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gesellschaft

Hamburg will Obdachlose täglich um 6:30 Uhr wecken

Und von ihrem Schlafplatz verscheuchen.
Foto: imago | Winfried Rothermel

Ein windgeschützter Kaufhauseingang. Davor, im Schlafsack, Obdachlose. Dann: nahende Schritte. Stadtpersonal weckt die Schlafenden und verscheucht sie. Es ist 6.30 Uhr morgens.

12.500 Passanten laufen pro Stunde durch die Mönckebergstraße, die Haupteinkaufsstraße in der Hamburger Innenstadt. Vor Galeria Kaufhof sitzt ein Obdachloser im Eingang. Er stellt sich hin und pinkelt in den Eingang, durch den jeden Tag Hunderte Leute strömen.

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Die erste Szene soll bald Realität werden. Die zweite ist es tatsächlich schon. Es zeigt einen Konflikt, in dem sich das Hamburger Bezirksamt befindet: Vertreibt man Obdachlose oder akzeptiert man, dass sich einige von ihnen nicht an die gängigen Hygienevorstellungen halten? Das Amt scheint sich entschieden zu haben: Ab Ende März möchte der Bezirksamtschef der SPD, Falko Droßmann, Obdachlose wecken lassen und an einen anderen Schlafplatz senden. Anschließend sollen die Schlafplätze gereinigt werden. Danach: Happy Shopping!

Die Maßnahme sei aus einer Notsituation entstanden, so eine Sprecherin des Bezirksamtes zu VICE: "Seit circa zwei Monaten haben wir ein Problem mit dem Verhalten dieser Obdachlosen. Ihre Schamgrenze hat sich total verschoben. Sie urinieren nicht nur vor die Eingänge der Kaufhäuser. Da passiert noch mehr." Die Obdachlosen kackten auch in die Eingänge, das sei eine Zumutung für Passanten und Personal.

Vorerst ist die Maßnahme auf einen Monat festgelegt. Dem Hamburger Abendblatt sagt Droßmann: "Das werden wir zunächst vier Wochen lang machen, um die Obdachlosen dafür zu sensibilisieren." Im Sommer soll die Maßnahme ein zweites Mal durchgeführt werden.

Die Sprecherin des Bezirksamts wirkt, als habe sie keine Zweifel an der Maßnahme: "Dieser spezielle Bereich ist eine stark besuchte Fläche der Öffentlichkeit. Sie muss frei und ungehindert zugänglich sein. Die Obdachlosen können an einem anderen Ort schlafen."

Die Stadt Hamburg hat von November 2016 bis März 2017 in einem Winternotprogramm 940 zusätzliche Schlafplätze für Obdachlose zur Verfügung gestellt. Ein Mitternachtsbus der Diakonie bringt jeden Abend Decken, heiße Getränke und Nahrung zu den Schlafplätzen der Obdachlosen. "Außerdem haben fast alle Betroffenen einen Schlafplatz in ihren Heimatländern", so die Sprecherin. Das Bezirksamt Hamburg vermutet, dass es sich bei den Obdachlosen um frisch Zugezogene aus Rumänien und Bulgarien handelt, die als Tagelöhner in Deutschland arbeiten.

Birgit Müller, die Chefredakteurin der Obdachlosenzeitschrift Hinz&Kunzt hingegen sieht einen Fehler in der Arbeit der Stadt. Gegenüber VICE sagt sie: "Grundsätzlich gibt es ein stillschweigendes Abkommen zwischen Stadt und Obdachlosen. Sie stehen normalerweise früh auf und verlassen den Platz sauber. Abends kommen sie erst sehr spät wieder. Momentan sind aber einfach zu viele nicht in das Winternotprogramm aufgenommen worden." Ob für die betroffenen Obdachlosen ein Ausweichprogramm angeboten wird, ist noch unklar.

Das Resümee der geplanten Maßnahme: Obdachlose müssen den Ort wechseln, die nächsten Anwohner fühlen sich belästigt. Der Konflikt wird verlagert, aber nicht gelöst.

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