Shugaa Nashwan in weißer Trainingsjacke mit deutschen Adler auf der Brust
Foto: Sabine Panossian
Rassismus

Dieser Blinde wurde im Zug von einem Nazi angepöbelt – und vertrieb ihn

"Ich wollte ihm die Möglichkeit geben, mich kennenzulernen", sagt Shugaa Nashwan. "Aber ihn interessierte nur der blinde Ausländer."

Stell dir vor, du wirst von jemandem bedroht und möchtest einfach nur fliehen. Für Shugaa Nashwan war das im Sommer vor drei Jahren keine Option. Er ist blind und saß in einem fahrenden Zug – eingequetscht neben einem älteren Mann, der ungeniert rechtes Zeug redete. Für den 21-Jährigen gab es nur eine Option: die Konfrontation suchen.

Shugaa sagt, er sei "annähernd blind", er könne noch Umrisse, Kontraste und Farben erkennen aber durch seine Augenerkrankung werde seine Sehkraft immer geringer. Seitdem er fünf Jahre alt ist, wird die Netzhauterkrankung schlimmer. "Manche hätten Angst, bald gar nichts mehr sehen zu können. Aber ich habe mal besser gesehen und besitze dadurch eine gute Vorstellungskraft, um Bilder in meinem Kopf zu ergänzen", sagt er.

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Obwohl er Sport liebt, konnte er nicht jeder seiner Sportarten treu bleiben. Judo konnte Shugaa aber mit seiner Sehbehinderung uneingeschränkt weitermachen und es ist seine größte Leidenschaft geworden. Er ist Teil des deutschen paralympischen Judo-Teams, gewann Bronze bei den Europameisterschaften und arbeitet auf Tokio 2020 hin. Nebenbei studiert er über eine Fern-Uni Psychologie. "Mich interessiert die Nähe zu Menschen, ich möchte sie verstehen", sagt er und erzählt, dass sein Name aus dem Arabischen übersetzt "Mut" bedeute. Den brauche er immer wieder, nicht nur im Umgang mit seiner Behinderung, sondern auch, wenn er mit Rassismus zu tun habe.

VICE: Du hattest vor drei Jahren eine Begegnung mit einem Rechten im Zug. Was ist da passiert?
Shugaa: Ich kam an einem frühen Freitagabend von einer Sportveranstaltung und wollte von Frankfurt nach Marburg fahren. Ich saß am Fenster eines Zweierplatzes, hatte mein fettes Deutschbuch in Punktschrift fürs Abi dabei und wollte lernen. Der Zug wurde immer voller.

Dann kam jemand, den ich schon von weiter weg riechen konnte, weil er eine Alkoholfahne hatte. Seine Silhouette erschien recht korpulent und er fragte nicht, ob der Sitz frei sei, sondern ließ sich einfach neben mich fallen. Ich fühlte mich kurz etwas eingeengt zwischen ihm, meinem Gepäck und der Wand. Er stellte eine Bierdose unter dem Sitz ab und ging wieder. Dann kam jemand anderes und fragte in brüchigem Deutsch, ob er sich neben mich setzen dürfte. Ich hatte keine Ahnung ob der erste Mann auf dem Klo war oder einen anderen Sitzplatz suchen wollte, deshalb sagte ich Ja. Aber der erste Kerl kam zurück und sagte wütend: "Das ist ja wieder kackendreist, wie uns die Ausländer die Plätze wegnehmen."

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Wie hast du darauf reagiert?
Mein erster Gedanke war: What the fuck? Ich wollte ihm erklären, dass ich den Platz neu angeboten hatte, weil er weg war und ich ihn nicht sehen konnte. Aber mein neu gewonnener Sitzpartner ist sofort aufgestanden und abgehauen. Und der Kerl fläzte sich wieder neben mich. Ich fühlte mich ihm ausgeliefert. Selbst wenn ich wollte, hätte ich nicht weggekonnt. Aber ich wollte cool bleiben, ich habe ihn ja nicht gesehen, sondern nur gerochen und seine Stimme gehört. Ich schätze, er dürfte über 40 Jahre alt gewesen sein. Ich nahm mir meine Lektüre und wollte ihn einfach ausblenden.

Er fragte mich irgendwann aus dem Nichts: "Wo kommst du her?!" Ich habe kurz mit dem Gedanken gespielt, ihm nicht zu antworten. Aber er hat das Gespräch gesucht und ich wollte gucken, wohin das führt. Mir war klar, dass er auf meine Hautfarbe anspielt, aber ich habe einfach geantwortet: "Ich komme gerade vom hessischen Landtag und hatte dort eine Sportveranstaltung." Das war nicht die Antwort, die er erwartet hatte.


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Wie sehr nervt dich die "Woher kommst du"-Frage?
Es hat sich viel geändert hier in Deutschland. Früher war man der Exot und hatte eine Facette mehr, die Leute interessiert hat. Heute ist die Hautfarbe das Einzige, auf das man reduziert wird. Und bei mir zusätzlich noch die Sehbehinderung. Ich denke mir dann oft: Ja, ich bin Ausländer und blind, besteht trotzdem noch Interesse mich darüber hinaus kennenzulernen?

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Wie ging es mit dem Kerl weiter?
Ich fing wieder an mit den Fingern zu lesen und fühlte mich beobachtet. Prompt folgte auch die nächste Frage: "Du bist blind?!" Und ich antwortete: "Ja, sehr fein beobachtet, ich bin blind." Stille. Ich hatte ihm echt die Möglichkeit gegeben mich auf einer anderen Ebene kennenzulernen, entweder über meinen Sport oder über das Buch. Aber ihn interessierte nur der blinde Ausländer.

Machte dich das wütend?
Ich wollte einen Zugang zu ihm finden. Ich fragte, ob er zur Arbeit fahren würde. Er sagte, er habe seinen Job verloren, aber da seien die Ausländer dran Schuld. Ich fragte, welche Ausländer? Er sagte: "Die Ausländer, an die alle Gelder gehen. Da bleibt nichts für mich übrig." Da dachte ich, das ist eigentlich ein bemitleidenswerter Typ. Ich wollte ihn ernst nehmen, aber auch nicht zulassen, dass er mit seinen fremdenfeindlichen Äußerungen andere Menschen degradiert. Oder sie für sein eigenes Scheitern oder das der Politik verantwortlich macht.

Er sagte, ich sei bewundernswert, auch im Umgang mit meiner Behinderung und erschiene ihm intelligent und feinfühlig. "Du bist aber eine Ausnahme", fügte er hinzu.

Er ließ sich nicht bekehren, oder?
Nein, er ließ sich weiter über Ausländer aus und beleidigte Flüchtlinge, für die es ja nur eine riesen Party sei, mit dem Boot herzukommen … Das hat mich getroffen, denn letztlich ist meine Familie geflohen, weil in unserem Heimatland im Jemen Krieg herrscht. Ich war schon vorher in Deutschland. Trotzdem konnte ich ein bisschen Verständnis für ihn aufbringen. Als Sportler weiß ich, dass Erfolg wichtig ist und uns leider zu sehr definiert. Ich konnte mir vorstellen, dass er sich als Verlierer in unserer Leistungsgesellschaft fühlt. Aber immer wieder kam er mit diesem "Ausländer raus"-Gerede. Und irgendwann konnte ich mich auch nicht mehr ganz benehmen.

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Was hast du gemacht?
Ich habe ihn direkt gefragt, ob er es sittlicher findet, alkoholtrinkend und pöbelnd in der Bahn zu sitzen und mich körperlich und verbal einzuengen. Und hey, er hat sich auf einmal echt schlecht gefühlt und ist ins Stammeln gekommen. Leider ist er aber durch dieses leicht hilflose Stammeln immer wütender geworden.

Es hat sich bis dahin ja niemand eingemischt. Hast du dein Umfeld überhaupt wahrnehmen können oder Hilfe gesucht?
Nein, ich habe alles um mich herum ausgeblendet und mich nur auf diesen Kerl konzentriert. Ich hatte das Gefühl, der Typ hat irgendeine Sympathie zu mir aufgebaut. Und wenn er nur froh war, dass sich jemand mit ihm unterhält und ihm zuhört. Ich fragte ihn, ob ich auch nur einer dieser Ausländer sei, ein Schmarotzer, der ihm alles wegnimmt. Es war krass anrührend, wie er das direkt verneinte. Ich sei bewundernswert, auch im Umgang mit meiner Behinderung und erschiene ihm intelligent und feinfühlig.

"Du bist aber eine Ausnahme", fügte er hinzu. Ich fragte, ob ich nur deshalb eine Ausnahme sei, weil ich vielleicht der erste Ausländer bin, mit dem er wirklich geredet habe. Der Typ stammelte, er wolle halt nichts mit Ausländern zu tun haben. Ich sagte ihm: "Dadurch entgeht dir so vieles. Ich hoffe, dass unser Gespräch für dich eine wertvolle Begegnung ist, und du daraus was lernst." Ich wollte ihn nicht belehren, ich habe für mich ja auch was daraus gelernt, aber ich habe gespürt, dass er wieder wütend wurde. Er hat geschrieen, er würde sich keinem System beugen und man dürfe endlich seine Meinung sagen und "Jetzt wird Deutschland wieder stark!" bis mein Vordermann aufstand.

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Warst du froh darüber, dass endlich jemand dazwischen geht?
Ja, etwas schon. Ich hatte die ganze Zeit nur diesen Berg von einem Mann neben mir, der offenbar alkoholisiert war und mehr als launisch. Mein Vordermann stand auf und sagte: "Entschuldigen Sie, ihre fremdenfeindlichen Parolen möchte hier keiner hören." Es eskalierte. Mein Sitznachbar beleidigte ihn als als Hosenscheißer, den es als erstes erwischen würde, als grün-versifften Gutmenschen. Ich dachte mir nur: Scheiße …

Plötzlich bemerkte ich andere Leute und wusste: Wow, die waren die ganze Zeit da, aber haben nichts gesagt und mich alleine gelassen. Das war ein seltsames Gefühl.

Hattest du Angst, dass er handgreiflich wird?
Nein, er war zwar größer als ich, aber ich war mental stärker. Ich startete noch einen Deeskalations-Versuch und sagte ihm, dass seine permanenten rassistischen und beleidigenden Äußerungen echt schwer zu ertragen gewesen seien, ich seine andere Meinung zwar respektiere, er aber gerade zu weit gehe. Dann schaltete sich eine Frau ein. Er beleidigte sie als "blöde Fotze". Ich schämte mich und wurde gleichzeitig auch sauer. Immer mehr Leute standen auf und sagten ihm, dass er nicht glauben soll, er sei die Stimme Deutschlands. Es endete darin, dass er Leute wegschubste und einen Halt früher als geplant aus dem Zug floh.

Wolltest du den Typen nicht auch anschreien?
Ich hatte eine schwierige emotionale Lage. Klar, hat mich das alles persönlich schwer erschüttert, was er gesagt hat, aber ich habe versucht mich nicht betroffen zu zeigen. Während unserer Gesprächs war komplette Stille im Abteil und ich war der Einzige, der gegen diesen rechten Typen angeredet hat. Und plötzlich bemerkte ich andere Leute und wusste: Wow, die waren die ganze Zeit da, aber haben nichts gesagt und mich alleine gelassen. Das war ein seltsames Gefühl. Ich hatte eine Art Déjà-vu.

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Das heißt, du hattest schonmal so einen Moment der Hilflosigkeit in einem Zug?
Züge sind echt schrecklich, weil man eingesperrt ist. Damals war ich auf der Rückfahrt aus Venedig mit meinem Schulkurs unterwegs. Ich schlief und plötzlich standen drei uniformierte Männer vor mir. Es waren die Grenz-Kontrolleure, die nur meinen Ausweis sehen wollten. Ich meinte im Halbschlaf, sie können zuerst die Papiere von den anderen anschauen, ich bin gerade erst wach geworden. Sie wurden energischer. Ich habe mich auf meine Hautfarbe reduziert gefühlt. Ich war bereits den Tränen nahe und fühlte mich alleine. Als die Beamten dann gingen, hat sich das ganze Abteil aufgeregt, ich hätte die Arbeit der Kontrolleure behindert und eine meiner Lehrerin sagte mir, dass man so was nicht macht. Ich fing an zu weinen, weil es niemanden gejuckt hatte, mit wie wenig Respekt ich behandelt worden war. Die andere Lehrerin kam mir hinterher, entschuldigte sich und reichte mir ein Taschentuch.

Was hat dich am meisten verletzt?
Sich alleine gelassen zu fühlen, ist das Schlimmste. Ich bin Leistungssportler, der dieses Land international vertritt. Ich kämpfe für Deutschland mit dem Adler auf der Brust und habe einen starken Rückhalt. Aber in solchen Momenten ist plötzlich niemand mehr da. Wie geht es Leuten, die in ihrem privaten Umfeld keinen Rückhalt haben? Die nicht so mutig den Mund aufmachen? Die denken, sie seien schlecht, weil sie nicht der "Norm" entsprechen? Ich entspreche wirklich gar nicht der Norm mit meinem Migrationshintergrund, dem Leistungssport und meiner Behinderung. Aber ich trage trotzdem einen starken Optimismus in mir, dass wir noch viel verbessern müssen, aber deshalb nicht alles schlecht ist.

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Ich kämpfe für Deutschland mit dem Adler auf der Brust und habe einen starken Rückhalt. Aber in solchen Momenten ist plötzlich niemand mehr da. Wie geht es Leuten, die in ihrem privaten Umfeld keinen Rückhalt haben?

Hast du auch die Leute vor drei Jahren spüren lassen, dass du dich allein gefühlt hast?
Nicht bewusst. Als der Typ endlich weg war, versammelte sich das Abteil um mich. Einige entschuldigten sich, dass sie nicht früher eingegriffen hatten. Andere wollten meine Nummer haben, vor allem Jüngere und Studierende, die sich mehr engagieren wollten. Einer sagte, es sei nicht mehr die Zeit, nur stillschweigend zuzuschauen. Diese Gespräche danach fand ich so schön.

Was nimmst du aus diesem Vorfall mit?
Dadurch, dass ich nichts sehe, kann ich nicht sagen: Der sieht aber unsympathisch aus, den spreche ich nicht an. Das lässt mich vorurteilsfreier leben und ich glaube, wenn die Leute ihre Augen schließen würden, wenn sie nicht mehr nur aus der Ferne beurteilen könnten, sondern Nähe aufbauen müssten, dann würde ihnen auffallen, dass es mehr Wärme in Menschen gibt, als wir oft denken.

Dieser Beitrag ist aus dem Projekt 100percentme entstanden – Schluss mit Vorurteilen über Behinderungen. Ein Angebot von funk, produziert von VICE.

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