände. Außerdem werde ich langsam zu einem Fettsack, obwohl ich kaum ein halbes Brötchen runterkriege.

Nach der Trennung von meiner Ex-Freundin habe ich mir fest vorgenommen, so richtig auf die Kacke zu hauen – und dann gemerkt, dass ich kaum aus mir rauskomme, weil ich mich so unwohl in meinem Körper fühle. Sie hatte ich in der Reha kennengelernt. Ich war da, um mich von meiner OP zu erholen, sie von einem Burnout. Da ging es nicht nur ums Äußere. Wir hatten die Zeit, den Menschen dahinter kennenzulernen. Im richtigen Leben läuft das anders, da zählt der erste Eindruck.

Marc heute | Foto: privat

Und Attraktivität ist nicht das einzige Problem. Man muss schon narzisstisch veranlagt sein, um in meiner Situation keine Komplexe zu haben. Ich habe nichts, worüber ich mich definieren könnte: keinen Job, kein richtiges Studium, nichts, worauf ich hinarbeiten kann. Ich habe nicht einmal eine Zukunft. Dabei würde ich wahnsinnig gerne eine Familie gründen. Aber dafür müsste ich eine Frau finden, die verrückt genug ist, sich darauf einzulassen. Sie müsste ja davon ausgehen, dass sie das Kind früher oder später allein großziehen wird. Ich halte das nicht für sehr wahrscheinlich, dass ich so jemanden finde. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf.

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Überhaupt will ich mein Leben genießen, solange es noch geht. Klar sind durchgemachte Nächte und üble Kater nicht das Beste, was ich mit meinem Körper anstellen kann. Aber ich will so viel rausholen, wie geht.

Das bedeutet auch, dass ich keine Kompromisse mehr eingehe: Früher wäre ich vielleicht länger in einer Beziehung geblieben, in der ich nicht mehr glücklich bin. Oder hätte Freundschaften weitergeführt, die mir nicht gut tun.

Es gibt tatsächlich Menschen, die verfallen in Totenstarre, wenn sie mit mir in einem Raum sind, weil sie nicht wissen, wie sie mit mir umgehen sollen. Oder welche, die beim Feiern keinen Alkohol anrühren, damit ich es bloß auch nicht tue. Die sortiere ich gleich aus. Ich hab echt keinen Bock, auch noch durch mein Umfeld runtergezogen zu werden.

Merkwürdigerweise ist es nicht der drohende Tod, der mir zu schaffen macht, sondern die Frage, wie ich die Zeit davor rumkriegen soll. So paradox es klingt: Wüsste ich, dass ich nur noch ein halbes Jahr habe, könnte ich mich drauf einstellen. Vor allem in finanzieller Hinsicht. Im Moment lebe ich von der Unterstützung meiner Eltern (die ziemlich großzügig bemessen ist), aber das wird nicht ewig so gehen. Irgendwann gehen die in Rente. Klar, dann könnte ich immer noch harzen, aber ganz ehrlich: Was für ein Leben wäre das?

Und dann sind da noch solche Fragen: Wie lange werde ich so fit sein? Werde ich womöglich zum Pflegefall? Muss ich künstlich ernährt werden? Das sind Dinge, über die man sonst höchstens im Rentenalter nachdenkt. Bei mir sind sie schon mit 26 dran. Mein letztes großes Projekt war darum eine Patientenverfügung. Ich will wenigstens in dieser Hinsicht möglichst viel selbst entscheiden.

In zwei Monaten steht die nächste MRT an. Wenn sich dann herausstellen sollte, dass der Tumor noch immer nicht gewachsen ist, dann, habe ich mir vorgenommen, werde ich das "Dazwischen" verlassen.

Mein Onkologe (kein Mensch, der einem unbegründet Hoffnungen macht) musste herzlich lachen, als ich ihm vom Gespräch beim Arbeitsamt erzählte. "Die haben doch keine Ahnung", sagte er, "natürlich werden Sie einen Job finden. Solange Sie nicht als arbeitsunfähig abgestempelt sind, ist alles im grünen Bereich. Vielleicht müssen Sie sich nur etwas mehr anstrengen als andere, um etwas zu finden."

Auch was die Frauen angeht, habe ich beschlossen, meine Möglichkeiten zu erweitern. Vielleicht ist die Theke nicht der einzige Ort, an dem ich mir Abfuhren einholen sollte. Also: Meet me at Tinder!

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