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Warum der Kampf um Selbstbestimmung noch lange nicht vorbei ist

Trotz Massenprotesten droht in Polen nach wie vor eine Verschärfung des Abtreibungsgesetzes. Noch drastischer ist die Situation in Irland und selbst Österreich ist kein Paradies. Eine Bestandsaufnahme.
Foto von Karol Gryforuk, via VICE Polen

Es könnte ein ikonisches Bild von Warschau werden. Die Straßen und Plätze waren schwarz gefärbt, dazwischen gelbe, rote, blaue Farbkleckse in Form von Regenschirmen. In der Farbe der Trauer trugen am 3. Oktober Zehntausende Menschen in Polens Hauptstadt die Selbstbestimmungsrechte der Frauen symbolisch zu Grabe. Im Zuge der entstandenen Bewegung "Czarny Protest" ("schwarzer Protest") wurde gestreikt und protestiert.

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Am 23. September stimmten 267 von 460 Abgeordneten im polnischen Parlament Sejm in erster Lesung für die Begutachtung eines Gesetzesentwurfs, der von der Pro Life-Bürgerinitiative "Stop Aborcji" ("Stoppt Abtreibungen") erarbeitet und schließlich mit über 450.000 Unterschriften eingebracht worden war.

Haftstrafen von bis zu fünf Jahren standen im Raum—auch für das medizinische Personal. Einzige legale Ausnahme: akute Lebensgefahr für die Mutter. Am 6. Oktober wurde der Entwurf abgelehnt. "Czarny Protest" schien nicht umsonst gewesen zu sein.

Es war jedoch ein Auf und Ab. Die Stimmung in den sozialen Medien wechselte im Minutentakt von Erleichterung auf Anspannung und retour. Fakt ist, dass der Vorschlag nun im Papierkorb liegt. In zweiter Lesung stimmte eine Mehrheit von 352 Abgeordneten im Sejm dagegen, 58 waren dafür und weitere 18 enthielten sich dem Votum. Das ist gut. Auch eine abgewehrte Verschlechterung der Situation ist vorerst ein Gewinn für die Pro Choice-Bewegung. Aber kann man dem Frieden überhaupt trauen?

Hier kannst du Bilder einer Abtreibung sehen

Am Tag vor der zweiten Lesung hatte Polens Bildungs- und Wissenschaftsminister Jarosław Gowin verkündet, dass die Massenproteste die Regierung zum Nachdenken gebracht hätten. Ministerpräsidentin Beata Szydło stellte klar, dass nie geplant war, einer Verschärfung des Gesetzes zuzustimmen. Die in Polen seit 2015 alleinregierende rechtspopulistische und christlich-konservative Partei Prawo i Sprawiedliwość (kurz PiS, "Recht und Gerechtigkeit") trägt nicht zuletzt Schuld daran, dass der Entwurf überhaupt parlamentarisch begutachtet wurde. Ihr Vorsitzender Jarosław Kaczyński hatte stets versprochen, von Bürgerinitiativen eingebrachte Vorschläge nicht mehr ohne vorherige Vorstellung im Sejm abzuweisen. Die nach der letzten Wahl von ihm vorgeschlagene Szydło ist seine größte Unterstützerin.

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Einen Kompromiss zu suchen, scheint in der momentanen Position der Partei nachvollziehbar.

So hatte die PiS unmittelbar nach der Entscheidung, den Entwurf fallen zu lassen, angekündigt, selbst "differenzierte Pläne zum Lebensschutz" vorzustellen. Das überrascht nicht. Bloß, weil der Hardliner-Vorschlag der "Stopp Aborcji"-Initiative abgelehnt wurde, bedeutet das nicht, dass sich das Thema Schwangerschaftsabbruch erledigt hat. Dass es dabei nicht in die Richtung einer Liberalisierung gehen wird, ist anzunehmen. Schließlich schaffte es ein diesbezüglicher Antrag der Gegenbewegung "Ratujmy Kobiety" ("Retten wir die Frauen") trotz 210.000 Unterschriften erst gar nicht ins Parlament.

Zwischen einem (Beinah-)Komplettverbot und dem aktuell bestehenden Gesetz besteht Raum für Abstufungen. So hat die PiS-Abgeordnete Krystyna Pawłowicz laut dem polnischen Medium wSensie.pl auf ihrer Facebook-Seite angekündigt, dass es noch im Oktober ein neues Projekt geben wird, das 90 Prozent der derzeit möglichen Abbrüche verbieten und unter anderem beinhalten soll, dass Frauen mit "schwierigen Schwangerschaften" vom Staat unterstützt werden.

Lest hier alles, was ihr über die Abtreibungsgesetze in Österreich und Polen wissen müsst

Einen Kompromiss zu suchen, scheint in der momentanen Position der Partei nachvollziehbar. Immerhin kann sie die mehr als 450.000 Unterschriften nicht ignorieren. Aus dem Ordo Iuris-Vorstand wurden nach der Entscheidung Aufrufe laut, die PiS nicht mehr zu wählen. Das kann und will diese nicht riskieren. Es sind schließlich jene, die sie an die Macht gebracht haben. Für Ewa Dziedzic, Sprecherin der Grünen Frauen Wien sowie Mitglied beim Kongress polnischer Frauen in Österreich, war die drohende Verschärfung einerseits eine Konsequenz des nationalistischen Trends in Polen. "Die PiS hat sich lange vorbereitet", sagt sie. "Die liberal-konservative Platforma Obywatelska (kurz PO, "Bürgerplattform") hat zuvor eine neoliberale Wirtschaftspolitik verfolgt und dabei die soziale Frage ignoriert. Die Folge waren Frustration und Abstiegsängste innerhalb der Bevölkerung. Die PiS hat sich dieser Frage als Partei des kleinen Mannes angenommen."

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Eins sag ich euch: Wenn's nach dem Hofer geht, sieht's in Sachen — Julia Pühringer (@JuliaPuehringer)23. September 2016

Andererseits ist es der in Polen immer noch sehr tief verankerte Katholizismus, der das Land seit Jahren am Fortschritt hindert und es zu einem der wohl reaktionärsten und frauenfeindlichsten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union macht. Die katholische Kirche hat in Polen nach wie vor großen politischen Einfluss und vor allem im Hintergrund ein Machtgefüge, das seinesgleichen sucht. Zudem sind fast 90 Prozent der Bevölkerung römisch-katholisch. Fast 60 Prozent davon geben an, ihren Glauben auch zu praktizieren. Das seit 1993 bestehende Abtreibungsgesetz ist eines der restriktivsten in ganz Europa. Davor war der Schwangerschaftsabbruch in Polen erlaubt und wurde von der Krankenkasse bezahlt. Das Gesetz wurde eingeführt, um dem damaligen polnischen Papst Johannes Paul II., der als katholische Gallionsfigur wesentlich zum Ende des Realsozialismus und zur demokratischen Wende im Jahr 1989 beigetragen hatte, einen "Gefallen" zu tun. So wurde die Kirche in Polen auch zur politischen Macht. Gleichzeitig kam es zu einem gesellschaftlichen Backlash, der Frauen vom Arbeitsmarkt verdrängte, die Kinderbetreuung erschwerte und Abtreibungen schließlich strafbar machte.

Irland und der 8. Verfassungszusatz

Ein strengeres Gesetz gibt es nur in Malta, San Marino, Andorra (Komplettverbot) und in Irland. In Irland hat sich die schwangere Frau tatsächlich in Lebensgefahr zu befinden, damit die Abtreibung straffrei ist. Ansonsten muss der Fötus auch mit schweren Missbildungen, die das Überleben außerhalb der Gebärmutter unmöglich machen sowie nach Inzest und Vergewaltigung ausgetragen werden.

Das bedeutet, dass einer Frau nicht nur während einer Vergewaltigung das Recht auf ihren Körper genommen wird, sondern sie sich auch neun Monate danach einer Gesellschaft unterwerfen muss, in der weibliche Selbstbestimmung ein schweres Vergehen ist. Einer Gesellschaft, in der Frauen nur Hüllen zur Reproduktion sind.

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Foto: woodleywonderworks | Flickr | CC BY-2.0

Unter dem Claim "Repeal the 8th" versuchen feministische Pro-Choice-Bewegungen wie ROSA, die Organisation "For Reproductive Rights, Against Oppression, Sexism and Austerity", die Regierung dazu zu bewegen, den Zusatz (8th Amendment, Anm.) zum Artikel 40 aus der irischen Verfassung zu streichen.

Darin ist seit 1983 festgelegt, dass ungeborenes Leben zu schützen ist. Am 18. Oktober wird darüber im Dáil, der irischen parlamentarischen Versammlung, debattiert. Im Vorfeld hat die Tageszeitung Irish Times eine Umfrage präsentiert, bei der sich 74 Prozent der Befragten zwar gegen den Zusatz aussprachen, 55 Prozent aber für einen "limitierten Zugang" stimmten.

Ein solcher ließe sich mit dem aktuellen Gesetz in Polen vergleichen. Für einen liberalen Zugang wie im benachbarten England, wohin übrigens Tausende irische Frauen jährlich reisen, um einen Abbruch durchführen zu lassen, stimmten nur ein Fünftel der Befragten—und hier vor allem junge Menschen in Dublin. Zugunsten des 8th Amendment stimmten eher Über-65-Jährige im ländlichen Raum. Jung gegen Alt, Stadt gegen Land. Ein nicht ungewohnter Konflikt.

Gegen den "Genderwahn", gegen die Selbstbestimmung

Doch wie kann ein westeuropäisches Land wie Irland eine so rigide Einstellung rechtfertigen? Wie konnte Polen nur so knapp daran vorbeischrammen? Ewa Dziedzic erklärt sich die Ignoranz gegenüber den Folgen sexueller Gewalt folgendermaßen: "Inzest ist in Polen ein Tabuthema, darüber wird nicht offen gesprochen. Dementsprechend selten hört man von diesen Fällen, da sie in der Familie totgeschwiegen werden. Bei den übrigen Vergewaltigungen wird häufig davon ausgegangen, dass die Frau sie provoziert hat, weil sie zum Beispiel einen kurzen Rock anhatte. Sie trägt immer eine Mitschuld."

Die Frau als Mutter, die Nicht-Mutter als minderwertige Frau, das Opfer als Täterin und Mitschuldige—führt man sich die aktuelle Stimmung gegen den "Genderwahn", die vielerorts ermüdenden feministischen Bemühungen für Frauenrechte und Gleichberechtigung vor Augen, scheint der polnische Kurs nach dieser Logik zumindest konsequent.

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Aufgrund des fehlenden Zugangs zu sicheren und hygienischen Methoden können betroffene Frauen schwere Schäden davontragen.

Unter dem aktuellen Gesetz werden in Polen jährlich 1.500 bis 2.000 legale Abtreibungen durchgeführt. Ewa Dziedzic spricht von Schätzungen, die pro Jahr von bis zu 200.000 illegalen Fällen im gut vernetzten Untergrund ausgehen. Sie werden von "Engelmacherinnen" am Küchentisch vorgenommen, heimlich im Hinterhof abgehandelt oder durch im Internet bestellte Pillen herbeigeführt. Auch wurden, nachdem das Verbot eingeführt worden war, in manchen Zeitungen verschlüsselte Annoncen geduldet.

Aufgrund des fehlenden Zugangs zu sicheren und hygienischen Methoden können betroffene Frauen schwere Schäden davontragen. Viele sterben. Dieses Risiko ist vor allem klassenbedingt. Die Reichen fahren ins Ausland. Abtreibungstourismus ist populär und Thema in Fachpublikationen. Viele Ärzte verweigern die Behandlung ohnehin—aus moralischen Gründen oder aus Angst vor Verdächtigung und Strafe, weil das Gesetz doch viel Interpretationsfreiraum lässt. Außerdem ist jede Frau, die eine Fehlgeburt erleidet, stets verdächtig, diese selbst und absichtlich herbeigeführt zu haben und macht sich im äußersten Fall auch strafbar.

Lest hier, warum manche Frauen panische Angst vor der Schwangerschaft haben

Eine ähnliche Kluft zwischen Arm und Reich gibt es bei der Verhütung. Kondome reißen, die Anti-Baby-Pille ist günstig, aber für viele Frauen keine Option. Alle anderen Möglichkeiten fallen unter Langzeitverhütung und sind dementsprechend teuer. Beim Bedarf der "Pille danach" ist man in Polen sowie (teilweise) in Kroatien und Italien vom "guten Willen" des Arztes abhängig. In Ungarn ist sie verschreibungspflichtig und in Malta ist sie als Notfallverhütung gar nicht erhältlich. In den meisten EU-Staaten ist sie mittlerweile rezeptfrei zu bekommen. So auch in den USA, in der Schweiz und in der Türkei.

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Eine legale Abtreibung kostet europaweit zwischen 300 und 1.000 Euro, durchschnittlich um die 600 Euro. Die meisten europäischen Staaten haben sich hinsichtlich des Gesetzes auf den Kompromiss der Fristenlösung geeinigt. Diese besagt, dass ein Abbruch dann straffrei ist, wenn er innerhalb der ersten zwölf bis 16 (unter anderem in Österreich, Deutschland, Norwegen, Dänemark, Frankreich) oder 24 Wochen nach der letzten Periode (England und Niederlande) erfolgt. Tatsächlich erlaubt sind Abtreibungen also nirgendwo in Europa. Sie sind nur unter gewissen Bedingungen nicht strafbar.

Foto: William Murphy | Flickr | CC BY-SA 2.0

Ein Umstand, den Christian Fiala, medizinischer Leiter des Gynmed-Ambulatoriums "für Schwangerschaftsabbruch und Familienplanung" in Wien und Salzburg seit Jahren kritisiert: "Ein Abbruch sollte keine politische Frage sein. Man sollte fragen, ob es überhaupt ein Gesetz braucht und ob die Selbstbestimmung der Frau nicht ausreicht, um ihr eine Entscheidung zu ermöglichen. Die Pillen, die es für einen medikamentösen Abbruch braucht, sind in vielen Ländern rezeptfrei erhältlich, doch wenn die Frau ihren Abbruch selbst herbeiführt, droht ihr in Österreich bis zu einem Jahr Gefängnis. Die Situation ist absurd." Fiala betreibt seit 15 Jahren Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit zum Thema Abtreibung, seit 12 Jahren leitet der das Gynmed-Ambulatorium und ist somit eine Art Staatsfeind für Pro Life-Bewegungen. Hinsichtlich seiner Kritik an wissenschaftlichen Ansichten zu AIDS ist er hingegen nicht unumstritten.

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"Beides liegt wie eine Art Hobby in der Hand der Frauen und sollte eigentlich zur medizinischen Basisversorgung gehören."

Schätzungen zufolge werden in Österreich jährlich 30.000 bis 35.000 Abbrüche vorgenommen, der Großteil davon in Wien. "Im Burgenland und in Vorarlberg gibt es keinen einzigen Arzt, der Abbrüche macht, in Niederösterreich kosten sie über 1.000 Euro", erklärt Fiala. "Die Ärzte wollen nicht auffallen, die Sozialstrukturen am Land machen sie leicht erpressbar. Da muss sich das Kind in der Schule anhören, dass die Mama Kinder umbringt."

Ernst wird Fiala auch beim Thema Finanzierung. Er betont, dass Österreich das einzige Land in Westeuropa sei, in dem die Krankenkasse weder die Kosten für Abbrüche noch jene für Verhütung übernimmt. "Beides liegt wie eine Art Hobby in der Hand der Frauen und sollte eigentlich zur medizinischen Basisversorgung gehören."

Einfach mal in den Raum stellen, dass Ärzte aus Profitgier Frauen zu Abtreibungen drängen. Was für 1 (Pro)life. — žarko j. (@zarkojank)10. Oktober 2016

Er kritisiert Gesundheits- und Frauenministerin Sabine Oberhauser, die sich kürzlich im Interview mit der feministischen Zeitschrift an.schläge gegen die Deckung durch die Krankenkasse ausgesprochen hat. Oberhauser sagt in dem Gespräch, dass alles so passe, wie es ist. Sie habe gelernt, lieber nichts an der Situation zu ändern, da es nicht besser werde. Eine ersatzlose Streichung der Abtreibungsjudikatur, die ausschließlich in Kanada und bereits im Jahr 1984 erfolgte, wo Abbruch seitdem als konventioneller medizinischer Eingriff gilt, schließt sie ebenfalls aus.

Auch Ewa Dziedzic missfällt diese Einstellung: "Oberhauser stellt sich in dieser Sache gegen die anderen SPÖ-Frauen und die Grünen. Das ist mutig." Fiala warnt zusätzlich noch ausdrücklich vor Bundespräsidentschaftskandidat Norbert Hofer. "Er würde Abbrüche sofort verbieten wollen", ist er sich sicher. Hofer nennt die Gebärmutter im Handbuch freiheitlicher Politik den "Ort mit der höchsten Sterbewahrscheinlichkeit in Österreich" und forderte die Einführung einer verpflichtenden "Bedenkzeit" für Frauen.

Wie immer ist eine der größten Gefahren solcher Proteste, dass der Aufwand irgendwann den gefühlten Effekt und Nutzen nicht mehr rechtfertigt.

Auch Dziedzic, die die Bedeutung der katholischen Kirche in Österreich zwar nicht mit jener in Polen gleichsetzen möchte, erwähnt, dass das Land mit seiner eigenen "Partei des kleinen Mannes", der FPÖ, nur 400 Kilometer von Polen entfernt liegt. Von Wien ist man in nicht einmal fünf Stunden in Katowice.

Die vereinten streikenden Frauen in Polen "Ogólnopolski strajk kobiet!" riefen in einem emotionalen Brief dazu auf, weiter zu protestieren. Schließlich sei auch bestehendes Gesetz zu restriktiv und es sei wichtig, nicht aufzugeben. Wie immer ist eine der größten Gefahren solcher Proteste, dass die Anstrengung und der Aufwand irgendwann den gefühlten Effekt und Nutzen nicht mehr rechtfertigen. Vielleicht hat die PiS also nicht ganz unrecht, wenn sie hofft, dass die Aufregung und der Gegenwind irgendwann einfach im Sand verlaufen. Immerhin kostet der Kampf um weibliche Selbstbestimmung viel Zeit und Energie. Umso wichtiger ist es, dass wir nicht aufhören, offen über Abtreibung zu reden.


Foto von Karol Gryforuk, via VICE Polen