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Liebes Deutschland, wir müssen über deinen Umgang mit der AfD reden

Die Vergleiche von FPÖ und AfD sind genauso abenteuerlich wie die Versuche, die Alternative für Deutschland schnell wieder von der Bildfläche verschwinden zu lassen.
​Foto: De Havilland | Flickr | CC BY-2.0

Liebes Deutschland,

am 3. Oktober jährt sich der Tag der deutschen Einheit. Man braucht kein Medienprofi zu sein, um vorherzusagen, welche Kommentare zahlreiche Politik-Journalisten zu diesem Thema verfassen werden. "Wir sind keine Einheit" wird der Tenor lauten. Die Farbe Blau wird unverhältnismäßig oft in irgendwelche Symbole verpackt werden. Alles, was in irgendeiner Form mit dem Wort "Spaltung" zu tun hat, wird bei den Kommentatoren inflationär oft zu lesen und zu hören sein. Das Motto "Brücken bauen" in Dresden wird wahrscheinlich zur Versinnbildlichung der seit knapp zwei Jahren anhaltenden Furcht vor der Wiederholung einer Vergangenheit werden—vorausgesetzt, die Feierlichkeiten finden aufgrund der vergangenen Anschläge überhaupt statt.

Auch wir werden uns wiedersehen, an diesem besagten Tag der deutschen Einheit. Ich werde mir weder die Reden der Politiker ansehen, die alle in ein melancholisch-tragisches " Wir schaffen das schon (irgendwie) " getränkt sein werden, noch die dazugehörigen kritischen Kommentare in den vorher schon erwähnten Zeitungen. Meine Meinung ist vielleicht weniger wert, weniger fundiert und kommt nur aus einem von 80 Millionen Köpfen—aber sie existiert. Ich gehöre zu der vielbeschriebenen " Generation Y" und zu denen, die schon jetzt lachen, wenn sie das Wort "Rente" beziehungsweise "Pension" hören. Und ich habe einige Fragen, die ich dir nach unserer 21-jährigen Beziehung und im Zuge der aktuellen Lage stellen muss.

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Nervt dich die Nazikeule?

Es scheint, als hätten wir nichts gelernt. Jeder spricht davon, dass man Geschichte nicht wiederholen darf oder soll. Aber dann meinen doch alle, dass wir vielleicht gerade auf dem besten Weg sind, ein Déjà-vu zu erleben . Es erinnert ein bisschen an das "Welle"-Experiment. Alle sind der festen Überzeugung, dass man mittlerweile zu schlau ist, um das Dritte Reich nochmal zu erleben. Dann spazieren und marschieren plötzlich PEGIDA, THÜGIDA, BERGIDA, LEGIDA durch deine Städte. Und mit der Nazikeule wird jegliche Form der politischen Auseinandersetzung niedergeschlagen.

Fremdenfeindlich? Nazi. Patriotisch? Nazi. Besorgt? Nazi. Aus einer Debatte, die uns vielleicht weiterhelfen könnte, wird schnell ein Schlagabtausch der politischen Korrektheit. Bitte versteh mich nicht falsch: Ich finde es wichtig, die Bevölkerung darüber aufzuklären, dass Frauke Petrys Vorschlag , "völkisch" wieder in positiv zu besetzen, eine nicht erwähnte historische Tragweite hätte. Politische Korrektheit ist im täglichen Sprachgebrauch notwendig und wichtig.

Aus diesem Grund kann man auch Herbert Kickls Aussagen hinterfragen

Jemand, der in seiner öffentlichen Funktion rassistische, sexistische, antisemitische oder diskriminierende Sachen äußert, muss die Konsequenzen tragen. Das gilt für Menschen wie Ex-FPÖlerin Susanne Winter, genauso wie für Musiker wie Xavier Naidoo und Andreas Gabalier . Das bedeutet aber nicht, dass jeder Mensch mit Vorurteilen gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen gleich ein Nazi ist. Studien wie der implizite Assoziationstest zeigen auf, dass fast jeder rassistische Gedanken besitzt .

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Ob und wie man sie dann auslebt, ist eine andere Frage. Man muss aber nicht jegliche Bemerkung,, nur weil sie nicht der eigenen Meinung entspricht. Es ist nicht unsere Aufgabe, über die Gesinnung von Menschen zu entscheiden. Wir können unsere Meinung über Meinungen haben. Das gibt uns aber nicht das Recht, alle in einen großen Topf zu werfen—und damit eine ähnliche Diskriminierung vorzunehmen wie die, die wir eigentlich die ganze Zeit an ihnen kritisieren.

Wann verstehst du, dass uns die ganzen FPÖ-Vergleiche nichts bringen?

Seitdem Heinz-Christian Strache und Frauke Petry sich zum ersten Mal in der Öffentlichkeit miteinander blicken ließen, haben sich anscheinend sehr viele deutschsprachige Medien auf die Spurensuche nach Parallelen zwischen FPÖ und AfD begeben. Immer wieder wird davor gewarnt, dass du, mein liebes Deutschland, dich auf dem gleichen Weg befindest wie Österreich. Ich kann mir fast schon vorstellen, wie der Hans Rauscher halb seufzend, halb schmunzelnd den Satz " Jetzt hat auch Deutschland seine FPÖ " geschrieben hat. Als hätte die ganze Welt darauf gewartet, dass du endlich wieder deine tolerante Fassade ablegst und dein ungeschminktes totalitäres Gesicht zeigst.

Leider hilft uns der Vergleich mit der FPÖ nicht weiter. Im Gegenteil. Er ergibt einfach keinen Sinn. Man kann nicht leugnen, dass die rechtspopulistischen Parteien gewisse Gemeinsamkeiten aufweisen. Aber nur weil man ähnliche Themen hat und beide jeweiligen Parteienspektrum als "rechts außen" gelten, findet man kein Allgemeinrezept gegen diese Parteien.

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In Berlin lehnen alle Parteien ein Bündnis mit der AfD ab. In Ö ist ein Bündnis mit der FPÖ für Sozis & Christen kein Problem. — Bernhard Lahner (@BernhardLahner)18. September 2016

Man vergisst bei diesen Diskussionen anscheinend ganz gerne, dass es sich immer noch um zwei unterschiedliche Länder mit sehr unterschiedlichen Entwicklungen handelt. Bestes Beispiel dafür ist die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Die fand in Österreich eigentlich erst mit der Waldheim-Affäre (und noch eigentlicher erst danach mit Bundeskanzler Franz Vranitzkys Eingeständnis der österreichischen Mitschuld) statt.

Im gleichen Jahr, als wir lernten, dass nur sein Waldheims Pferd bei der SS war, wurde die FPÖ unter Jörg Haider zum politischen Gewicht in der Parteienlandschaft—da hatte sie aber schon dreißig Jahre existiert. Die Alternative für Deutschland gibt es erst seit drei Jahren; damit hat sie nicht nur die erfolgreichere Entwicklung hingelegt, sondern auch viel eher den Anspruch, sich als Revoluzzer und Störfaktor der etablierten (Parteien-)Ordnung darzustellen. Man sieht: Es ist ein Äpfel-Birnen-Vergleich, der nicht funktioniert. Weil auch hier wieder nicht auf das Wesentliche fokussiert wird: Die Menschen und deren regionsspezifischen Probleme.

Wann reden wir wieder als Menschen miteinander und nicht als Opfer?

Die deutsche Bevölkerung verhält sich trotzig. Es erinnert alles ein bisschen an einen Kindergarten, in dem jeder der Meinung ist, dass er es am meisten verdient hätte, mit dem "Deutschland-Spielzeug" zu spielen. In den Talkshows giften sich die Politiker an, behandelt einander mit einer fast schon respektlosen Abschätzigkeit. Und immer wieder wird mit Fakten gegen Gefühle argumentiert und umgekehrt—man redet also aneinander vorbei.

Die Regierung spricht nur noch von den "Menschen da draußen" und erweckt damit den Anschein, als wären sie keine Vertreter oder Bestandteil, sondern Soziologen des Volkes. Auf eine Aktion der Alternative für Deutschland folgen gefühlt zwanzig Artikel, in dem die "böse AfD" beschimpft wird. Niemand will mit der AfD reden, niemand will den Wählern zuhören. Umgekehrt das gleiche Spiel. Das ist das, was ich in meinem Wien-Exil noch momentan von dir mitbekommen habe, liebes Deutschland.

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Dann denke ich mir wiederum, dass das alles kein Wunder ist. Ich erinnere mich noch an die Filmaufnahmen einer PEGIDA-Demonstration, in der Menschen offen über ihre Ängste sprachen und von diversen Komikern und deren Zuschauern verhöhnt worden sind. Nein, es ist nicht verwundernd, dass diese Menschen nicht mehr mit uns sprechen wollen. Unsere Versuche, mit ihnen zu reden, glichen oft einer herablassenden Geste, getreu dem Motto: "Dann tun wir halt mal so, als würden wir euch ernst nehmen."

Und davor und mittendrin haben wir eben viel gelacht . Ein Dozent meinte einmal nach einer Filmsichtung zu uns, dass man sich Filme nicht vom Leib lachen sollte. Ich glaube, dass man sich Ängste ebenfalls nicht von der Seele lachen sollte—hat im Fall der AfD ja auch nicht funktioniert. Da konnten heute-show und Extra 3 noch so oft lustige Beiträge produzieren, die ohnehin wieder nur von AfD-Gegnern geschaut wurden.

Wir haben die AfD-Wähler nicht ernst genommen. Jetzt nehmen sie uns nicht mehr ernst.

Mittlerweile lacht auch Stefan Petzner über uns. Er ist amüsiert über die kostenlose Publicity, die wir der AfD geschenkt haben. Schlechte Werbung ist eben immer noch Werbung. Dabei wurde immer wieder der Zeigefinger gehoben und gesagt, wie böse die AfD-Führung ist, wie dumm und hässlich die Wähler doch seien. Wir haben die Menschen nicht ernst genommen. Wir haben die Alternative für Deutschland nicht ernst genommen.

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Und jetzt nehmen die meisten ihrer Wähler uns nicht mehr ernst. Mit einer großen "Jetzt erst recht"-Geste wählen sie aus Provokation und Protest die AfD—und geben das auch offen zu. Zudem hat es die AfD geschafft, Nichtwähler zu mobilisieren. Ein Traum, den viele Altparteien vor Jahren und nach zahlreichen Wahl-Werbespots aufgegeben haben. Woran das liegt? Die Alternative für Deutschland ist in ständigem Kontakt mit ihren Wählern, schwingt selbst auf dem kleinsten Marktplatz große Reden. Ja, man redet mit "den Menschen da draußen".

Können wir keine Einheit in Vielfalt sein, weil es sich gegenseitig ausschließt?

Das ist bereits die dritte Version dieses Briefes. Und es ist das dritte Mal, dass ich überlege, ob ich das hier wirklich schreiben soll. Ich habe immer noch dieselben Zweifel, die mich schon seit Beginn des Jahres plagen. Wer hat hier eigentlich Recht? Wer weiß, was gut und was schlecht ist? Und in wie vielen Kommentaren werde ich für meine Sichtweise verbal angespuckt werden? Damit passe ich mich nur in die Wesenshaltung eines jeden deutschen Bürgers an.

Mit unserer politischen Überkorrektheit und einer gewissen Überheblichkeit haben wir nämlich sehr lange unterdrückt, was gerade in einer geballten Ladung Debattenkultur zurückkommt. Mir ist noch nie so stark wie jetzt aufgefallen, mit welcher Eitelkeit wir Menschen behandelt haben und immer noch behandeln, die nicht unsere politische Meinung teilen.

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Warum es nie eine gute Idee ist, politische Debatten anhand von Äußerlichkeiten zu führen

In einem Land, das sich über knapp 357.000 Quadratkilometer erstreckt, kann man ziemlich gut vor den tabuisierten Meinungen davon laufen. Ich habe das bei meinen Kommilitonen sehr oft erlebt. Da sie aus dem maßgeblich toleranten Teil von Deutschland kommen—dem Teil, der eben nicht als "Dunkeldeutschland" bezeichnet wird.

Ich bin leider in dem Teil geboren, in dem auch PEGIDA gegründet wurde, klischeemäßig keine Bananen erhältlich sind und rechtspopulistische Parteien wie die NPD und AfD im Landtag sitzen. Für mich gab es die deutsche Einheit bis zu dem Punkt, als der erste "Wessi-Witz" in meiner Familie fiel. Bis meine Freunde aus den so friedlichen Regionen angefangen haben, mit Klischees über den Osten um sich zu werfen, als hätten sie selbst den Mauerbau miterlebt (oder würden ihn gerne noch mal beginnen).

Jetzt spielt selbst der letzte Politikredakteur mit dem Gedanken, dass die AfD doch längerfristig bleibt.

Ja, das Schlechte sind immer die anderen und in diesem spezifischen Fall: die Menschen aus dem Osten. Und wie toll hat es sich angefühlt, als die Alternative für Deutschland noch als ostdeutsches Phänomen gehandhabt werden konnte! Jetzt spielt selbst der letzte Politikredakteur mit dem Gedanken, dass die AfD sich nicht so einfach vertreiben lässt.

Erste Politiker aus etablierten Parteien könnten sich die AfD schon als Koalitionspartner vorstellen. Mittlerweile sitzt diese Alternative in zehn Landtagen, in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern sogar als zweitstärkste Kraft. Es ist schön, dass wir jetzt mittlerweile begriffen haben, dass Deutschland—also jetzt der Westen und nicht der Osten— nicht so immun gegen rechte Parteien ist, wie man das noch vor einem Jahr dachte.

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Der Tag der deutschen 'Einheit' wird bei der Pegida-Demo in Dresden gefeiert? Passt ja wie Faust aufs Auge.

— Lars Fischer (@Fischblog)28. September 2016

Ich würde jetzt gerne einen schönen Abschlusssatz hierhin schreiben, irgendeine Lösung vorschlagen, die noch nicht vorgeschlagen wurde. Aber ich weiß es selber nicht. Und das macht mich—nicht erst seit heute, sondern irgendwie schon seit zwei Jahren—ziemlich traurig. Aber ähnlich wie jeder, den du beherbergst, liebes Deutschland, müssen wir uns langsam damit abfinden, dass du dich verändert hast. Wir haben also meiner Meinung nach nur zwei Lösungen. Entweder, wir warten einfach darauf, dass sich die AfD durch den ewigen Machtkampf an der Parteiführungsspitze selbst zerstört. Aber das funktioniert nicht immer—die FPÖ hat auch ohne Haider und mit Strache erneut ihre Rolle als Volkspartei ausbauen können.

Oder wir fangen an, die Debattenkultur als etwas zu betrachten, das unserem Land vielleicht weiterhilft. Wir müssen mehr diskutieren, besonders mit denjenigen, die uns aufgrund ihrer Herkunft und Gesinnung nicht nahe stehen. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie dadurch mächtiger oder stärker werden. Zwischen Meinungen anhören und Meinungen annehmen ist ein Unterschied. Und vielleicht werden sie durch unsere tolerante Debattenkultur dann einfach wieder verschwinden. Mir ist schon klar: Das ist leichter gesagt, als getan. Aber Wunder geschehen in Deutschland ja bekanntlich immer mal wieder.

Immerhin kann man an dem Tag der deutschen Einheit jetzt sagen, dass wir vereinter als je zuvor sind—zumindest, was den alten Ost-West-Konflikt betrifft. Und auch die Schuld an dem Erfolg der AfD tragen wir in diesem Fall alle zusammen.


Foto: De Havilland | Flickr | CC BY-2.0