Politik

Über den Hit dieses Westberliner Rappers spricht die ganze Türkei

"Ich rechne damit, dass wir wegen des Songs zu Verhören geladen werden."
Der Rapper Fuat schaut in die Kamera
Foto: Privat

Wenn im Deutschrap Disstracks releast werden, dann geht es darin oft um belanglosen Gossip. Wer muss im Restaurant immer dann zur Toilette, wenn die Rechnung kommt und wer hat mal als Jugendlicher eine Strumpfhose getragen?

Wenn in der Türkei Disstracks viral gehen, dann geht es ums große Ganze, um Gesellschaft, Gerechtigkeit, Politik. Gerade haben sich 18 türkische Rapper mit der AKP-Regierung und Präsident Recep Tayyip Erdoğan angelegt, mit ihrem Hit "#Susamam". Auch wenn das Diss-Ziel nicht namentlich genannt wird, weiß jeder, um wen es geht.

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Nach einer Woche hat ihre Abrechnung mit der türkischen Politik 18 Millionen Aufrufe. Und die AKP ein mächtiges Problem. Die wichtigen Zeitungsverlage konnte der Präsident in den letzten Jahren übernehmen, die YouTube-Trends nicht. Das ist Fuat gelungen, der den ersten Part auf #Susamam rappt. Seit fünfzehn Jahren lebt und rappt der "Westberliner Türke" in Istanbul. Wir haben ihn per FaceTime interviewt.

VICE: Fuat, Susamam heißt auf Deutsch: "Ich kann nicht schweigen". Worüber musstest du bisher schweigen?
Fuat: Ich darf in der Türkei nichts Regierungskritisches sagen. Völlig egal, ob es dabei um Waldbrände oder misshandelte Frauen geht. Wenn du hier Kritik äußerst, wirst du als PKK-Terrorist oder Anhänger von Fethullah Gülen dargestellt. Unsere Regierung steckt Menschen jahrelang ohne Beweise in den Knast.

Als wir #Susamam veröffentlicht haben, wurden wir in der regierungstreuen Presse als "Vaterlandsverräter" bezeichnet. Bei CCN Türk behauptete ein Unterstützer der AKP sogar, die Geheimdienste CIA und Mossad würden hinter unserem Projekt stecken.

Bei YouTube kam der Song extrem gut an. Über 1,5 Millionen Nutzerinnen gefällt euer Musikvideo. Haben gerade junge Türken und Türkinnen das Erdogan-Regime satt?
Nein, nicht nur Jugendliche und Rap-Fans. Hinter unserem Song stehen Menschen aller Altersgruppen, von sieben bis siebzig. Der Großteil der türkischen Bevölkerung hat die Schnauze voll. Die Menschen wollen sich nicht mehr ins Haus zurückziehen, Serien gucken oder Sonnenblumenkerne essen. Und wir Rapper haben es jetzt ausgesprochen.

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Ihr berichtet von der Angst, eure Meinung im Internet zu äußern oder im Polizeiverhör gefoltert zu werden. Warum nennt ihr keine Namen, obwohl jedem Hörer klar ist, um wen es geht?
Wenn du die Politiker direkt angreifst, klagen sie dich an. Du kriegst hohe Geldstrafen oder landest im Knast. Wir haben deshalb ganz bewusst nicht Erdoğan oder die AKP erwähnt. Es ist aber ganz klar, dass wir die Regierung kritisieren. Jeder, der eins und eins zusammenzählen kann, weiß das.

Ich rechne damit, dass wir wegen des Songs zu Verhören geladen werden und sie Akten mit haltlosen Vorwürfen anlegen. Ich habe aber keine Angst. Wir sind im Recht. Ich sage ja nur meine Meinung. Ich bedrohe niemanden mit einer Waffe. Ich schlage noch nicht mal ein Fenster ein.

Nicht jede Zeile des Songs richtet sich an das Regime. An einer Stelle heißt es, man solle seine Kippenstummel nicht ins Meer schmeißen oder mit dem Auto rasen. Ist der Song an manchen Stellen nicht sehr allgemein?
Guck mal, wir sind 18 Rapper mit eigenem Stil und sehr unterschiedlichem Hintergrund. Einige von uns stehen zum Beispiel der prokurdischen HDP nah. Die Botschaft unseres Songs ist so wichtig, dass wir uns alle zusammengeschlossen haben.

Der gemeinsame Nenner ist: Wir sind gegen die ungerechte Justiz, gegen die Umweltverschmutzung, gegen die Zensur in der Türkei. Jeder hat sich in seinem Part das Thema vorgenommen, das ihn am meisten stört.

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In deinem Vers geht es hauptsächlich um Umweltschutz. Ist die Klimadebatte in der Türkei so bedeutend wie in Deutschland, wo Tausende Schülerinnen und Schüler bei #FridaysforFuture auf die Straße gehen?
Ja, aber die Verhältnisse in der Türkei sind ganz anders. Hier werden Wälder einfach abgebrannt, um Villen für Reiche zu bauen. Es gibt keine Kläranlagen. Das schmutzige Wasser läuft einfach so ins Meer. Ich bin ein Naturmensch und will nicht, dass die Zukunft der kommenden Generationen zerstört wird. Das betrifft aber nicht nur die Türkei, sondern ist ein globales Problem.

In den 90er Jahren standest du im legendären Royal Bunker, einer Kellerkneipe in Kreuzberg, mit Sido und Kool Savas auf der Bühne. Wie unterscheidet dein Leben als Rapper in Deutschland und der Türkei?
In Deutschland war mein Leben ruhiger. Meine alten Tapes, zum Beispiel "Hassickdir", was so was wie "Verpiss dich!" heißt, konnte ich nicht rausbringen. Da schreitet sofort das Kulturministerium ein.

In Deutschland kiffen oder dealen ja viele Rapper und zeigen das offen in ihren Musikvideos. Das kannst du hier nicht machen. Auch so ein Genre wie Porno-Rap oder Künstler wie King Orgasmus und Frauenarzt würden in der Türkei niemals existieren. Da kommt direkt das Ordnungsamt oder die Polizei.

Ist der Rap in der Türkei politischer als in Deutschland, weil das System ungerechter ist?
Die Probleme in der Türkei gibt es seit fünfzig Jahren. Deshalb war der Rap hier schon immer conscious, so wie Public Enemy in den USA. Ich denke, dass türkischer Rap sehr politisch ist, weil die Bedrohung durch den Staat sehr groß ist.

In Deutschland habe ich manchmal das Gefühl, dass sich Rap zurückentwickelt. Habt ihr in Europa denn wirklich keine Sorgen? Der Rest der Welt kotzt Blut und ihr reiht Designermarken oder Waffenmodelle aneinander.

Haben sich denn deine alten Freunde aus Deutschrap nach der Aufregung um #Susamam gemeldet?
Ja, einen Tag nachdem der Song rauskam, hat mir Kool Savas geschrieben. Wir waren früher zusammen in der Crew M.O.R. Er hat nach einem Video-Teaser gefragt, damit er den Song über Social Media teilen kann. Viele Leute von früher haben sich nach #Susamam gemeldet. Darüber habe ich mich sehr gefreut

Wie geht es jetzt weiter? Könnt ihr mit #Susamam überhaupt live spielen?
Wir treten am 8. Oktober in Istanbul gemeinsam auf. Ich habe überhaupt keine Vorstellung, wie viele Menschen zu unserem Auftritt kommen werden. Ich hoffe nur, die Karten sind so günstig, dass sie sich jeder leisten kann. Die Erlöse werden an Dorfschulen und Tierheime in der Türkei gespendet.

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