Auf den Spuren meiner Käsephobie – und ob es diese Phobie wirklich gibt
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Auf den Spuren meiner Käsephobie – und ob es diese Phobie wirklich gibt

"Ich habe angefangen, zu weinen und rumzuschreien, wenn ich zufällig Käse berührte. Teilweise lief ich vor Käse weg."

Helge Schneiders "Käsebrot ist ein gutes Brot" läuft im Hintergrund, während eine Mutter ihr Kind dazu zwingt, ein ebensolches zu essen. Das dreijährige Mädchen kreischt mit verquollenen Augen um Hilfe. Sobald das Brot näher an ihren Mund kommt, kneift es die Lippen zusammen. "Jetzt iss doch endlich. Das ist doch nur Käse." Nach einer halben Stunde Rumgeheule, Rumgeschreie und geschädigter Nerven, öffnet das Mädchen widerwillig ihren Mund. Sie kaut, schluckt und rennt schließlich auf die Toilette, um das eben Gegessene schnell wieder auszukotzen. Käsebrot ist für sie kein gutes Brot.

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Das Kind von früher bin ich, nur 20 Jahre alt und das oben Beschriebene ist meine früheste Kindheitserinnerung. Seitdem ich denken kann, habe ich Angst vor Käse; und seitdem ich Angst vor Käse habe, stoße ich mit dieser Angst auf Unverständnis und Missionierungsversuche. Und natürlich auch auf Gelächter.

Ich wurde zum Spaß mit Käsestücken über den Pausenhof gejagt und beschmissen. Mir wurde gesagt, dass ich käsig aussehe, mein Gesicht wurde im Schlaf mit Käse belegt, mir wurden Käsefüße unter die Nase gehalten und meine Schwester machte sich einen Spaß daraus, mir heimlich Käse ins Essen zu mischen.

Heute werde ich zwar nicht mehr mit Käse beschmissen, aber dafür versuchen regelmäßig Leute, mich zu missionieren. Ich komme mir dabei wie eine vegane Lesbe vor, die von fleischfanatischen Pick-up-Artists bearbeitet wird – nur dass ich statt dem richtigen Mann oder der passenden Wurstsorte eben noch nicht den richtigen Käse gefunden habe. "Es gibt doch so viele unterschiedliche Sorten! Wie kann man da nichts mögen? Du hattest einfach nur noch nie einen richtigen!" Und überhaupt, wie kann ich es wagen, Käse abstoßend und widerlich zu finden, wenn der Großteil der Bevölkerung schon bei dem Gedanken an Käse in einen orgasmischen Zustand verfällt?

"Es ist seine bloße Existenz in unmittelbarer Nähe, die ein Gemisch aus Angst und Ekel in mir hervorruft"

Sobald ich verkünde, mir nichts Schlimmeres vorstellen zu können, als Käse zu essen, starren mich immer wieder minutenlang entsetzte und ungläubige Augen an. "Auch nicht auf Pizza?" Nein, auch nicht auf Pizza. "Und was ist mit Frischkäse? Ich meine, das ist immerhin kein richtiger Käse." Nein. Auch nicht Frischkäse. Und nein, ich esse weder Pizzakäse, noch veganen Käse und auch nichts mit Käse Überbackenes. Babybell habe ich früher nicht anzufassen gewagt und bei Camembert aus dem Ofen überkommt mich nach wie vor ein tiefes Ekelgefühl. Und ja, mir ist es tatsächlich egal, wenn ich eine französische Käseplatte mit Weintrauben und Cracker verpasse.

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Denn ich habe ja auch keine Ahnung, wie Käse eigentlich schmeckt. Vielleicht würde ich den Geschmack lieben, aber darum geht es nicht. Ich verspüre einfach eine enorme Abneigung, sobald Käse in meine Nähe kommt. Es ist seine bloße Existenz in unmittelbarer Nähe, die ein Gemisch aus Angst und Ekel in mir hervorruft. Die Menschen in meinem engeren Umfeld konnten das Ganze nie wirklich verstehen. "Ich habe dich ja immer gefragt, ob du Bock hast, mal zu probieren und danach hatte ich das Gefühl, dass du schlecht drauf bist", erzählt meine langjährige Freundin Hanna.

Ja, ich war schlecht drauf. Alleine das Wort Käse ließ mich in Schockstarre verfallen. Ich habe angefangen, zu weinen und rumzuschreien, wenn ich zufällig Käse berührte. Teilweise lief ich vor Käse weg. Die Reaktion meiner Eltern war immer wieder dieselbe: "Jetzt stell dich doch nicht so an. Du machst immer ein Drama aus allem."


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Schließlich weitete sich der Ekel aus. Ich bekam eine Abneigung gegen die Farbe weiß. Bis vor einem Jahr besaß ich kein einziges weißes Kleidungsstück. Um das in meiner Heimatstadt ansässige Restaurant mit dem Namen "Käsefalle" machte ich einen großen Bogen. Joghurt, Topfen und Butter esse ich immer noch nicht. Es erinnert mich einfach zu sehr an Käse in seiner reinsten Form. Auch Soja-Joghurt und Margarine rühre ich bis heute nicht an. Ich kann auch keine Person küssen, die zuvor Käse gegessen hat. Schon alleine der Gedanke bringt mich fast zum Kotzen.

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Und nein, ich verarsche euch nicht. Ich habe eine sehr reale Angst vor Käse.

Das Schlimmste an alldem ist nicht, keinen Käse zu essen – denn darunter leide ich nicht –, sondern damit nicht ernstgenommen zu werden. Was wahrscheinlich auch ein Grund für meine halbernste Auseinandersetzung mit der Thematik hier ist. Durch die mangelnde Ernsthaftigkeit, die meiner Phobie entgegengebracht wurde, habe ich sie selbst irgendwann nicht mehr ernstgenommen.

Um das zu ändern und mir ein bisschen professionelle Rückversicherung zu holen, habe ich mich mit der Psychologin Dr. Sigrun Roßmanith unterhalten. Leider nicht ganz mit dem gewünschten Ergebnis, denn: "Eine Abneigung ist keine Phobie. Eine Phobie ist eine Angsterkrankung auf etwas Bestimmtes, die die Lebensqualität ganz massiv einschränken muss."

"Anstelle der Phobie scheine ich eine neurotische Fixierung aufzuweisen, die sich durch Angst oder ein Ohnmachtsgefühl äußert"

Die meisten ihrer PatientInnen haben eine wirkliche Phobie, erklärt Dr. Roßmanith – beispielsweise eine Sozialphobie oder eine Phobie vor Nadeln. Trotzdem beobachtet sie ein neues Phänomen: "Es gibt neue Wortschöpfungen, wie beispielsweise eine Schulphobie oder eine Arbeitsplatzphobie. Sie schaffen aus einer Abneigung eine krankheitsschaffende Phobie, die sie eigentlich nicht ist."

Anstelle der Phobie scheine ich eine neurotische Fixierung aufzuweisen, die sich durch Angst oder ein Ohnmachtsgefühl äußert. Mein Erbrechen gegen den Käse sei dabei eine reine Trotzhandlung, erklärt mir Dr. Roßmanith.

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Solche ungewöhnlichen, neurotischen Fixierungen scheinen allerdings viele Menschen zu besitzen. Nach einer kleinen Umfrage in meinem Bekanntenkreis stellte sich heraus, dass es überraschend viele Menschen gibt, die Gurken, Tauben und Delfine hassen oder zumindest ekelhaft finden. Meine Freundin Eva beispielsweise verspürt einen extremen Ekel vor Tauben, sobald sie sie nur sieht. In einen Park zu gehen ist für sie sehr schwierig. So wirklich versteht ihr Umfeld ihren Ekel nicht: "Als ich noch in der Schule war, hatte ich einen Freund, der es lustig fand, mich in die Richtung der Tauben zu drängen", so Eva. Auch ihr Vater kann die extreme Abneigung bis heute nicht wirklich verstehen.

Auch der Delfinhass meiner Kollegin Katinka stößt bei ihren Mitmenschen auf wenig Verständnis. Schon immerhabe sie Delfine etwas gruselig gefunden, doch seitdem sie herausgefunden hat, dass Delfine tote und lebendige Tiere vergewaltigen, war ihre Abneigung dann richtig explodiert. "Mein Umfeld reagiert mit Schock und Verachtung auf meinen Delfinhass, da Delfine für viele natürlich die süßesten und intelligentesten Tiere der Welt sind."

Was ich mit Taubenekel und Delfinhass teile, ist das Unverständnis der Umwelt. Einen Unterschied gibt es aber: Was man süß findet, ist weniger wichtig als das, was man in sich hineinstopft. Vor allem, weil man mit Nahrungsmitteln auf einer alltäglicheren Basis zu tun hat als mit Tieren, die hoffentlich eher selten verspeist werden.

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In meinem Leben nahm bisher wirklich niemand meinen Ekel vor Käse ernst. Weder meine Kindergärtnerin, die laut meiner Mutter immer wieder empfahl, mir doch mal ein Käsebrot mitzugeben, noch meine Mutter selbst, die mich immer wieder zu bekehren versuchte. Erst als ich von Käse würgen und sogar kotzen musste, realisierte sie, wie sehr ich Käse wirklich verabscheue.

Was meine Mutter mit der Zeit akzeptierte, konnten meine Freunde irgendwie nicht. Hanna bereut ihr mangelndes Verständnis allerdings im Nachhinein und gibt sich mittlerweile Mühe, kein Käsebrot mehr vor mir zu essen.

Katharina, eine andere Freundin, scheint meinen Ekel bis heute nicht komplett verstanden zu haben. Seit elf Jahren kennt sie mich nun; und genau so lange macht sie sich auch über meine Abneigung lustig. Als ihre kleine Schwester vor ein paar Jahren im Schlaf eine Scheibe Gouda auf mein Gesicht legte, empfand sie pure Schadenfreude. "Man sollte sich da nicht so ernst nehmen. Ist ja nur Käse."

Was für sie "nur Käse" ist, stellt für mich den ultimativen Schrecken dar. Allerdings ist meine neurotische Fixierung mit der Zeit besser geworden. Heute kann ich den Anblick von Käse ertragen, besitze einige weiße T-Shirts und kann die Käseverpackung – mit etwas Überwindung – auch berühren. Wenn ich mir anschließend die Hände desinfiziere, kann ich den weiß-gelben Schrecken sogar anfassen. Was allerdings bleibt, ist der generelle Ekel. Ernsthaft: Warum findet ihr vergorene (und teilweise verschimmelte) Milch geil, während euch bei allen anderen verschimmelten und vergorenen Lebensmitteln ein genauso tiefes Ekelgefühl überkommt wie mich bei Käse? Die Frage sollte eher lauten, was eigentlich falsch mit euch ist.

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