Screenshot: Polizei Berlin
Überraschung am letzten offiziellen Prozesstag in der Verhandlung gegen den 28-jährigen Swetoslav S., der im vergangenen Herbst in Berlin eine Frau in den Rücken und eine U-Bahn-Treppe hinuntergetreten hat.Im Landgericht Berlin kamen keine Zeugen mehr zu Wort, dafür ein Gerichtsgutachter. Und der attestierte dem Angeklagten eine "verminderte Steuerungsfähigkeit".Das Gericht hatte zunächst gegen den Antrag der Verteidigung entschieden, Medien zur Vorstellung des Gutachtens zuzulassen. Der zuständige Arzt Alexander Böhler berichtete deshalb öffentlich vom körperlichen und seelischen Zustand des Angeklagten.Er sagte, er habe sich die bulgarischen Krankenakten des Angeklagten angeschaut und ihn in einem deutschen Krankenhaus untersuchen lassen. Besonders interessiert hätten den Gutachter die Auswirkungen eines Unfalls aus dem Jahr 2009. Der Angeklagte S. war damals mit Freunden im Auto unterwegs. Sie hatten getrunken, auch der Fahrer. Sie kamen von der Straße ab. S. konnte sich aus dem Wrack retten, leidet seitdem aber an Gedächtnislücken. Er ist verwirrt und trinkt regelmäßig. Böhler diagnostizierte mittels eines CT-Scans beim Angeklagten ein Frontalhirnsyndrom.Das Syndrom beeinträchtige die geistige Leistung des Angeklagten, sein IQ liege bei lediglich 67. Laut Internationaler Krankheits-Klassifizierung gilt das als leichte geistige Behinderung, bei der Betroffene "als Erwachsene ein Intelligenzalter von 9 bis unter 12 Jahren" erreichen. Gedächtnis und Aufmerksamkeit seien geschädigt. Dies könne zu sogenannten "Durchbrüchen" führen, sagte der Gutachter. In solchen emotionalen Momenten raste S. aus. Triggern könnten das aufputschende Drogen. In der Tatnacht hatte S. Kokain und Crystal Meth konsumiert."Der Angeklagte leidet an Affektinkontinenz", fasste Böhler zusammen. "Gefühlsdurchfall." Anders als die meisten Menschen überlege er nicht, bevor er Gefühle in Handlungen umsetze. Das heißt, ihm fehlt der Kontrollmechanismus, der einen beispielsweise davon abhält, den nervigen Drängler im Straßenverkehr tatsächlich zu verprügeln.Böhler führte außerdem in mehreren Sitzungen und über insgesamt zehn Stunden Gespräche mit S. Darin verhielt sich der Angeklagte weich, in sich gekehrt, fast devot – nie aber laut oder aufbrausend. Der Gutachter beschrieb ihn weiterhin als kindlich, abwesend und schreckhaft. S. heulte viel, äußerte Schuldgefühle und hielt sogar die Hand von Böhler.Der Gutachter kommt dadurch zum Schluss: Das Frontalhirnsyndrom zusammen mit den in der Tatnacht konsumierten aufputschenden Drogen hätten zu einer "verminderten Steuerfähigkeit" geführt.Inwiefern sich das auf das Urteil auswirkt, ist noch unklar. Derzeit verlesen Anklage und Verteidigung die Plädoyers, das Urteil soll im Laufe des Nachmittags verkündet werden.Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.
Anzeige
Anzeige