10 Fragen an eine Freitodbegleiterin, die du dich niemals trauen würdest zu stellen

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10 Fragen an eine Freitodbegleiterin, die du dich niemals trauen würdest zu stellen

"Das ist eigentlich immer ein sehr schöner Moment. Es gibt nie Hektik, manchmal ist es sogar feierlich."

Alle Fotos von Mina Monsef. Vor 35 Jahren wurde in der Schweiz der Verein EXIT gegründet, dessen Leitspruch "Selbstbestimmt im Leben und Sterben" lautet. Der Gründung war ein gesellschaftlicher Dialog über die Legitimität von Sterbehilfe vorausgegangen. Als erste Bemühung führte der Verein die Patientenverfügung in der Schweiz ein. Danach widmete sich EXIT unter anderen den Zielen, für die der Verein heute bekannt ist: das Selbstbestimmungsrecht des Menschen zu unterstützen und die Sterbehilfe für Schwerkranke legal zu machen. 1984 nahm EXIT die Freitodbegleitung auf und zählt heute über 100.000 Mitglieder in der Deutschschweiz und im Tessin. EXIT betreut nur Schweizer BürgerInnen und Personen mit Wohnsitz in der Schweiz. Andere Freitodorganisationen wie Dignitas nehmen auch Mitglieder im Ausland auf.

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Mittlerweile findet die Freitodbegleitung und das selbstbestimmte Sterben vor allem für alte Menschen breite Unterstützung in der Schweiz. Trotzdem kommt es immer wieder zu einer Auseinandersetzung mit dem Thema. Zuletzt wurde besprochen, wie und ob Menschen, die sich für den Freitod entscheiden auch Organspender sein könnten.

Beatrice Brändle arbeitet als Freitodbegleiterin für EXIT und unterstützt Menschen, die bereit sind zu sterben. Sie setzt sich schon seit langem mit dem Thema auseinander und engagiert sich seit zwei Jahren aktiv für EXIT.

VICE: Warum möchten Sie Menschen beim Sterben helfen?
Beatrice Brändle: Die Frage, was passiert, wenn man wirklich unheilbar krank ist, unerträgliche Schmerzen erleidet, alle medizinischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind und Abhängigkeit und Ausgeliefertsein droht, hat mich immer umgetrieben. Ich verfolgte diese Debatte schon als ich in meinen Zwanzigern war. Ich bin 1990 dem Exit beigetreten, weil ich das auch als Option für mich sehe. Ein grösseres Engagement hatte ich für meine Pensionierung ins Auge gefasste. Konkret wurde es dann, als meine Mutter 95-jährig sagte, sie wolle zu Exit gehen und sie erwarte von mir, dass ich ihr helfen würde. Es wurde eine gute Erfahrung. Ich war gerade pensioniert und der Moment war da, in dem ich bereit war diese Arbeit anzufangen. Das war vor zwei Jahren.

Haben Sie schon Sterbewillige begleitet, deren Wunsch zu sterben Sie nicht verstehen konnten?
Nein, das gab es nicht und das könnte ich auch nicht. Es muss für mich schon nachvollziehbar sein. Die wichtigste gesetzliche Voraussetzung für eine Freitodbegleitung ist die Urteilsfähigkeit. Zudem muss der Sterbewunsch autonom, wohlerwogen und konstant sein – damit wird sichergestellt, dass der Sterbewunsch gründlich durchdacht und nicht das Resultat einer momentanen depressiven Verstimmung oder Krise ist. Ausserdem muss die sterbewillige Person in der Lage sein, die letzte Handlung – also das Einnehmen des Sterbemittels oder das Öffnen des Infusionshahns – selbst vorzunehmen. Schliesslich muss ein hausärztliches Zeugnis vorliegen. Diese Voraussetzungen werden auf der Geschäftsstelle von EXIT geprüft, bevor ein Freitodbegleiter oder einer Freitodbegleiterin mit einer sterbewilligen Person Kontakt aufnehmen darf. In einer ersten Begegnung klären wir dann im Gespräch alle gegenseitigen Fragen und besprechen Alternativen zum Freitod. Erst dann wird klar, ob sich jemand tatsächlich für den Freitod entscheidet oder nicht.

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Haben Sie Angst vor dem Tod?
Ich würde mich gerne von meiner Familie verabschieden können. Ich hätte Angst vor unerträglichen Schmerzen, aber nicht vor dem Tod selbst.

Haben die Menschen, denen Sie beim Suizid helfen, Angst vor dem Tod?
Erstaunlicherweise nicht. Ich habe es persönlich noch nie erlebt. Ich frage die Leute auch immer, ob sie Angst davor haben was kommt. Bei Menschen, die sich mit dem Freitodwunsch auseinandergesetzt und dafür entschieden haben, konnte ich in meinen bisherigen Erfahrungen nur eine Zuversicht auf Erlösung feststellen.

Während Familie und Freunde die letzten Minuten mit den Sterbenden verbringen, warten Sie mit ihnen. An was denken Sie in dieser Zeit?
Wir sitzen zusammen und reden über die Themen, die diese Person noch beschäftigen. Ich rede dabei so wenig wie möglich. Wir reden noch einmal über das Leben der Person. Ich greife auf, was er oder sie sagt und frage nach: Was haben Sie da erlebt? Das ist eigentlich immer ein sehr schöner Moment. Es gibt nie Hektik, manchmal ist es sogar feierlich. Manchmal möchten sich die Familienmitglieder noch einmal bedanken, oder die Person, die sterben wird, bedankt sich bei ihrer Familie. Ich bleibe immer im Zimmer, ich muss präsent sein. Ich muss mit meinem ganzen Wesen präsent sein. Ich bin völlig auf diese Person und auch auf die Angehörigen fokussiert. Ich denke nicht viel. Manche Menschen wünschen sich ein Ritual, wie noch einmal bestimmte Musik zu hören. Ein besonders berührender Moment war für mich, als eine Mutter noch einmal mit ihren Kindern das Vaterunser beten wollte. Da habe ich dann den Raum verlassen. Es war schön zu sehen, wie das die Familie ein letztes Mal vereint hat.

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Fühlen Sie sich in Ihrer Position manchmal mächtig?
Nein, niemals. Es sind immer Begegnungen auf Augenhöhe und ich habe grossen Respekt vor Menschen, die nach reiflicher Überlegung, den Freitod wählen.

Was halten Sie von Familien, die ihre Angehörigen nicht bei Exit oder Dignitas sterben lassen, obwohl diese das wollen?
Auch für diese Leute habe ich Verständnis. In solchen Fällen versuchen wir den Prozess in Gang zu bekommen. Die Angehörigen müssen die Entscheidung nicht akzeptieren, aber sie sollten sie respektieren. Der Mensch, der gehen möchte muss selbst bestimmen dürfen. Ein mögliches Argument, das Familienmitglieder einbringen könnten, ist zum Beispiel das Infragestellen der Urteilsfähigkeit. Es gibt auch Menschen, die katholisch aufgewachsen sind und deren Denken vom Glauben geprägt ist. Diese suchen manchmal das Gespräch mit ihrem Pfarrer und hoffen, dass er ihre Entscheidung nicht verurteilt. Dazu kann ich nur ermutigen, um diesen Frieden zu finden.

Wie würden Sie selbst gerne sterben?
Darüber mache ich mir keine ernsthaften Gedanken, weil ich bei bester Gesundheit noch voll im Leben stehe.

Wie können Sie jemanden auf den Tod vorbereiten, wenn Sie selbst noch nie diese Erfahrung gemacht haben?
Man muss nicht alles selbst erlebt haben, um sich in jemanden hineinversetzen zu können. Im Gespräch setzt man sich tiefgehend mit der anderen Person auseinander. Die Menschen schauen zurück auf ihr Leben und geben eine Art Zusammenfassung davon. Da bekomme ich Verständnis dafür, dass jemand sagt: Mein Leben ist jetzt zu Ende, ich möchte diese Schmerzen nicht mehr haben oder ich möchte keine weitere Behandlung mehr auf mich nehmen.

Haben Sie eine Freitodbegleitung schon einmal bereut?
Nein. Jede Freitodbegleitung wird sorgfältig vorbereitet. Und ich habe die Motive einer sterbewilligen Person auch noch nie in Frage gestellt. Aufgrund der unheilbaren Diagnose konnte ich den Sterbewunsch immer nachvollziehen.

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