Popkultur

Bill Kaulitz ist die genderfluide Ikone, die alle sexuell verunsicherten Jungs brauchen

Als Tokio Hotel ihren Durchbruch feierten, regnete es Hass und Spott für Bill. 14 Jahre nach "Durch den Monsum" zelebriert der Sänger noch immer seine feminine Seite – und hilft Menschen wie mir, zu sich selbst zu finden.
Bill Kaulitz, über dessen Sexualität oftmals Vermutungen angestellt werden; ob er schwul ist
Background: Freepik || Bill: imago | Sven Simon

Die schwarz karierte Hose sitzt etwas zu eng, der Nagellack ist abgeplatzt, die dunkelbraun gefärbten Haare mit der lila Strähne wollen nicht so ganz zu den Rötungen in meinem von Akne geplagten Gesicht passen. Ich bin 13 Jahre alt, durchlaufe meine Emo-Phase, die so ziemlich jeder in der Pubertät einmal durchlaufen hat – und ich schäme mich. Ein bisschen dafür, wie ich aussehe. Aber mehr noch dafür, dass ich dafür gehänselt werde, wie ich aussehe. Von früh auf wurde mir vermittelt, dass es nicht okay sei, wie ich bin. Ich fühle mich hin- und hergerissen zwischen dem, der ich bin, und dem, den ich in den Augen der Gesellschaft darstellen soll.

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So ähnlich muss es Bill Kaulitz gegangen sein. Wir schreiben das Jahr 2005. Bill ist 15, als er mit seiner Band Tokio Hotel und dem Hit "Durch den Monsun" durchstartet. Die Fans kreischen vor Ekstase, die Gegner der Band schreien mindestens genauso laut. Bill polarisiert. Das liegt vor allem an seinem Look und seiner Attitude. Die langen schwarzen Haare hochtoupiert, die Augen schwarz umrandet, die Nägel schwarz lackiert, die Hosen hauteng. Einige sind sich nicht sicher, ob Bill nun Frau oder Mann ist. Oder beides. Sieht alles nach Yu-Gi-Oh! aus, nach Anime-Figur, denken viele. Und: Das muss Image sein, eine Strategie, die sich irgendeine schlaue Marketing-Person ausgedacht hat. Doch nicht für alle ist Bill Kaulitz eine Kuriosität. Für manche ist er der erste Mensch im deutschen Fernsehen, der so anders aussieht, wie sie sich fühlen – auch für mich.

Heute, 14 Jahre später, sitzt Bill bei Markus Lanz oder SternTV. Spießer-Formate, die deutscher nicht sein könnten. Alles wirkt seriös, die Moderatoren tragen Anzüge, die Gäste sind Intellektuelle, meist älter und ebenfalls in Anzug und Hemd gekleidet. Und dann ist da Bill. Die Haare blondiert, nicht mehr schwarz. Er trägt Overalls, High-Heels und massig Schmuck. "Ist mir scheiß egal, was ihr von mir erwartet", scheint er da sagen zu wollen. Vor allem sagt er aber eins: Bill Kaulitz ist ein echter Mensch, keine Kunstfigur. "Es war immer authentisch. Wir waren immer so, wie wir sein wollten", sagt Bill heute nonchalant. Keine Strategie, keine Marketingmasche. Einfach nur Bill, der sich ausprobiert und versucht zu sich selbst zu stehen. Heute ist er mehr mein Vorbild denn je. Eine genderfluide Ikone, die uns alle lehrt, wie Sexualität und Identität auch aussehen können, abseits der Heteronormativität.

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Bill Kaulitz sprengt die Norm, wie ein Mann in den Medien auszusehen hat

"Ich liebe Mode", unterstreicht Bill in gefühlt jedem zweiten Interview. Er drückt sich als Mensch und als Künstler über sein Erscheinungsbild aus. Und bricht dabei gerne mit der Norm, wie ein Mann in den Medien auszusehen hat. Als Tokio Hotel Ende April das erste Deutschlandkonzert ihrer "Melancholic Paradise"-Tour in Köln spielten, tanzte Bill im glitzernden Football-Kostüm und in High Heels über die Bühne. Auch auf roten Teppichen zeigt er sich so, wie es ihm gefällt: in Netzshirts, mit Perlen behangen, in Boots mit Killer-Absatz.


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Es geht aber nicht nur darum, was Bill trägt, auch in seinen Aussagen gibt er sich offener denn je. Während sein Zwillingsbruder Tom zu Hause mit Heidi Klum rumlungert, geht Bill in Berliner Clubs, inklusive Darkroom und queere Sexpartys. Orte, an denen Bill fast unerkannt bleiben kann. "Im Berghain ist es zum Glück dunkel", sagte er kürzlich in einem Interview. Tom erwiderte daraufhin ungewohnt offen: "Wenn du deine Latexmaske trägst und die Arschbacken hinten raus, dann erkennt man dich sowieso nicht."

Dass sie heute über solche Themen sprechen, könnte damit zusammenhängen, dass der Sänger in seiner vermeintlichen "Andersartigkeit" mittlerweile akzeptiert wird. Bill hat lange die gesellschaftliche Grenzen überschritten, bis er sie aufgehoben hat. Er provoziert mit seinen Looks. Er spielt mit sexuellen Identifikatoren und mischt sie. Bill Kaulitz macht sexuellen Facettenreichtum zum Statement. Damit kurbelt er seit Beginn seiner Karriere den öffentlichen Diskurs an und öffnet anderen Menschen die Tür zu sich selbst.

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Bill stand immer zu sich selbst und ebnete anderen damit den Weg zu sich selbst

Für mich drückt Bill Kaulitz eine Sehnsucht aus. Eine Sehnsucht, bedingungslos zu sich selbst zu stehen. Sich nicht darum zu scheren, was die anderen denken. Denn das ist seine Message: Steh zu dir selbst. Wenn ich das kann, kannst du das auch. Und einfach ist das nicht – auch nicht für Bill.

Zu Schulzeiten dachten Mitschüler, Bill wäre ein Mädchen. Die Jungs verliebten sich in ihn, bis sie herausfanden, dass er ein Junge ist. Begeistert waren die natürlich nicht. "Unser Vater musste uns mit dem Baseballschläger von der Schule abholen", sagte Bill in mehreren Interviews. Aber auch mit den Lehrern war es für Bill nicht einfach. "Ich hatte einen Sportlehrer, der mich nicht unterrichten wollte, weil ich ein weißes Sportoutfit hatte. Das war so ein alter Fascho, der mich rüber zu den Mädchen schicken wollte."

"Ich will, dass das kein Thema ist: Steht der jetzt auf Jungs, steht der auf Mädchen? Mit wem geht der jetzt ins Bett?" – Bill Kaulitz in einer arte-Doku

Doch trotz all der Gewalt, all den Problemen und den Drohungen, ist Bill nie eingeknickt. Weder als Kind noch als Erwachsener, ob in der ostdeutschen Provinz oder in Ländern wie Russland, in denen "homosexuelle Propaganda" unter Strafe steht. "Wenn ich jedesmal Angst hätte, wenn jemand eine Morddrohung ausspricht, dürfte ich nicht das Haus verlassen", sagt er bei Lanz. Seine Kindheit scheint ihn auf das vorbereitet zu haben, was dann kam – auch in diesem Punkt fühle ich mich dem Sänger sehr nah.

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Das Mobbing in der Schule, die ständigen Auseinandersetzungen, all das projiziere ich auf Bill Kaulitz. Als ich jung war, wurde es mir nicht leicht gemacht, ich selbst zu sein. Da waren mein Stil, mein feminines Benehmen, das den anderen Kindern aufstieß, die Britney-Spears-CDs in meinem Regal. In mir herrschte ein ständiger Kampf: auf der einen Seite der Teil von mir, der einfach nur ich selbst sein wollte. Auf der anderen Seite die Angst vor den negativen Konsequenzen und den Reaktionen der anderen. Bill zeigt mir heute, dass es von Vorteil ist, man selbst zu sein. Er wäre heute nicht dort, wo er ist, hätte er nicht bedingungslos zu sich selbst gestanden. Dabei gehörte ich anfangs selbst zu den Leuten, die ihn ablehnten.

Mit 13 fand ich Tokio Hotel scheiße. Ja, es gab die Seite in mir, die den jungen Bill interessant fand, zu ihm aufsah. Die Parallelen waren unabstreitbar. Dennoch dementierte ich sie. Wenn ich ihn ablehnte, konnte ich schließlich nicht sein wie er – oder? Vielleicht stammen die krassen Reaktionen gegenüber Bill zu Beginn seiner Karriere ganz allgemein aus der sexuellen Verwirrung unserer Gesellschaft. All den pubertierenden Jungs stieß Bills Aussehen auf, weil dieser 15-Jährige im Gegensatz zu ihnen schon ganz genau wusste, wer er ist. Wer wirklich in sich gefestigt ist, der lässt sich nicht durch eine andere Person verunsichern. Und reagiert schon gar nicht mit Hass oder Anfeindungen.

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Bill rechtfertigt sich nie, er macht einfach

Wenn sie alle schreien, er sei schwul, dann färbt sich Bill die Haare pink, wirft sich die Perlenketten um den Hals und schweigt. Egal was er tut, Bill rechtfertigt nie. Jahrelang hat er auf seinen Style beharrt und all die Kritik ertragen. Das auszuhalten, gerade in jungen Jahren, zeugt von persönlicher Stärke. Ob man Tokio Hotels Musik gut oder schlecht findet, ist sekundär. Wichtiger ist nämlich, wofür diese Künstler stehen: für Identität, für Selbstliebe, für Diversität, für den Mut, zu sich selbst zu stehen.

Denn dass sich niemand mehr über Bill Kaulitz und sein Styling lustig macht, dass es keinen mehr juckt, deute ich nicht dahingehend, dass er belanglos geworden ist. Nein, ich glaube, er wird akzeptiert. Und weiß, dass er niemandem Rechenschaft schuldig ist – weder zu seinen Outfits noch zu seiner Sexualität. "Ich will, dass das kein Thema ist: Steht der jetzt auf Jungs, steht der auf Mädchen? Mit wem geht der jetzt ins Bett?", sagt er in der arte-Doku Hinter die Welt. Und wie recht er damit hat: Die Sexualität ist eines jeden persönliches Recht. Mag er sich nicht klar positionieren, kann ihn keiner dazu zwingen.

Wenn ich mir Bill heute anschaue, die Medienberichte mit Schlagzeilen wie "Ist Bill Kaulitz schwul? Die ganze Wahrheit!" lese, werde ich nachdenklich. Da ist dieser deutsche Künstler, der sich selbst treu bleibt. Kann ich das auch? Wer bin ich wirklich? Was möchte ich ausdrücken? Heute weiß ich: Du musst dich gar nicht entscheiden. Du bist in deinem Facettenreichtum genau richtig. Geht die anderen auch gar nichts an. Sag lieber nichts, lass sie sich wundern. Lebe im Moment. Zieh die vermeintlich feminine Bluse an und geh’ darin Frauen aufreißen – was soll’s! Wenn Bill machen kann, was er will, dann kannst du das auch.

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