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Warum Erasmus nicht die schönste Zeit deines Lebens ist

In meinem Kopf lief schon der perfekte Trailer zu meinem Erasmus-Semester, aber wie so oft war der Film dazu leider eine Enttäuschung.
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Saufen, Party, Exzess, Reisen, "opportunity of a lifetime"—wenn sich Studierende über ihr Auslandssemester unterhalten, hört man diese Begriffe wahrscheinlich sehr oft. Mit Erasmus verbindet man heutzutage weniger den Gedanken, im europäischen Ausland neue Studienerfahrungen zu sammeln, als an einem anderen Ort genau das zu machen, was man ohnehin schon während seines Studiums macht. Und da ist Lernen oftmals nicht die oberste Priorität.

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Viele Ex-Erasmus-Studierende trauern deswegen am Ende der schönsten Zeit ihres Lebens hinterher. Und das gilt selbst für Menschen, die sonst eher nicht in Superlativen sprechen. All diese enthusiastischen Erasmus-Berichte und das Internet-Video mit dem Titel "Wenn Erasmus einen Trailer hätte" vermitteln einem fast gehirnwäsche-artig Hoffnungen, die man sonst nur bei Kandidaten diverser Reality-Castingshows erlebt. Damit bekommt man den Eindruck, als wäre es keine Möglichkeit, sondern eine Pflicht, sich selbst ins Auslands-Abenteuer zu stürzen. So habe auch ich an das Erasmus-Wunder geglaubt— zumindest bis zu dem Punkt, als ich Erasmus ausprobiert habe.

Es war die kitschige Vorstellung, dass ich meinen Enkelkindern später, wenn ich in meinem Schaukelstuhl vor mich hin wippe, von meinem Auslandssemester in Italien erzählen würde. Ich war davon überzeugt, dass ich ähnlich wie Julia Roberts in dem furchtbar schnulzigen Drama Eat, pray, love durch das Leben in der Fremde nicht nur eine andere Kultur kennenlernen, sondern auch mich selbst finden würde. Und so hatte ich mir, bevor ich überhaupt im Zug saß, einen eigenen Trailer voller glücklicher und aufregender Erasmus-Momente zusammengestellt.

Auch bei Erasmus ist der Trailer besser als der Film

Spoiler-Alarm: Es war dann nicht so. Ähnlich wie Julia Roberts habe ich in Italien wahnsinnig viel gegessen und konnte am Ende auch voller Stolz Speisen ohne fremde Hilfe auf Italienisch bestellen (insofern man es sich finanziell überhaupt einmal leisten konnte), nur richtig heimisch habe ich mich nie gefühlt.

Außerdem habe ich trotz unzähliger Kirchenbesuche nicht meinen persönlichen Gott gefunden und ich werde auch nie in einer dieser Statistiken, die aufzeigen, wie viele Menschen ihre große Liebe durch ihren Erasmus-Aufenthalt gefunden haben, auftauchen (genauso wenig wie meine Erasmus-Freunde). Es ist auch keines dieser mysteriösen Erasmus-Babys entstanden.

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Wie so oft waren schon alle Highlights des Films im Trailer und die Langversion entpuppte sich als schlechte amerikanische High-School-Komödie. Ähnlich wie bei Eat, pray, love wurde aus einer 2-minütigen aufregenden Scheinwelt die 140-minütige ernüchternde Realität. Natürlich liegt die Vermutung nahe, dass das an mir oder der Wahl meines Ortes gelegen haben könnte. Allerdings waren meine Freunde nach ihren Erasmus-Semestern ähnlich desillusioniert wie ich. Kaum jemand, mit dem ich darüber gesprochen habe, hat vor Erasmus-Enthusiasmus gesprüht.

Während ich im Ausland damit beschäftigt war, mich mit längst verdrängten Gefühlen auseinanderzusetzen, habe ich mich oft an Zuhause zurückerinnert. Besonders an die Menschen, die mir vor meinem Auslandssemester mit strahlenden Augen von ihren Erasmus-Abenteuern erzählten.

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Also habe ich darauf gewartet, dass ich mich irgendwann daran gewöhnen würde. Nur zog sich diese Eingewöhnungsphase über mein gesamtes Auslandssemester hinweg. Die kleinsten ländertypischen Unterschiede haben in mir ein Heimweh ausgelöst, dass mir zuvor nur noch aus vagen Erinnerungen an das erste Ferienlager bekannt war. Nach wöchentlichen Einkäufen habe ich bis zuletzt die für mich notwendige Stresszigarette geraucht und italienische Bahnhöfe und deren komische Gestalten blieben für mich eine angsteinflößende Zumutung. Von der Uni ganz zu schweigen. Auch wenn wir täglich im gleichen Raum saßen, war ich für meine italienischen Kommilitonen und Dozenten nie mehr als ein exotisches Zoo-Tier, was selbst bei der kleinsten Regung verächtlich gemustert wurde.

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Es ist eine einzige Singlebörse voller Betrunkener

Das Schöne am Erasmus ist deswegen eigentlich die Tatsache, dass man nicht allein ist. Die berühmt-berüchtigten Erasmus-Organisationen—sozusagen das Auffangbecken deiner wildesten Erasmus-Sex-und-Suff-Fantasien—werden auch dich zumindest am Anfang in ihren Bann ziehen. Mehr aus Verzweiflung als aus wirklichem Interesse begibt man sich dann in einen dieser schäbigen Räume, in der dir mit einer PowerPoint-Präsentation und zahlreichem Videomaterial eingeredet wird, dass du ohne diese verschüchterten Erasmus-Frischlinge und die unnatürlich-motivierten Erasmus-Organisatoren höchstwahrscheinlich nicht die Zeit deines Lebens haben wirst.

Auch wenn dich eigentlich keiner zwingt, dich dein ganzes Semester an diese Leute zu hängen, wird dir doch nach vielen kläglichen Versuchen, Kontakt mit Einheimischen aufzunehmen, bewusst, dass Erasmus-Leute immer noch besser sind als für die nächsten Monate alleine herumzuirren.

A little fever didn't stop me from a night out… And a HUGE SELFIE! — Step (@ChasingStep)27. Februar 2015

Also begegnest du hier potentiellen Freunden, Affären und anderen bald wieder-vergessenen Gesichtern. Diese praktisch Namenlosen sieht man in den nächsten Monaten meist nur lallend an der Bar, nach einiger Zeit dann auf dem Boden daneben, oder aber sie tanzen auf jeder möglichen Anhöhe und grölen Lobhymnen auf das Erasmus-Leben.

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Man erkennt schnell, dass sie die Protagonisten des Erasmus-Trailers sind. Also die, die dir durch ihre Betrunkenheit zumindest im Video das Auslandssemester schmackhaft gemacht haben—nur, dass keiner dachte, dass sie wirklich die ganze Zeit betrunken wären.

Das Kulturprogramm geht in Sangria unter

Neben dem wöchentlichen Saufgelage, zu dem du dich nun einzufinden hast, haben die Erasmus-Organisationen aber meistens auch ein Alibi-Kulturprogramm zu bieten, an dem du und deine Lebensabschnittsgefährten unbedingt teilnehmen solltet, um wirklich etwas über das Leben im jeweiligen Land zu erfahren.

Du wirst aber weniger die Eindrücke des Landes mit nach Hause nehmen als das Gefühl, wie unselbstständig man noch in seinen Zwanzigern sein kann. Städtetouren werden eigentlich nur verkatert oder schon wieder halb betrunken unternommen. Das löste in mir den Verdacht aus, dass ich von außen betrachtet wahrscheinlich eher einem Ballermann-Touristen auf Mallorca gleiche, als das, was später mal zur Elite der Gesellschaft gehören sollte.

Nach der Rückkehr wird jede Minute genutzt, um über die Klischees zu reden, die nur in jedem zweiten Reiseführer stehen.

An sich ist das auch gar kein Problem, denn zu fast jedem Studierenden gehört der Alkohol genauso wie eine Grundausstattung an Werbekugelschreibern. Dann verstehe ich aber nicht, wieso jeder von den einzigartigen und lebensverändernden Erfahrungen spricht, wenn man sich auch in einem fremden Land wie immer oder noch schlimmer benimmt.

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Denn jetzt mal ehrlich: Wer glaubt, dass er durch Betrunkenheit und Sightseeing ein Land am besten kennenlernt, der gehört auch zu dieser Sorte von Touristen, die Sehenswürdigkeiten lieber fotografieren, als sie zu betrachten. Es gibt auch viele Erasmus-Studierende, die ihren 25-Kilo-Koffer mit der Illusion gepackt haben, eine fremde Kultur zu erfahren. Nur passiert das in der Praxis eher selten.

Was am Ende übrigbleibt, sind nur Klischees

Am Ende wird diese Fremdes-Land-Euphorie dann meistens im jeweiligen Ort gelassen und gegen eine riesengroße Landesflagge ausgetauscht, die man sich samt den netten Abschiedsworten der kurzlebigen Freundschaften voller Stolz an die heimische Zimmerwand hängt. Während wir glauben, dass uns allein diese Symbolik zu einem halben Einheimischen macht, ähneln wir doch eher den Touristen Roms, die mit Pizza, einem Aperol Sprizz und dem Münzen werfen am Trevi-Brunnen dem italienischen La Dolce Vita nacheifern.

Trotzdem denken viele, dass nach ihrem Erasmus-Semester plötzlich zwei Herzen in ihrer Brust schlagen würden. Da wird jede Minute genutzt, um die Klischees zu erzählen, die nur in jedem zweiten Reiseführer stehen, bei diversen internationalen Fußballwettkämpfen werden jetzt zwei Mannschaften angefeuert und das Problem, sich plötzlich wieder in seiner Muttersprache unterhalten zu müssen (wie ungewohnt), wird unnötig oft thematisiert.

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Du glänzt mit deiner neu gewonnenen Internationalität aber nicht nur bei Freunden und der Familie, sondern auch auf deinem Lebenslauf—zumindest wenn man den zahlreichen Ratgebern glaubt, die meinen, dass Auslandserfahrung jeglicher Art die Chancen auf dem Arbeitsmarkt steigert. Sind Erasmus-Studierende wirklich flexible, unabhängige und verantwortungsbewusste Kosmopoliten?

Allein die Tatsache, dass man zwischen zahlreichen alkoholischen Getränken nicht über brisante politische Themen diskutiert, sondern meistens nur, mit wem man heute "Matratze, wechsel dich" spielt, lässt mich ernsthaft daran zweifeln. Man gewinnt neue Erfahrungen und wird mit Sicherheit auch selbstständiger, nur werden unsere zukünftigen Chefs von dem Begriff "Erasmus" ähnlich geblendet wie wir. Selbstständigkeit und Erfahrungsschatz lassen sich nämlich nicht nur ausbauen, wenn man die Landesgrenzen übertreten hat.

Doch auch der kleine Auslandsbonus, mit dem man heute noch gut beim neuen Chef punkten kann, wird bald verschwinden. Erstens hat heutzutage sowieso gefühlt jeder bereits entweder ein Austauschjahr, Au Pair-Programm, Work&Travel oder Auslandssemester gemacht. Zweitens werden die Chefs der nächsten Generation auch gewisse Erasmus-Länder in gewisse Kategorien einordnen. (Ja, das gilt besonders für euch, Party-Semestler aus Spanien!)

Das "lebenslange Lernen" gilt eher für den Umgang mit Enttäuschungen

Der Titel des EU-Programms, "Lebenslanges Lernen", zu dem das Erasmus-Programm gehört, lässt also viel Raum für Interpretationen. Lernen wirst du beispielsweise, wie wenig Geld man wirklich zum Reisen braucht, wie man Trinksprüche in verschiedenen Sprachen aufsagt und wie gut du plötzlich die Landessprache unter Alkoholeinfluss beherrschst. Nur sind das Lerninhalte, die dir für dein späteres Leben weniger helfen werden und ich möchte ebenfalls behaupten, dass sich viele "Die Zeit ihres Lebens" irgendwie spektakulärer vorstellen.

In sechs Monaten—oder auch in einem Jahr—wird man nicht zu einem Einheimischen, sondern eher zu einem Langzeiturlauber, der vielleicht am Ende mehr von dem Land versteht als ein Tourist, aber immer noch erschreckend wenig für jemanden, der dort ein halbes—oder ganzes—Jahr gelebt hat. Von der schönsten Zeit des Lebens sprechen die meisten Erasmus-Rückkehrer eh nur mit einem Augenzwinkern.

Mein Blick fasst meinen persönlichen Spaßfaktor beim Napoli Spring Break perfekt zusammen. | Foto: Facebook

Dein Leben wird sich im Erasmus-Semester nicht um 180 Grad wenden. Du kannst an den Herausforderungen wachsen, die dir dort gestellt werden. Sie werden aber auch größtenteils dafür sorgen, dass du dir dein Zuhause herbeisehnst. Du wirst andere Dinge erleben als in deiner Heimatstadt. Aber dafür verpasst du auch die Erlebnisse in deiner Heimatstadt selbst. Egal, wo du also bist—du wirst etwas verpassen. Das wird dir besonders nach deiner Rückkehr auffallen.

Man entwickelt den paranoiden Gedanken, immer zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Falls du also vorhast, dein Erasmus-Semester anzutreten, dann lass dich nicht von den Behauptungen der sogenannten "Generation Erasmus" blenden. Man hat nicht die Zeit seines Lebens, nur weil man den Studienort ins Ausland verlagert.

Du wirst schon Spaß haben, aber erwarte nicht die glitzernde und schillernde Erasmus-Welt, mit der jeder—innerlich desilllusionierte—Erasmus-Rückkehrer zumindest für die Außenwelt den Glauben an den Trailer aufrechterhalten will.