Wir haben einen Kriminologen gefragt, warum Leute ständig Fremde in U-Bahnhöfen die Treppe hinunterstoßen
Foto: imago | Olaf Wagner

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Interview

Wir haben einen Kriminologen gefragt, warum Leute ständig Fremde in U-Bahnhöfen die Treppe hinunterstoßen

"Sehen wir die Bilder der Kameras, denken wir: Das könnte mir auch passiert sein. Ohne Bilder würde es uns viel weniger interessieren."

Swetoslav S. hatte Bier, Wodka, Marihuana und Crystal Meth intus, als er eine junge Frau eine Treppe in einem Berliner U-Bahnhof hinuntertrat – zumindest behauptete er das vor Gericht. Er sagte, er könne sich an die Tat nicht mehr erinnern. Und sein Opfer sagte, es habe monatelang an nichts anderes mehr denken können. Vergangene Woche wurde er zu fast drei Jahren Haft verurteilt. Diese Woche nun veröffentlichte die Polizei Bilder von zwei weiteren ganz ähnlichen Taten: Die eine passierte am 27. Januar, die die andere am 11. Juni. Einen Verdächtigen für die letzte Tat nahm die Polizei gestern fest. Warum kommt diese Art der Gewalt in letzter Zeit so häufig vor? Warum stoßen, schubsen, treten Menschen Fremde in U-Bahnhöfen die Treppe hinunter? Wir haben einen gefragt, der sich auskennt: Martin Rettenberger, Direktor der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden, Psychologe und Kriminologe.

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Kriminologe Martin Rettenberger | Foto: Unipresse JGU Mainz

VICE: Es wirkt gerade, als würde zurzeit jeden zweiten Tag ein Gewalttäter einen Menschen in der U-Bahn die Treppe hinunterstoßen. Ist das tatsächlich so?
Martin Rettenberger: Es gibt keine Statistik dafür, wie oft Menschen in den U-Bahn-Höfen getreten werden. So wie der Stand jetzt ist, kann man aber sagen, dass es Einzelfälle sind. Und insgesamt gehen die Zahlen für gefährliche und schwere Körperverletzung in Deutschland sogar eher zurück.

Warum kommt es uns dann trotzdem anders vor ?
Heute gibt es im Gegensatz zu früher Bilder von den Taten, den Tatorten. Und deshalb empfinden wir Nähe. Viele Menschen kennen die Treppen dieser U-Bahn-Stationen. Durch die Bilder der Kameras identifizieren wir uns schneller, denken: Das könnte mir auch passiert sein. Wenn es diese Bilder nicht gäbe, würde es uns viel weniger interessieren. Ich meine das gar nicht negativ. Nur, wenn jemand jetzt in Wahlkampfzeiten gleich Maßnahmen fordert, ist das nicht seriös.

Sie meinen zum Beispiel mehr Kameraüberwachung?
Ja. Kameras bringen sicher etwas bei der Strafverfolgung. Da gibt es gar keinen Zweifel. Sonst wären die Täter bestimmt nicht so schnell gefasst worden. Aber dass man jetzt denkt, nur weil da eine Kamera hängt, tut einer so etwas nicht, ist falsch. Das waren spontane Taten von wohl psychisch kranken Menschen. Die lassen sich von einer Kamera nicht abhalten.


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Was geht in jemanden vor, der einen Fremden ohne Grund die Treppe hinunterstößt?
Solche Straftaten sind so schwierig zu verstehen, weil es nichts zu verstehen gibt. Bei einem Bankraub kann man das Motiv nachvollziehen: Ein Mensch braucht Geld. Aber wenn keine Täter-Opfer-Beziehung da ist, gibt es meistens nur eine Erklärung: Der Täter hat eine schwerwiegende Störung der Impulskontrolle.

Eine was?
Die meisten Menschen werden manchmal sauer oder aggressiv. Aber sie können sich kontrollieren und greifen nicht gleich auf körperliche Gewalt zurück. Bei einer Psychose oder Ähnlichem kann die Kontrolle dieser Impulse gestört sein. Das kann sich verschärfen, wenn Alkohol oder Drogen dazukommen.

Kann es sein, dass die letzten Täter von den Bildern der Überwachungskamera, die die Polizei veröffentlicht hat, animiert wurden?
Natürlich gibt es so ein Phänomen. Besonders bei Fällen, die sehr viel Aufmerksamkeit erregt haben. Und dieses Merkmal wäre ja hier erfüllt. Ich glaube aber trotzdem nicht, dass es Nachahmungstäter waren. Taten, die kopiert werden, gelten in einer bestimmten Gruppe als heldenhaft. Die Täter werden zum Beispiel in Internetforen dafür gelobt. Das war hier nicht der Fall. Der Täter hat sich vor Gericht ja regelrecht geschämt.

Und warum ausgerechnet Tatort U-Bahn-Hof?
Ich glaube nicht, dass sich die Täter diesen Ort "ausgesucht" haben. Sie hätten genauso gut in einer Gasse jemanden ins Gesicht schlagen oder auf einem Platz jemanden treten können. Das war ein zufällig gewählter Ort. U-Bahn-Höfe ziehen einfach ganz viele unterschiedliche Menschen an. In Berliner fuhren 2016 eine Milliarde Menschen mit der U-Bahn. Das ist nun kein Grund, Angst zu haben, aber eine gewisse Vorsicht braucht man dort eben schon.

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