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fußball-kultur

Die Polizei kesselt 1.300 Rapid-Fans stundenlang bei Minusgraden ein

Ohne Wasser, Essen, medizinische Versorgung und Toiletten. Grund soll gewesen sein, dass Menschen Gegenstände auf die Fahrbahn geworfen haben. Die Fans sehen das anders.
Polizeiautos vor dem Stadion der Austria
Foto: Michael Bonvalot

Es ist unwahrscheinlich, dass es in Wien viele Orte für einen Polizeikessel gibt, die noch gefährlicher wären. Ein rutschiger, abschüssiger und völlig verschlammter Trampelpfad, an der engsten Stelle höchstens fünf Meter breit. Links eine Hausmauer, rechts ein hüfthohes Metallgeländer und fast zehn Meter darunter die am meisten befahrene Autobahn des Landes, die Wiener Südosttangente.

Mindestens 1.338 Fußballfans hat die Wiener Polizei am Sonntag an diesem Ort bis zu sieben Stunden lang bei Minusgraden eingekesselt. Ohne Essen und Getränke, ohne medizinische Versorgung, ohne die Möglichkeit, aufs Klo zu gehen. Die Bilanz dieser stundenlangen Massenanhaltung von über 1.300 Menschen: eine Anzeige wegen Gemeingefährdung und eine verwaltungsrechtliche Festnahme.

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Das große Wiener Derby zwischen dem FK Austria Wien und dem SK Rapid Wien hätte am Sonntag vor allem fußballerisch für Spannung sorgen sollen. Das Spiel endete in einem historischen Debakel für Rapid, die Austria deklassierte die Grünen mit 6:1. Viele Rapid-Fans hatten nicht einmal die Möglichkeit, ihre Mannschaft im Stadion zu supporten: Bereits vor dem Spiel wurden sie von der Polizei eingekesselt.

Polizei, die Fand einkesselt

Die Polizei kesselt 1.300 Rapid-Fans ein | Foto: Michael Bonvalot

Bei Auswärtsderbys in Wien marschieren zahlreiche Fans traditionell gemeinsam zum "gegnerischen" Stadion. Das soll Stärke demonstrieren, hat aber auch praktische Sicherheitsgründe. In beiden Fanlagern gibt es besonders "motivierte" Fans, die die Fans der jeweils anderen Mannschaft auf dem Weg zum Stadion angreifen.

Der Ehrenkodex besagt, dass solche Auseinandersetzungen nur zwischen den organisierten Fanszenen stattfinden. Doch immer wieder werden auch normale Fans attackiert. Das führt dazu, dass sich viele Fans, die mit den jeweiligen Fanszenen eigentlich nichts zu tun haben, aus Sicherheitsüberlegungen den Derbymärschen, dem "Auswärtsmob", anschließen.

Der Fanmarsch der Rapid-Fans wird von der Polizei in der Regel über eine Autobahnbrücke zum Auswärtssektor im Stadion der Austria geführt. Direkt unter der Brücke verläuft die Wiener Südosttangente, wo selbst am Sonntag oft starker Verkehr herrscht. Sicherheitstechnisch ist das eine extrem problematische Route.

Am Sonntag passieren die Rapid-Fans dieser Brücke gegen 15 Uhr, Anpfiff für das Spiel ist um 17 Uhr. Fans berichten VICE unabhängig voneinander, dass der Verkehr auf der Tangente üblicherweise kurz angehalten wird, wenn der Fanmarsch vorbeizieht. Das dürfte diesmal nicht der Fall gewesen sein, wie auf diesem Bericht des ORF erkennbar ist.

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Laut der Wiener Polizei seien verschiedene Gegenstände auf die Fahrbahn geworfen worden, darunter "sowohl pyrotechnische Gegenstände als auch Getränkeflaschen und -dosen sowie Schneebälle". Polizeisprecher Harald Sörös sagt gegenüber VICE, dass erste Gegenstände auf die Tangente geworfen wurden, bevor diese kurzfristig gesperrt wurde. In einem Video, das die Polizei am Montagabend veröffentlicht hat, sind tatsächlich Gegenstände zu sehen, die auf die Fahrbahn geworfen werden. Mutmaßlich vor allem Schneebälle, was dennoch sehr gefährlich ist.

In sozialen Medien kursiert dann schnell auch das Gerücht, dass es durch diese Gegenstände zu einem Unfall gekommen sei. Polizeisprecher Sörös: "Von einem Unfall ist uns nichts bekannt, wir haben diesbezüglich auch nichts veröffentlicht."

Die Polizei lässt die Rapid-Fans erst noch weitergehen. Der Fanmarsch soll auf einem schlammigen und rutschigen Trampelpfad unmittelbar über der Tangente weitergeführt werden und so zum Auswärtssektor führen. Doch genau an dieser Stelle macht die Polizei kurz nach 15 Uhr vorne und hinten dicht. Die Fußballfans sind an der engsten Stelle der Route gekesselt.

Um 16:07 Uhr twittert die Polizei, dass Gegenstände auf die Fahrbahn geworfen worden seien, die Tatverdächtigen seien bereits teilweise ausgeforscht. Doch für viele Fußballfans beginnt um diese Zeit eine stundenlange Anhaltung bei Temperaturen unter Null Grad. Erst gegen 22 Uhr können die letzten Menschen den Kessel verlassen.

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Die Einzelstrategie der Polizei wirft dabei insgesamt – gelinde gesagt – Fragen auf. Wenn die Gefahr besteht, dass Fans Gegenstände auf die Autobahn werfen, ist ein Kessel direkt über der Autobahn vermutlich der am wenigsten intelligente Ort, wo diese Fans festgehalten werden sollten. Auch die Fahrbahn wurde nach kurzer Zeit wieder für den Verkehr geöffnet. Wenn also weiterhin die Gefahr von Wurfgegenständen bestanden hat, hätte die Polizei damit selbst Autofahrer und -fahrerinnen auf der Tangente in Gefahr gebracht.

Helmut Mitter von der Rechtshilfe Rapid kritisiert das Vorgehen der Polizei scharf: "Zuerst behauptet die Polizei ein Gefahrenmoment. Und dann hält sie dieses Gefahrenmoment selbst über sieben Stunden lang aufrecht? Das ist doch ein eklatanter Verstoß gegen das eigene Sicherheitskonzept."

In den bis zu sieben Stunden gibt es laut Darstellung der Fans keinerlei Versorgung der Eingekesselten. Fans erzählen VICE vor Ort und berichten in Fanforen, dass sie Zeugen geworden seien, wie Menschen zusammengebrochen wären. "Leute kippen der Reihe nach um. Die Polizei verweigert eine medizinische Versorgung. Es ist momentan keine Rettung vor Ort", twittert die Rechtshilfe Rapid um 19:47 Uhr. Die Polizei schreibt in einer Aussendung, dass Polizei-Sanitäter vor Ort gewesen seien. Diese hätten 22 Hilfeleistung durchführen müssen.

In einem Rapid-Fan-Forum schreibt User "Tyreec": "Meine Freundin liegt im Krankenhaus, ist unterkühlt zusammengeklappt. ACAB". Schließlich kommt endlich die Rettung, doch die wird laut Rechtshilfe Rapid von der Polizei weggeschickt. Auch andere Fans bestätigen diese Darstellung. Der SK Rapid berichtet, dass im Kessel auch "Kinder, Frauen und ein Mädchen, das aufgrund einer Diabetes-Erkrankung insulinpflichtig ist" gewesen wären. In der Aussendung von Montagabend behauptet die Polizei, dass "Frauen, Kinder sowie gebrechliche Personen" bevorzugt behandelt wurden.

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"Leute sind im Schlamm gekniet, weil sie nicht mehr stehen konnten."

Auch andere Fans erzählen, dass Kinder im Kessel waren. Rapid Fan "12ter Mann" postet etwa: "Bin mit meinem jüngsten Sohn, 13, nach 5 Stunden rausgekommen. Meine Frau mit meinen beiden älteren Kindern ist noch immer drinnen. Seit über 6 Stunden."

Laut Polizei seien drei Menschen von der Rettung abtransportiert worden. “Lediglich”, wie die Polizei in ihrer Aussendung schreibt. Die Rechtshilfe Rapid hingegen spricht von 17 Personen und verweist dabei auf die Volksanwaltschaft. Diese Einrichtung kümmert sich um die Rechte von Menschen im Umgang mit Behörden. Auf Anfrage möchte sich die Volksanwaltschaft noch nicht dazu äußern, die Berichte würden gerade ausgewertet.

Rapid-Fan Christof Specht war insgesamt sechs Stunden im Kessel, erzählt er. "Leute sind im Schlamm gekniet, weil sie nicht mehr stehen konnten. Männer und Frauen konnten nicht aufs Klo gehen, die Polizisten haben gesagt, dass sie halt an die Hausmauer pinkeln sollen. Es gab kein Essen, kein Wasser." Laut Polizei wäre die Feuerwehr um 19.45 Uhr angefordert worden, um warme Getränke zu verteilen - knapp fünf Stunden nach dem Beginn der Einkesselung. Vor Ort kann ich eine solche Verteilung nicht wahrnehmen.

Vor Ort erzählt ein Fan, das immer wieder Menschen auf dem abschüssigen Trampelpfad ausgerutscht seien, ein anderer bestätigt das. Zur Erinnerung: Neben dem Metallgeländer geht es bis zu zehn Meter in die Tiefe.

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"Eine Frau neben mir hat eine Panikattacke bekommen", sagt ein junger Mann empört, der den Kessel verlassen konnte. Rapid-Fan Christof Specht sagt, dass er die Polizei im Kessel auf diese Gefahren und die Gefahr einer Eskalation hingewiesen hätte.

Die lapidare Antwort eines Polizisten, so Specht: "Naja dann eskalierts halt. Das ist unser Job. Die, die Hiebe kassieren wollen, kassieren sie. Die Normaldenkenden sollten sich dann mittig orientieren." Specht erzählt, dass er zu einem Polizisten gesagt hätte, dass das unmenschlich sei. Die Antwort: "Die Menschlichkeit hat von eurer Seite in Hütteldorf aufgehört."

Angeblich seien laut dem Polizisten beim Treffpunkt der Rapid-Fans in Wien-Hütteldorf Böller geworfen und Pyro-Fackeln gezündet worden. In einer Aussendung schreibt das die Polizei ebenfalls. Der Polizist soll dann zu Specht gesagt haben: "Dann braucht man sich nur wundern, wenn so eine Situation passiert. Vielleicht lernt man dann draus."

Wenn das stimmt, wäre das ein Hinweis darauf, dass der Angriff der Polizei vorbereitet und geplant war. Helmut Mitter von der Rechtshilfe Rapid sieht dafür jedenfalls starke Anzeichen: "Ich habe bei den Polizisten keinerlei Hektik bemerkt, als sie den Kessel eingerichtet haben. Mein Eindruck ist, dass es sich um einen vorsätzlichen, vorbereiteten und geplanten Polizeieinsatz gehandelt hat."

In Fanforen kursieren Gerüchte, die Aktion sei eine Retourkutsche dafür, dass Fans beim EL-Spiel von Rapid gegen die Glasgow Rangers am Donnerstag die Zahlenkombination 1.312 zeigten – sie stehen für die Buchstabenkombi ACAB - All Cops Are Bastards..

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Ob das stimmt, ist natürlich nicht zu klären. Doch dass die Polizei am Sonntag sehr eskalativ vorgegangen ist, ist offensichtlich. Der Bewurf der Fahrbahn ist durch nichts zu entschuldigen. Doch wenn das Resultat eines Einsatzes gegen über 1.300 Menschen eine Anzeige und eine Festnahme sind, muss die Frage der Verhältnismäßigkeit gestellt werden.

Auch linke Fans der Austria haben sich unterdessen mit den Eingekesselten solidarisiert. Die Plattform "Ostkurve statt Ustkurve" schreibt in einem Statement: "Das Vorgehen der Polizei gegen die Rapid Fans ist komplett indiskutabel. (…) Das ist die Polizei unter Schwarz-Blau. Alle Fans, die diese Scheisse (sic!) gewählt haben, sollten dringend nachdenken. In den Farben getrennt, in der Sache vereint."

Die Austria-Fans kritisieren damit die gesamtgesellschaftliche Situation. Seit vielen Jahren sind Fußballfans Testobjekte für polizeiliche Repression und die Verschärfung von Polizei-Gesetzen. Das war bereits beim Mittelalter-Paragrafen Landfriedensbruch so. Mehr dazu könnt ihr hier lesen. Doch nun wirkt es, als würde das Vorgehen nochmals qualitativ verschärft.

Das sieht auch Helmut Mitter von der Rechtshilfe Rapid so: "Diese Maßnahmen sind neu für uns. Vor Schwarz-Blau hätte es das in dieser Form nicht gegeben." Zumindest ein Fan hat daraus bereits seine Konsequenzen gezogen. In einem Rapid-Forum zeigt er seine zerstörte FPÖ-Mitgliedschaft Karte und schreibt: "Werde heute noch meine Mitgliedschaft bei der FPÖ zurücklegen mit sofortiger Wirkung."

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