Meinung

Ausgerechnet ein Sarah Connor-Song zeigt, wie konservativ einige Format-Radiosender sind

Songs über queere Männer, die bei Frauen keinen hochbekommen, werden nicht gespielt.
Sarah Connors neue Single "Vincent" läuft nicht in jedem Radio
Sarah Connor || Foto: imago images | Reichwein

Welche Musik hören Kinder und Jugendliche in Deutschland? Wenn sie ältere Geschwister oder einen Internetzugang haben, dann vermutlich Deutschrap. Oder die Musik von YouTuberinnen und Youtubern. Oder beides. Dann geht es in den Songs um Sex, Drogen, die neueste Lieblingswaffe der Rapper und Gucci-Kleidung. Oder wie bei den Lochis um ihre Vorliebe für "Milfs”.

Wenig später stehen sie womöglich zusammen mit ihren Eltern in Fake-Gucci-Dress vor einer Mehrzweckhalle, um sich von Capital Bra auf seinem Konzert ein bisschen Sex-Talk vorrappen zu lassen. Sex, Sex, Sex. Dafür braucht es kein Radio. Durch Instagram, YouTube und TikTok haben junge Menschen Zugriff auf jegliche Musik, auch auf jene Songs, in denen Künstlerinnen und Künstler ihre Queerness und ihre Homosexualität thematisieren.

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In der Pop-Musik geht es um Sex und Liebe. Und zwar nicht nur um heterosexuelle Erfahrungen. Das ist normal. Seit Jahrzehnten schon. Und Kinder und Jugendliche lieben Pop-Musik. Auch wenn sie nicht alle subtilen Sex-Anspielungen auf Anhieb verstehen. Musik begleitet sie durch ihre Kindheit und ihre Pubertät, oft definiert sie einen wichtigen Teil ihrer Identität, sie gibt ihnen Kraft. Auch dann, wenn sie nicht der vermeintlichen Norm entsprechen, die sie in der Schule und in ihrem Umfeld vorgelebt bekommen.

In vielen Privatradiosendern allerdings geht es um die maximale "Normalität". Das bedeutet: Männer lieben Frauen, die von ihnen erobert werden wollen und mit denen sie dann glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende zusammen sind. Oder Männer beschreiben versaute Fantasien über Frauen. Oder Frauen himmeln irgendwelche Typen an. Hauptsache Mann und Frau. Hauptsache Hetero. Hauptsache irgendwie verklemmt und Hauptsache, ein in den 50er-Jahren stecken gebliebenes Frauenbild wird bedient. Hauptsache Musik von Max Giesinger, Mark Foster, Ed Sheeran und Co.

Ausgerechnet eine Songzeile von Sarah Connor stellt diese Normalität nun in Frage, eine Songzeile also von einer jener braven deutschen Popsängerinnen für die ganze Familie, vor denen sich Eltern in der Regel nicht fürchten müssen. In ihrem Song "Vincent" singt sie in der ersten Zeile: "Vincent kriegt keinen hoch, wenn er an Mädchen denkt". Connor sagt also auf eine sehr harmlose Art: Da will einer eher nichts von Mädchen, da ist sich einer noch unsicher mit seiner Sexualität, da steht einer eher auf Jungs. Und das ist OK. "Er denkt nur an ihn und an den Tag, als er ihn zum ersten Mal sah", singt sie und beschreibt dann weiter, dass Vincent viel lieber Beyoncé hört, als beim Ego-Shooter GTA rumzuballern.

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Obwohl gerade Pride Month ist, obwohl es seit 2017 die Ehe für alle gibt, ist diese harmlose Zeile für einige Radiosender scheinbar zu hart. Einige Sender wollen Sarah Connors Song nicht spielen, einige nur dann, wenn sie die erste Zeile ausblenden können. Was nicht der heteronormativen Friede-Freude-Eierkuchen-Scheinwelt entspricht, das wird nicht gespielt, so scheint es. Einer dieser Sender ist Antenne Bayern, die größte Privatradiostation in Deutschland mit rund 4,7 Millionen täglichen Hörerinnen und Hörern.

Gleichgeschlechtliche Paare gehören scheinbar nicht zur Zielgruppe

Auf die Frage, was sie denn an der Songzeile störe, antwortet die Programmdirektorin Ina Tenz der Süddeutschen Zeitung: "Als erwachsene Frau gar nichts, aber als Mutter. Ich habe einen neunjährigen Sohn, und wenn er diesen Song im Radio hören und mich dann fragen würde, was diese erste Zeile bedeutet, dann möchte ich mit meinem Sohn nicht im Auto irgendwo auf dem Weg von der Schule zum Gitarrenunterricht über dieses Thema sprechen." Sie wolle nicht zu einer Erklärung gezwungen werden, nur weil eine Sängerin meint, zu dieser Wortwahl greifen zu müssen, um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen.

Wenn ein Mann eine Frau in unzähligen Variationen verführt, dann gibt es keinen Klärungsbedarf, wenn ein Mann sich in einen anderen Mann verliebt, dann aber schon? Die Aussage von Ina Tenz und die Unterstellung, dass Connor damit nur Aufmerksamkeit erregen wolle, zeigt, wie konservativ bei vermeintlichen Familiensendern gedacht wird. "Wir wollen diese Textzeile in unserem Programm nicht senden, weil unsere Zielgruppe vor allem junge Erwachsene und Familien sind", sagt sie noch. Scheinbar soll ihr Sender nur Familien ansprechen, in denen Eltern und "junge Erwachsene" heterosexuell sind. Gleichgeschlechtliche Paare, die sich vielleicht gerade mit Connors Zeile identifizieren können, werden ausgegrenzt. Und auf die Idee, dass Vincents Gedanken für viele "junge Erwachsene" ganz normal sind, scheint sie auch nicht zu kommen.

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"Mama, was soll ich jetzt machen?/ Ich glaub', ich muss sterben – was, wenn mein Herz zerbricht?", singt Connor im weiteren Verlauf des Songs. Diese Zeile beschreibt Liebeskummer, klar. Aber sie nimmt bewusst oder unbewusst noch auf etwas anderes Bezug. Die Suizidrate von homosexuellen und bisexuellen Jugendlichen, die sich nicht outen, ist höher als bei heterosexuellen Gleichaltrigen, wie eine Studie zeigt. Einen Song wie "Vincent" nicht zu spielen, ist also vielleicht sogar gefährlich - weil "Vincent" und all jene, die sich in ihm wiederfinden, weiterhin ausgeschlossen werden.

Privatradios funktionieren folgendermaßen: Hörerinnen und Hörer sollen so lange wie möglich dran bleiben, um zwischendrin möglichst viel Werbung zu hören. So verdienen sie ihr Geld. Sogenannte Ausschaltimpulse sind unerwünscht. Darum gibt es regelmäßig Hörerinnenbefragungen und darum wird vor allem softer Dudelpop gespielt. So wie der von Sarah Connor.

Wenn für Sender wie Antenne Bayern selbst Sarah Connors harmloser Song "Vincent" ein Ausschaltimpuls ist, nur weil homosexuelle Erfahrungen besungen werden, ist das unfassbar traurig. Familien und "junge Erwachsene" sollten lieber gemeinsam ihre eigene Playlist mit ihren Lieblingssongs erstellen, in denen es auch um homosexuelle Erfahrungen gehen darf, als sich auf ein paar konservative Programmdirektorinnen zu verlassen, die sexuelle Vielfalt als geschäftsschädigend ansehen.

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