Wir haben AfD-Wähler unmittelbar nach ihrer Stimmabgabe gefragt: Warum?
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Bundestagswahl 2017

Wir haben AfD-Wähler unmittelbar nach ihrer Stimmabgabe gefragt: Warum?

Sie erzählen von Wut und Enttäuschung.

Berlin, Marzahn-Hellersdorf, Deutschlands Wahlkreis 85. Hier leben Menschen größtenteils übereinandergeschachtelt – 250.000 Leute in Plattenbauten hinter Plattenbauten. Zwar gibt es neben dem Beton auch Grün, es gibt bürgerliche Ecken mit Einfamilienhäusern. Die Problembezirke dominieren aber das Bild des Stadtteils, zumindest in den Medien. In Berlin machen nirgendwo weniger Schüler Abitur, 39 Prozent der Kinder unter 15 Jahren wachsen in Familien auf, die von Hartz IV leben. Unter den Erwerbstätigen sind überdurchschnittlich viele Menschen Arbeiter. So wie der Stiefvater von Angelina. Er ist gerade wählen gegangen. Angelina ist 13 Jahre alt und sitzt mit anderen Kindern am Fuße von ein paar Plattenbauten auf einer Treppe. Die Achtklässlerin raucht Marlboro-Zigaretten. Ihr Lidstrich trennt den Wimpernkranz haarscharf von ihrem orangegelben Lidschatten. Was sie heute noch machen: "Rumsitzen und nix tun. Wie immer." Viele Menschen, mit denen wir geredet haben, sagen, sie seien zufrieden und glücklich in Marzahn-Hellersdorf. "Ich hätte keine Lust, in Kreuzberg zu leben", meint ein Mann vor dem Wahllokal. "Hier ist es friedlich und ruhig, ich möchte mit den ganzen Verrückten in Berlin nichts zu tun haben."

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Die Menschen, die hier zu Hause sind, wählten vor wenigen Jahren noch großteils links. Bei der letzten Bundestagswahl 2013 war die Linke mit 38,9 Prozent der Erststimmen mit Abstand die stärkste Kraft. Aber seitdem hat sich das Land verändert. Deutschland hat mehr als eine Million Flüchtlinge aufgenommen, Terroranschläge schockieren alle paar Wochen die Europäer. Die Alternative für Deutschland wandelte sich von der ursprünglich europakritischen Partei zu einer, die Angst vor Ausländern und Überfremdung schürt.

Obwohl Marzahn mit 15 Prozent einen niedrigen Migrantenanteil hat, oder vielleicht gerade deswegen: Hier hat die AfD vom Klima der Angst profitiert. Rechts wurde eine Alternative zu links. Im vergangenen Jahr besiegte die AfD bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus die Linke zum ersten Mal in Marzahn. In diesem Jahr hat hier jeder Fünfte die AfD gewählt, nirgendwo sonst in Berlin hatte sie so viel Zustimmung. Wir haben Leute, die für die AfD gestimmt haben, gefragt: Warum?

Obwohl auch Frauen unter den Menschen waren, die wir angesprochen haben, hatten wir den Eindruck, dass sie sich nicht getraut haben, mit uns zu reden. Meist haben sie ihren Partner reden lassen oder haben uns zwar ihre Meinung gesagt, wollten aber nicht öffentlich dazu stehen. Wie ungefähr 90 Prozent der AfD-Wähler, die wir insgesamt angesprochen haben.

Mike, 47, ehemaliger Maurer

Mike steht vor einer Dönerbude in Marzahn, mit einem Mitarbeiter des Ladens raucht er eine Zigarette. Die beiden unterhalten sich lebhaft und lachen. Die AfD wähle Mike, sagt er, wegen sozialer Themen und der Ausländer. "Immer sind die Ausländer schuld", wirft der Mitarbeiter der Dönerbude ein. Mike schaut ihn an und lacht ein bisschen unangenehm berührt. "Du arbeitest ja", sagt Mike.

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VICE: Du wählst die AfD, ist dir bewusst, dass die Partei in weiten Teilen rechtsextrem ist?
Mike: Ich habe jahrelang auf dem Bau gearbeitet, gemacht und getan und bekomme nichts zurück. Ich wähle die AfD, weil ich wütend bin. Ich hoffe, dass sie drittstärkste Kraft wird. Wenn du mich deswegen Nazi nennen willst, mach ruhig. Ist mir egal.

Fühlst du dich ungerecht behandelt?
Ja. Ein Beispiel: Ich habe Probleme mit meinem Rücken. Nach mehreren OPs bin ich arbeitsunfähig geworden. Ich bin einmal zu einem Beratungsbüro gegangen, weil ich dachte, die könnten mir helfen, das Behördenzeug für meine Unterstützung auszufüllen. Der ganze Papierkram ist ja recht kompliziert. Die haben mich da wieder weggeschickt, weil ich Deutscher war. Hilfe gibt es nur für Flüchtlinge.

Vier Stunden später sitzt Mike immer noch da, zusammen mit drei Freunden in der hinteren Ecke der Dönerbude. Die Männer sind um die 50, rauchen Zigaretten und trinken Bier. Mike holt sich einen Schnaps. Sein Freund Mario macht sich Sorgen, dass Mikes Aussagen falsch rüberkommen. Mario und Mike haben früher zusammen auf dem Bau gearbeitet, Mario ist 53 und Bauleiter.

Mario: Der Mike ist ein ganz Lieber, es soll nicht falsch rüberkommen, was er sagt. Wir sind keine Nazis. Es ist einfach eine Protestwahl.

VICE: Wen wählst du?
Mario: Früher habe ich die Linke gewählt, jetzt nicht mehr. Grüne, FDP, CDU und SPD auch nicht. Es soll klatschen. Ich träume davon, dass die SPD 18 Prozent bekommt, wer die noch wählt, ist wahrscheinlich senil und im Altersheim.

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Woher kommt die ausländerfeindliche Stimmung?
Ich habe nichts gegen Flüchtlinge. Ich habe mal Pässe einer vietnamesischen Familie bei mir zu Hause versteckt, damit deren Asylverfahren länger dauert. Sie leben heute noch in Deutschland. Die Stimmung entsteht, wenn unsere Integrationsbeauftragte zum Beispiel sagt, dass es außer der deutschen Sprache keine deutsche Kultur gibt. Da habe ich mich persönlich zutiefst beleidigt gefühlt. Die deutsche Kultur, das ist Geradlinigkeit, Direktheit, Fleiß.

Was können wir tun, damit die Gesellschaft nicht weiter auseinanderdriftet?
Ich habe auch keine Lösung. Wie kommen wir aus der Nummer raus? Vielleicht sollte man mal 'ne ehrliche Bestandsaufnahme machen, wie es in unserer Gesellschaft aussieht. So viele Rentner kriechen hier durch die Büsche und müssen Flaschen sammeln. Wir haben hier viele Probleme, die einfach keinen interessieren.

Thilo, 36, arbeitsunfähig

Thilo kommt Hand in Hand mit seiner Freundin aus dem Wahllokal in der Peter-Pan-Grundschule in Marzahn. Im Herbst 2014 gingen hier 30 Kinder in die erste Klasse. Im vergangenen Jahr waren es bereits 80. Die Schule sollte schon vor vier Jahren umgebaut und erweitert werden, aber es passierte nicht viel. Viele Menschen, auch schon jene um die 50, laufen auf Krücken ins Wahllokal oder schieben einen Rollator.

VICE: Warum hast du die AfD gewählt?
Thilo: Ich habe die AfD und die NPD gewählt, weil ich meine Stimme nicht den großen Parteien geben will. Die reißen unser Land nur noch weiter runter. Hier in Marzahn war es immer friedlich. Zwar bröckelt die Infrastruktur und alles, aber unser Motto war: Die Marzahner können aus Scheiße Bonbons machen. In letzter Zeit hat sich hier alles zum Negativen entwickelt.

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Was meinst du konkret?
Wo kommen die zig Millionen Euro für die Flüchtlingsheime her? Die haben die uns hier vor die Nase gesetzt. Und die haben angefangen, die Heime zu bauen, ohne überhaupt abzuwarten, was die Befragung der Anwohner ergibt. Die Jugendlichen hier werden auch immer frecher, man wird angepöbelt. Die haben einfach alle diese Null-Bock-Einstellung.

Fragt man genauer nach, können viele der Gesprächspartner an diesem Tag ihre Meinung nicht an konkreten Argumenten festmachen. Sie brechen die Diskussion ab oder werden defensiv. Einige belegen ihre Meinung mit Geschichten, die sie von Freunden oder Bekannten gehört haben.

Die Fassade vor dem Eingang des Wahllokals an der Peter-Pan-Grundschule in Marzahn-Hellersdorf

Mario, 50, arbeitsunfähig, ehemaliger Polizist

Zwei Jugendliche in Jogginghosen laufen vorbei. Als sie uns sehen, schreit einer: "Ich wähle die NPD!", und macht einen Hitlergruß, die beiden finden das offenbar lustig. Mario ist mit seiner Frau auf dem Rückweg vom Wahllokal. Er sagt, er wähle die AfD aus Instinkt.

VICE: Was meinst du mit Instinkt?
Mario: Ich bin unzufrieden mit den meisten Parteien und möchte ihnen eins auswischen. Die Flüchtlingspolitik spielt auch eine Rolle. Die Kriminalität nimmt hier zu. Zum Beispiel hat ein Kumpel zu 'nem Kumpel gesagt, dass ein Freund im Krankenhaus lag, weil er von Flüchtlingen angegriffen wurde.

Hast du lange darüber nachgedacht, wen du wählst?
Ich hatte keine Wahl in diesem Jahr. Dass ich AfD wähle, stand schon lange fest. Wir leben in einer Demokratie und müssen das aushalten. Früher habe ich SPD gewählt.

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Matthias, 29, Logistiker

Matthias steht mit Freunden vor einem Wahllokal. Die jungen Menschen unterhalten sich, einige von ihnen wählen die AfD. Matthias ist der Einzige, der erzählt warum. Die anderen stimmen ihm zu, unterbrechen ihn immer wieder, um Dinge zu ergänzen. Auf die erneute Frage nach einem Interview antworten sie trotzdem mit Nein.

VICE: Warum wählst du die AfD?
Matthias: Ich stand noch bis heute morgen zwischen den Stühlen: AfD oder die Linke. Ich habe keine Lust mehr auf die etablierten Parteien. Vor acht Jahren habe ich die FDP gewählt, ich habe es auch mit der SPD probiert. Nichts ändert sich. Ich kaufe denen das alles nicht mehr ab. Die AfD ist die einzige Partei, die ans Volk denkt.

Fühlst du dich vernachlässigt?
Es ist einfach eine Tatsache, dass mehr für Ausländer getan wird als für uns. Viele meiner Freunde suchen Arbeit. Flüchtlingen wird das Geld gegeben. Vor allem werden sie bei Wohnungen bevorzugt, es wird ihnen ja alles bezahlt. Das ist eine sichere Sache für Vermieter. Und alles wird teuer.

Ewald Boot, 64, der stellvertretende Wahlleiter des Wahlbüros ist zu dem Menschenpulk dazugekommen, der sich gebildet hat. Er hört dem Gespräch lange zu und entgegnet dann ruhig:

Ewald Boot: Ich habe eine andere Meinung als Sie. Sie sollten die Probleme differenziert betrachten. Wenn ich meine Wohnung kündigen würde und sie jetzt 350 Euro kostet, dann vermietet der Eigentümer sie danach für 400. Ob da nun ein Flüchtling einzieht oder nicht. Nicht die Flüchtlinge sind schuld, dass die Wohnungen auch hier teurer werden.

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VICE: Welche Argumente kannst du noch widerlegen?
Ewald: Ich habe selten AfD-Wähler logisch argumentieren hören. Diffuse Ängste kann man schwer wegargumentieren.

Ewald Boot, 64, stellvertretender Wahlleiter eines Marzahner Wahlbüros und Ehrenamt- Koordinator in einer Berliner Flüchtlingsunterkunft. Er hat Linke und SPD gewählt

Wie soll es nach der Wahl weitergehen?
Ich bin besorgt. Die NPD war auch in einigen Landtagen vertreten, hat sich aber zerstritten. Ich denke nicht, dass wir die AfD so loswerden. Da sitzen einige hochprofessionelle Politiker. Ich habe Angst, dass sich die Verhältnisse hier zwischen links und rechts denen in den USA angleichen. Ich habe erlebt, wie Freundschaften deswegen kaputt gegangen sind.

Du scheinst nicht wütend auf die Menschen hier zu sein. Müsstest du die AfD-Wähler als Linker nicht verachten?
Man sollte keinem Menschen mit Verachtung entgegentreten. Viele davon sind Protestwähler. Ich kann das nachvollziehen, es ist einiges schiefgelaufen in den vergangenen Jahren. In meinem Wahlbüro hatte die AfD bei der letzten Wahl nur drei Stimmen weniger als die Linke. Aber so traurig die Tatsache ist, ich bin stolz darauf, dass in unserem Land die Wahlen funktionieren und nicht beeinflusst werden. Und jeder seine Meinung sagen kann.

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