'Meta' – Eine Kurzgeschichte über den Ernst des Lebens
Fotos von Eva O’Leary

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DIE LITERATURAUSGABE 2017

'Meta' – Eine Kurzgeschichte über den Ernst des Lebens

Eine Frau wacht am Bett ihrer komatösen Partnerin und erfindet 'Rocky II' neu, um der Tragik die Stirn zu bieten.

Aus der Fiction Issue 2017

In den Filmen kommt es oft vor, dass Leute im Koma auf die Stimme eines geliebten Menschen reagieren. Vielleicht würde es also auch hier funktionieren.

Sie hatte sonst alles versucht, wieso also nicht auch das? Sie streichelte weiter die Hand ihrer Ehefrau. Sie ärgerte sich, dass sie sich schon an die mangelnde Spannung in der Hand ihrer Ehefrau gewöhnt hatte; dieses schwabbelige Weiche unter ihrer Rinde aus Schwielen. Sie erzählte ihrer Frau, welche Blumen gerade auf dem Fenstersims angefangen hatten zu blühen. Die Spargelsuppe, die sie als Überraschung am Abend des Unfalls vorbereitet hatte. Sie wollte wissen, warum ihre Frau sich überhaupt in den Kopf gesetzt hatte, den Motor dieser Triumph neu zu bauen? Es war nicht bloß eine metaphysische Frage; die Antwort war wichtig. Die Frau verfluchte den Schrauberinnenstolz ihrer Ehefrau. Jeden Sonntagmorgen putzte und schrubbte sie in der Einfahrt des Wohngebäudes dieses verdammte Motorrad. Sie sah ihre Ehefrau vor sich, einen Ölschmierer auf der Wange, so plump und süß in ihrem Overall und ihren Docs, wie sie in der Werkzeugkiste nach dem richtigen Schlüssel wühlte. Die Frau verfluchte den Fahrer, der die rote Ampel überfahren hatte. Sie staunte über die Namen der Straßen, die ihn zum Unfallort geführt hatten: Burnt Church Road, gefolgt von Burnt Temple Road und dann Burnt Mosque Road. Wenigstens habe der Stadtplaner alle Religionen gleich gehasst, sagte die Frau. Mehr könne man wohl nicht verlangen. Dann lachte sie ein Lachen, das mehr ein Stöhnen war, und ärgerte sich laut darüber, dass sie den Song "Girlfriend in a Coma" als Ohrwurm hatte.

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Meta meta meta, sagte sie.

Die Maschinen bliepten. Puls normal. Blutdruck normal. Die Hirnaktivität eine ruhige Gebirgskette.

Die Frau sagte den Namen eines Films und fragte ihre Frau, ob sie sich erinnere. Am Abend vor dem Unfall hatten sie den Film im Fernsehen gesehen. Die Ehefrau hatte aufgehört zu zappen und Psst gesagt, und die Frau hatte das Psst ignoriert und noch einen Witz gerissen, doch dann hatte sie gemerkt, dass ihre Frau sich vorlehnte und sich wirklich für den Film interessierte. Vielleicht sprach er ihre aggressive Seite an oder so. Gab ja auch kein Gesetz, das besagte, dass nur Männer auf laut und dreckig stehen dürfen. Wenn man (oder frau) darüber nachdachte, war ihre anfängliche Überraschung sogar sexistisch. Also war die Frau leise gewesen, wie es das Psst verlangte. Erinnerte sich ihre komatöse Lebenspartnerin an die Stelle im Film, wo die Frau des Boxers im Koma liegt? Wo er an ihrer Seite wacht, statt für den Titelkampf zu trainieren? Die Zeit tickt davon, bald soll er dem amtierenden Schwergewichtsmeister gegenübertreten, und der Boxer trainiert nicht, sondern wartet darauf, dass seine komatöse Ehefrau – halt, seine komatöse, schwangere Ehefrau – aufwacht. Man weiß schon, dass der Boxer nicht lesen kann, denn im Film gibt es eine Szene, in der er Stichwortkarten nicht ablesen kann und somit Werbeaufträge in den Lokalmedien verliert, die ihm trotz Niederlage im ersten Titelkampf etwas Einkommen gebracht hätten. Doch im Krankenhaus versucht er, seiner komatösen Ehefrau vorzulesen, wobei er über die Wörter in dem Kinderbuch stolpert und langsam die schwierigen Silben formt. Die ganze Montage war ein wenig schmerzhaft für eine Zuschauerin, die sich ungern manipulieren lässt, doch gleichzeitig konnte nur jemand völlig Herzloses den Charme dieser wunderschön langsamen Szenen abstreiten, in denen der Boxer sich selbst das Lesen beibringt. Die Manipulation war so offensichtlich wie wirksam.

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Die Frau unterrichtete an der Highschool Literatur für Fortgeschrittene und die meisten ihrer Schüler und Schülerinnen gingen nach der Schule auf die Uni. Meist bewiesen zwei oder drei pro Quartal besonderen kritischen Scharfsinn und das nötige Durchhaltevermögen. Sie waren witzig, jeder auf seine Art. Die Schule befand sich in einem progressiven Bezirk, in dem niemand aufgrund der zahlreichen Lehrkräfte in gleichgeschlechtlichen Beziehungen ein Fass aufmachte. Auch gab es genug Diversität, dass Eltern sich nicht für ihren Wohlstand entschuldigen mussten, aber gleichzeitig wussten, dass ihre Kinder Teil eines (sicheren) Schmelztiegels waren. Die Eltern und Lehrkräfte konnten einiges an Geldern sammeln, wenn nötig. Die Mitarbeiter bekamen ordentliche Sonderleistungen. Es gab wirklich schlimmere Jobs. Zum Beispiel wären die meisten der Jugendlichen in ihrem Kurs in der Lage, die Parallelen zwischen der Filmfigur mit der komatösen Frau und der Lehrerin mit der komatösen Frau aufzuzeigen. Aber sah so Erfüllung aus? Es mochte ihr viel geben, Lehrerin zu sein, doch die Frau hatte kreative Energien und Träume. Sie stand drei Tage die Woche im Morgengrauen auf und verbrachte mindestens zwei Stunden alleine vor dem Computer, ohne Internet und Musik. Sie hatte etwa ein Drittel der Rohfassung eines Romans fertig. Drei ihrer Kurzgeschichten hatten höfliche, ermutigende Ablehnungsbriefe erhalten, von literarischen Zeitschriften, deren Namen die ­anderen angehenden Autorinnen und Autoren in ihren Online­foren und bei ihrem monatlichen Autorentreff kannten. Die Frau war langsam etwas heiser. Sie hatte inzwischen schon lange geredet. Sie hielt inne und nahm einen Schluck Tee mit Honig; das machte sie schon lange im Klassenzimmer so, um ihre Stimmbänder zu schonen. Sie stellte die Tasse ab, musterte das friedvolle Gesicht ihrer Frau und schöpfte aus ihrem kreativen Können, um die ihrer Meinung nach schwächeren Filmstellen mit ihrer Erzählung zu füllen. Sie schilderte den Teil des Films, in dem der Boxer seiner Frau vorliest und beginnt, sich für Die kleine Dampflokomotive zu interessieren. Die Stelle, an der der Boxer innehält und sagt: "Ich weiß, ich schaff's – da kommt der Spruch also her!"

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Der Schauspieler, der den Boxer spielte, war ein absoluter Megastar, einer der größten Kinomagneten der Welt. Er war so berühmt, dass es fast schon peinlich war, überhaupt seinen Bekanntheitsgrad zu erwähnen, doch die Frau kam nun in Schwung, gestikulierte beim Sprechen. Sie schilderte den bemerkenswerten Umstand, dass der Kinostar genau wie der kampfgeschädigte Fast-Analphabet, den er darstellte, ein reges Interesse an den dünnen Büchlein entwickelte. In den Drehpausen blieb der Kinostar am Set, in seinem Stuhl neben dem nun leeren Krankenhausbett. Er las nicht länger laut der Schauspielerin vor, die seine Frau spielte, und bewegte beim Lesen auch nicht die Lippen, wie es seine Filmfigur getan hätte. Stattdessen ließ er schweigend die Augen über die Zeilen huschen und blätterte eine Seite nach der anderen um. Als er in einem anderen Kinderbuch erfuhr, wer das Blech mit den Plätzchen gestohlen hatte, ging er es noch einmal durch, um das Vorgehen des Bösewichts nachzuvollziehen. Dann stand er wortlos auf und ging zu seinem Wohnwagen. Bald wurde am Set verkündet, der Schauspieler wolle nicht gestört werden.

Der Kinostar hatte sich den Weg an die Spitze geboxt, angefangen mit einem Softporno, in dem sein blasser, nackter Hintern sechs Sekunden lang poppend im Bild war. Sein erster Auftritt in einem richtigen Hollywoodfilm bestand nur aus einer Szene. In der Komödie spielte er einen Ganoven, welcher der Freundin eines unbeholfenen Verlierers die Handtasche raubt. Jahrelang war er Teil des Hollywoodbodensatzes, was ihm psychisch einiges abverlangte. Sein Weg zum ersten großen Boxfilm war im Grunde sein eigener epischer Kampf gewesen. Als der Streifen zum Überraschungserfolg wurde und den Oscar für den besten Film gewann, stieg er ins Pantheon des Filmbusiness auf. Das kam für ihn zwar überraschend, doch natürlich wollte er diesen Bekanntheitsgrad für sich nutzen. Wer lehnte schon Karten für die erste Reihe bei einem NBA-Spiel ab? Welcher heterosexuelle, gestandene amerikanische Mann wünschte sich nicht, dass sich ihm reihenweise heiße Frauen an den Hals werfen? Der Kinostar hatte zu lange geschuftet wie ein Tier, um sich jetzt seinen Erfolg wieder nehmen zu lassen, also war es seitdem seine oberste Priorität, das Publikum weiter ins Kino zu locken. Er wollte erfolgreiche Premieren und danach lange Laufzeiten und dabei Gagen verdienen, die ihn als einen der Größen der Branche auswiesen. So einfach war das. Und der Spott, mit dem Schreiber und Kritiker seine neueren Filme bedachten, das war nur Neid. Leute, die sich für zu cool und ihren Geschmack für das Nonplusultra hielten. Das echte Publikum fand das Endprodukt gut, und darauf kam es wirklich an. Das waren die wahren Kritiker, auf die der Kinostar hörte. Wie die O'Jays schon sangen: "Give the people what they want."

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Die Frau in dem Krankenhausstuhl nahm noch einen Schluck Honigtee, stellte die Tasse ab und erklärte ihrer komatösen Ehefrau, dass der Star sich in seinem Wohnwagen verschanzte und seinem Assistenten auftrug, Literaturklassiker zu besorgen (Amazon lieferte am selben Tag). Der Star verlangte auch, dass der Assistent moderne Sammelbände mit den erfolgreichsten Kurzgeschichten der jeweiligen Jahre holte (auch die brachte Amazon). Danach gelangte nichts mehr in den Wohnwagen und nichts kam mehr heraus. Das war ein Problem, immerhin ging es um des langersehnte Sequel zum großen Boxdrama. Doch der Kinostar hatte durch seinen Erfolg neue Prioritäten, und denen mussten das Underdog-Thema und die Stärken des ersten Films angepasst werden. Der Kinostar musste in fast jeder Kameraeinstellung der Fortsetzung zu sehen sein. Das Ganze drehte sich eigentlich nur um ihn – und dennoch blieben die Türen seines Wohnwagens fest verschlossen. Der Regisseur drehte ein paar Szenen mit anderen Figuren, drehte alternative Einstellungen und Szenen, doch jedes Mal, wenn er zum Wohnwagen des Kinostars ging, blitzte er ab. Die Produzenten wurden ebenfalls abgewiesen. Sein Agent durfte hinein, hörte aber ebenfalls auf, SMS und E-Mails von den Filmleuten zu beantworten. Drei biblisch lange Tage. Schließlich kam eine Forderung aus der Stille: Die Schauspielerin, welche die Ehefrau des Boxers spielte, solle kommen. Denn die Scheiße war ja noch nicht genug am Dampfen.

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Die Schauspielerin, die des Kinostars Frau mimte, gehörte nicht zur Elite, nicht so wie Meryl Streep, doch sie genoss in den Medien Achtung, die Kritiker sprachen positiv von ihr und sie bekam Rollen in irgendwelchen Schwarzweißfilmen mit Untertiteln. Ihr klassisch italienisches Gesicht und dazu passendes Haar hatten ihr eine kleine, aber hochwertige Rolle in einem legendären Film über eine Mafia-Familie eingebracht, und das hatte ihr auch die Tür zum ersten Boxfilm geöffnet. Damals war das für sie eine große Sache. Das Drehbuch stammte von diesem Muskelprotz-Schauspieler, und alles war so düster und klein und traurig, dass echte Hoffnung und ein wahres Hochgefühl aufkamen, als der Kerl im Morgengrauen die Marmortreppe hochrannte und die Arme gen Himmel streckte. Der Film war in jeder Hinsicht außergewöhnlich, und was genauso wichtig war: Er war ihre erste große Hauptrolle. Denkst du, so eine Chance hatte sie jeden Tag? So eine Chance kriegt kaum jemand. Niemand der Beteiligten hatte es kommen sehen, dieses zusammengewürfelte kleine Team aus Underdogs, das diesen düsteren, kleinen Film drehte, der vermutlich niemals überhaupt in die Kinos kommen würde. Doch dann war er verdammt noch mal explodiert. Es machte wirklich Spaß, in einem Riesenhit mitzuspielen. In Filmen zu sein, die sogar Leute außerhalb der Familie kannten. Zu sehen, wie die Freundinnen der Mutter ganz neidisch und ehrfürchtig wurden. Und dann waren da natürlich noch die Schecks mit den scheißvielen Nullen. Also war sie beim Sequel auch dabei. Ich meine, hältst du sie für bescheuert? Außerdem konnte sie so mit den Dingen weitermachen, die sie als ihre richtige Arbeit sah, die kleinen Theaterstücke und Indie-Filme, an die sie glaubte und deren Erfolg sie ihre Karriere widmete. In diesem Film bestand die große Szene der Schauspielerin darin, aus ihrem Koma zu erwachen, mit den Wimpern zu klimpern und ihren Mann herzzerreißend liebevoll anzuschauen. Der Sexismus darin hätte kaum noch offensichtlicher sein können. Doch, natürlich, denn es kam ja noch schlimmer: Es war seine Stimme, die sie zurück ins Leben geholt hatte, seine Liebe, nur damit sie ihn direkt nach dem Aufwachen um etwas bitten konnte. Sie bat ihn näherzukommen. Er lauschte ganz aufmerksam. "Gewinne", flüsterte sie mit dem bisschen Kraft, das ihr blieb. Ihr Leid existierte nur, damit der Boxer die nötige Motivation hatte, um einem anderen Menschen (einem schwarzen Mann) die Fresse einzuschlagen, damit ER der Champion sein konnte, damit ER Ruhm und Reichtum erreichte.

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Und dann wiederholte sie es, mit mehr Nachdruck: "GEWINNE."

Ihre komatöse Ehefrau wirkte auf die Frau so ruhig und friedlich, ein Sinnbild der Sorglosigkeit. Aber sie sah auch aus, als schliefe sie und könne jeden Moment aufwachen. Die Besten aus dem Literaturkurs an der Highschool der Frau hätten einen Zusammenhang zwischen diesem leeren Komazustand und der Boxer-Ehefrau als Symbolfigur herstellen können. Sie hätten erkannt, dass auf der einen Seite ihre Persönlichkeit und ihr Leben waren, und auf der anderen nur Leere und Tod. Und dieser Typ aus der Onlineautorengruppe der Frau, der sich XGHLPH145 nannte, hätte sich vermutlich beschwert, dass ihre Symbole zu simpel und binär seien. Doch das Xloch hätte es nicht nur gesagt, er hätte es anderthalb Ewigkeiten lang mansplained und am Ende noch Fight Club als Beispiel genommen, denn Fight Club war so etwas wie die verdammte Bibel des Xlochs, und auch wenn die Frau nicht vorhatte, irgendwann noch Chuck Palanirgendwas zu lesen, wusste sie doch, dass in der Filmversion Brad Pitt sich als dieselbe Person herausstellt wie Ed Norton. Sie konnte sich den Forumpost des Xlochs vorstellen, in dem er erklärte, sie müsse etwas ähnlich Unvorhergesehenes tun, wenn ihre Symbole Bedeutung haben sollten. Also gut. Lassen wir doch hier ein ominöses Nebelhorn erklingen. Das dröhnende Läuten einer Kirchenglocke. Die schrille Glocke, die am Anfang einer Boxrunde klingelt. Wie wär's mit Wiederholung: ein Klingeln, das als Kirchenglocke beginnt, aber am Ende einen Titelkampf einläutet? Das Scheppern der Hoffnung und Inspiration? Die Glocken des Schicksals? Diese verschissene Herz-Monitor-Maschine zeigte weiterhin in gleichmäßigen Abständen normale Werte für die komatöse Ehefrau. Nichts deutete darauf hin, dass sie gleich in diesem Moment aufwachen würde, dass sie genau JETZT ihrem Koma entkäme. Die Frau senkte den Kopf und schloss die Augen.

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Öffnete sie. Weiter im Text.

Sie hatten vielleicht noch eine Woche, bis die Szenen im Kasten sein mussten. Alle bis hin zum Studioboss waren sich einig, dass es nun an der angesehenen Schauspielerin war, den Kinostar wieder aufs Set zu holen. Die Boulevardpresse durfte keinen Wind von der Sache kriegen; sie musste das Problem schleunigst lösen. Die Schauspielerin mochte diesen Druck auf ihren Schultern kein bisschen, doch es war auch nicht ihre Art, sich zu beschweren oder ihren Mithauptdarsteller auflaufen zu lassen. Aber nach einem Gläschen Wein, oder zwei? Vielleicht blickte sie sich dann verstohlen um und machte einer guten Freundin gegenüber eine ihrer vorsichtigen Aussagen: Die Schauspielerin könne bestätigen, dass der Kinostar aufrichtig und lieb sei. Er versuche immer, sich am Set großzügig zu zeigen. Sie räumte aber vielleicht auch ein, dass er es so sehr gewohnt sei, seinen Willen durchzusetzen, dass er vergessen könne, dass andere auch einen Willen besaßen. Er habe ein großes Herz und meine es gut. Der Kinostar schien sich wirklich um den Erfolg seiner Filme zu bemühen, und er bat sie bemerkenswert oft in seinen Wohnwagen, um eine Szene zu besprechen. Doch vielleicht gab sie an dieser Stelle auch zu, dass es sie ein klein wenig irritierte, wie oft der Kinostar den offensichtlichsten Weg wählte. Große Emotionen und Kitsch, mit der Unbändigkeit eines Hundewelpen, darauf konnte man sich bei ihm verlassen. In Liebesszenen konnte er schon mal grapschen. Die Leute der Schauspielerin hatten ihr Möglichstes getan, sie vor den vielen Wohnwagen-Meetings zu bewahren, und tatsächlich gab es im Laufe der Dreharbeiten immer weniger davon. Dennoch wussten alle, dass der Kinostar ein tonnenschwerer Koloss war und dass auf diesem Schwergewicht das gesamte Filmset stand. An ihm führte kein Weg vorbei. Er hatte sie zu sich gerufen, also musste die Schauspielerin die vier Metallstufen erklimmen und an die Tür seines Wohnwagens klopfen.

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Ein seltsamer Geruch, als die Tür aufging; wie vollgestopfte Kleiderschränke alter Leute, die schon viel zu lange nicht gelüftet wurden. Die Deckenlampe ganz hinten im Wohnwagen war wohl durchgebrannt und die Birne war nicht ersetzt worden. Der Wohnwagen war vielleicht dreimal so groß wie ihrer. Der Sofaüberzug war aus hochwertigem, schokofarbenem Leder. Der Schauspieler war unrasiert und hatte blutunterlaufene Augen. Er wirkte wie ein Soldat, der schon lange im Schützengraben unter Beschuss stand. Die Schauspielerin brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, dass er den Boxmantel trug, der für die Kampfszene gedacht war. Zum Glück war er um die Hüfte zugebunden. Er kam auf sie zu und zu seinem Blick fiel ihr nur das Wort "inbrünstig" ein. Er fasste sich mit beiden Händen an den Kopf und machte eine Bewegung, die nach einer Mischung aus Haare ausreißen und Kopfhaut reiben aussah. Er lachte. Der weiße Satin seines Boxmantels war am Ärmel mit Sojasoße voll; zumindest hoffte die Schauspielerin, dass es sich dabei um Sojasoße handelte. Er wollte, dass sie über Sternensysteme nachdachte. Sie verstand nicht ganz, also bat er sie, die Augen zu schließen. Das kam ihr nicht ratsam vor, doch sie tat es. Ganz kurz, sagte er, stell' dir nur mal vor, wie groß ein Sternensystem sein muss. Stell' dir das endlose Rätsel eines Schwarzen Lochs vor.

Die Schauspielerin war ganz schön verblüfft, doch sie hatte noch genug Selbstbeherrschung, um sich das Lachen zu verkneifen.

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Wenn jemand sagt, etwas sei "astronomisch", fuhr der Kinostar fort, dann meinen wir eigentlich Systeme aus Schwarzen Löchern und dunkler Materie und ganze Sternensysteme. "Astronomisch" könne all das erfassen. Doch das Wort vermittle gar nicht derartig große Dimensionen. Eigentlich sei es nur eine bescheuerte Art, "riesig" zu sagen.

Die Schauspielerin sagte dem Star, er sei ihr wichtig. Alle würden sich echt große Sorgen um ihn machen. Der Star grunzte. In all dieser Zeit, sagte er. Endlich erkenne er es.

Denk doch darüber nach, wie wahrscheinlich es ist, dass jemand es vom Softporno zum Kinoknüller schafft; selbst wenn dieser jemand hart arbeitet und Opfer bringt und am Ball bleibt und alles richtig macht und total clever ist und all das. Das muss so selten sein, dass die Wahrscheinlichkeit zu astronomisch riesig ist, um sie überhaupt mit Worten auszudrücken.

An der Seite ihrer komatösen Ehefrau bewegten sich die Hände der Frau wie von selbst, fast durchgehend. Ein Tick von ihr, wenn ihr Geist auf Hochtouren lief. Wenn sie zutiefst nervös war und nicht einmal wusste, was ihre Hände machten. Sie drehte ein Gummiband um ihr Handgelenk, wieder und wieder, doch sie hatte kein Gummiband, also war das Drehen nur Pantomime. Sie zerrte an ihrem Kopf, wie der Schauspieler es tat.

Diese Kritiker hatten recht. Er hatte gefällige Filme gedreht. Er war der Boxer. In seinem Selbst gefangen. Hirnlos drauflosboxend, um sich selbst Ruhm zu verschaffen, und nach ihm die Sintflut. Aber diesmal würde er nicht in einem weiteren Stück vorhersehbarer Popcornscheiße mitspielen. Wenn dieser Kinostar etwas zu sagen hatte – und seien wir ehrlich, er hatte eine Menge dazu zu sagen –, dann würde diesmal alles anders laufen.

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Der Schauspieler machte Gummibanddrehungen um sein Handgelenk, immer wieder im Kreis, nur hatte er keine Gummibänder in seinem Wohnwagen, genau wie die Frau keine im Krankenhaus hatte, also war das Drehen bei ihm auch nur Pantomime.

Dieser Moment und dieser Moment. Und der nächste.

Die Schauspielerin fragte, was genau er denn an dem Film ändern wolle. Der Schauspieler sagte, er wisse es nicht. Die Schauspielerin sagte, es dauere im echten Leben Jahre, bis man sich durch die sexuelle Verwirrung gekämpft und sich selbst gefunden habe. Sie sagte, im echten Leben habe man Glück, wenn man eine progressive Gegend finde, mit Leuten, die eine ähnlich aufgeschlossene Meinung zu Klasse, Hautfarbe und Geschlecht haben, und vor allem mit Leuten, die auch wirklich verschiedene Klassen, Hautfarben und Geschlechter haben. Die Schauspielerin fragte den Kinostar, ob er die Krankenhausszene ändern wolle. Natürlich wolle er diese Szene ändern. Natürlich wolle er, das alles anders sei. Aber der Umstand, dass er überhaupt die Macht hatte, es zu ändern, basierte zu einem großen Teil auf seiner "Ich weiß, ich schaff's"-Einstellung, und die legte wiederum nahe, den Film so zu lassen, wie er war.

Doch die Macht, Änderungen zu machen, wies ihn auch als die Ausnahme aus, was ihn in gewisser Hinsicht nur noch mehr zum Handeln verpflichtete. Er roch, als habe er nicht geduscht, seit er es erfahren hatte und ins Krankenhaus geeilt war. Er hatte seine Tasse in der Hand, doch er hatte den ganzen Honigtee schon ausgetrunken. Gewinne?, sagte die Frau und wusste dabei nicht, was ihre Worte waren und was ihre Tränen. Im echten Leben gibst du dein Bestes, du findest heraus, woran du glaubst, und dann versuchst du, diese Überzeugung in die Welt zu tragen. Vielleicht bedeutet das, die Überzeugungen künstlerisch darzustellen oder auszuleben oder sie mit anderen Menschen auszuleben, seinen Kindern das Richtige mitzugeben und vielleicht auch den Kindern anderer Leute das Richtige mitzugeben.

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Du kämpfst dich durch den Wust aus Datingprofilen und Fleischbeschau und Rechtswischern und, Wunder oh Wunder, findest jemanden, mit dem du auf dem Sofa kuscheln und Eis essen und am Ende des Tages entspannen kannst. Ihr teilt eure Alltagsprobleme und seht euch zusammen einen schlechten Film an, und du genießt diesen Haufen Scheiße – weil du ihn durch die Augen der anderen Person siehst und Freude an ihrer Freude schöpfen darfst.

Alles einfach so ein Witz. Keine Logik. Ein großer, sinnloser Witz.

Dann platzt er in den Wohnwagen, zu der zusammengekrümmten Frau und ihrer komatösen Ehefrau, und Brad Pitt sieht so muskulös aus, dass es schon CGI sein muss, und zuerst wirkt er furchteinflößend, doch dann hält er die andere Wange hin und dann wieder die andere und wieder, so oft dass er schon im Kreis herumwirbelt.

Das echte Leben ist eine Fackeln tragende Armee, die Erde verbrennt, ein X-Wing-Fighter, der sich der kleinen Dampflok nähert.

Und selbst wenn du den Witz verstehst, ist es trotzdem ein verschissener Witz.

Alles an der Frau wurde ruhig. Mitten in der Bewegung eingefroren. Zeitlos.

Sieh mich an, Leser.

Blicke auf diese Seite, wenn du das hier auf Papier liest. Wenn du auf einem Bildschirm liest, dann bleib vor dem Bildschirm.

Ich will dich etwas fragen. Ich will es wissen. Wann zur verdammten Hölle hat bitteschön deine Ehefrau deine Stimme gehört und ist, jedem medizinischen Wissen zum Trotz, einfach so plötzlich aus dem Koma auferstanden, um weiterzuleben und kein regungsloser Fleischsack mehr zu sein?

Im echten Leben, wann gewinnt da schon jemand?