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Die Wut über Merkels „Herzlosigkeit“ ist falsch – aber trotzdem nützlich

Eigentlich sollten wir Merkel dankbar sein, dass sie das System so konsequent verkörpert.

Das Video von der Begegnung der deutschen Bundeskanzlerin mit einer jungen Palästinenserin, die von der Abschiebung bedroht ist, sorgt gerade für massive Empörung auf allen Kanälen. Das ist verständlich, denn der Ausschnitt ist wirklich grauenhaft:

Das Video macht es einem ziemlich schwer, Angela Merkel nicht ein bisschen zu hassen. Der Kontrast zwischen dem zuerst hoffnungsvollen, dann verzweifelten und durchweg sehr verletzlichen jungen Mädchen und der steifen, schlecht Mitleid simulierenden Politikerin ist zu stark.

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Es gibt allerdings auch eine ungeschnittene Version der Begegnung, in der man sieht, wie die Kanzlerin und das Mädchen sich vorher fast zehn Minuten über verschiedene Themen austauschen. Die Abschiebungsproblematik überrascht die Kanzlerin, als sie das Gespräch schon für beendet hielt. Im Kontext wird verständlicher, warum sie glaubt, Reem loben zu müssen: Sie bezieht sich auf das ganze Gespräch.

Man kann dem kurzen NDR-Video nicht unbedingt Manipulation vorwerfen, da es die Begegnung eben auf das Wesentliche reduziert—aber wenn man die lange Version anschaut, wirkt das Benehmen der Kanzlerin schon deutlich weniger außerirdisch. Auch wenn es weiter befremdlich zu sehen ist, wie sie auch dann nie vergisst, korrekt ins Mikrofon zu sprechen, als sie eigentlich das Mädchen trösten will. Trotzdem: Merkel hat ja nicht so eigenartig reagiert, weil sie herzlos ist, sondern weil die Tränen des Mädchens sie aus der Fassung gebracht haben.

Die meisten Zuschauer werden aber nur das kurze Video zu sehen bekommen, und es wird Merkels Ruf einer herzlosen Politikerin auf lange Zeit zementieren. Das ist Pech für Merkel, aber trotzdem gut für die aktuelle Debatte um Flüchtlinge. Denn die entscheidende Aussage Merkels ist auch im kurzen Video enthalten:

„Hmm. Ich verstehe das und dennoch muss ich jetzt auch—das ist manchmal hart in der Politik—, wenn du jetzt vor mir stehst, dann bist du ja ein unheimlich sympathischer Mensch, aber du weißt auch, in den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon gibt es noch Tausende und Tausende und wenn wir jetzt sagen „Ihr könnt alle kommen und ihr könnt alle aus Afrika kommen und ihr könnt alle kommen", das, das können wir auch nicht schaffen. Da sind wir jetzt in diesem Zwiespalt und die einzige Antwort, die wir sagen, ist: bloß nicht so lange, dass es so lange dauert, bis Sachen entschieden sind. Aber es werden auch manche wieder zurückgehen müssen."

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Im Grunde ist das nur konsequent—auch wenn es natürlich wieder einmal beweist, dass Merkel keine Politikerin ist, die im direkten Dialog mit Menschen funktioniert. Man kann sich gut vorstellen, dass Politiker mit mehr Gespür wie Sarkozy oder Berlusconi sofort die PR-Chance gewittert und irgendetwas Rühriges und Unseriöses getan hätten—zum Beispiel dem Mädchen großspurig versprochen, dass sie bleiben kann. (Klappt auch nicht immer: Der französische Präsident Hollande ist wegen genau so einer Aktion mal heftig in die Bredouille geraten.)

Aber Merkel ergreift die Chance nicht, stattdessen bleibt sie bei der Wahrheit. Deutschland lässt unqualifizierte EU-Ausländer nur unter dem Asylgesetz dauerhaft im Land leben, und wenn sie keine Anspruch darauf haben, müssen sie gehen. Es ist nur konsequent, dass die Kanzlerin diese Position auch dann behält, wenn sie einer direkt davon Betroffenen gegenübersteht.

Denn: Jeder, der der Prämisse „Wir können nun mal nicht alle aufnehmen" zustimmt, muss theoretisch auch den Mut haben, das einem 14-jährigen Mädchen, welches einem gerade von ihren Studienträumen erzählt hat, ins Gesicht zu sagen.

Das ist die traurige Wahrheit, über die wir nicht gerne nachdenken. Solange wir es gerecht finden, dass nicht jeder in Deutschland oder Europa sein Glück versuchen kann, ist es scheinheilig, sich über eine Kanzlerin aufzuregen, die zu dieser Auffassung steht. Immerhin gibt es erst seit 2014 überhaupt eine Mehrheit dafür, dass wenigstens qualifizierte Ausländer einwandern dürfen. Totale Bewegungsfreiheit gilt immer noch als Utopie.

Es ist also gut, wenn dieses Video die Menschen in Europa dazu bringt, über ihre Einstellung zur Einwanderung—nicht nur zur Flucht—nachzudenken. Dann kann sich jeder entscheiden, ob er es eben doch leider notwendig findet, dass Menschen wie Reem hier nicht leben und studieren dürfen, weil sie im falschen Land geboren sind. Wer glaubt, dass Einwanderungsbegrenzungen vernünftig und notwendig sind, muss mit Reems Tränen leben können.

Wenn man das nicht will, müsste man nämlich an dem Glaubensgrundsatz rütteln, dass wir nicht alle reinlassen können. Da ist es dann doch einfacher, auf der Kanzlerin rumzuhacken.