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Warum die Meldung von der ,Jihad-Hauptstadt Wien‘ falsch ist

Dass Wien in der Radikalisierung von westlichen Kämpfern eine Rolle spielt, ist unbestritten. Dass die Stadt deshalbt nicht gleich zur „Jihadisten-Hochburg" wird auch.

Die Tageszeitung Österreich titelte gestern auf ihrer Website: „Experte: Wien ist ,Jihad-Hauptstadt'". Im Artikel selbst wird die Headline dann bereits ein wenig entschärft und von einer „Art Jihadisten-Hochburg" gesprochen.

Berufen tut sich das Boulevard-Blatt dabei auf einen Bericht von Servus Journal, der gestern vom Privatsender Servus TV ausgestrahlt wurde. In diesem Bericht, der sich mit den zunehmenden ethnischen, religiösen und politischen Spannungen in Bosnien auseinandersetzt, kommt ein Kriminologe aus Sarajewo zu Wort, der Wien als „das Zentrum der Radikalisierung in der EU" bezeichnet und behauptet, dass sämtliche bosnischen Männer, die nach Syrien in den Jihad gezogen sind, in Österreich indoktriniert wurden.

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Tatsächlich weist Österreich mit etwa 17 sogenannten Foreign Fighters pro 1 Million Einwohner eine der höchsten europäischen Dichten von Kämpfern in Syrien oder dem Irak auf. Wien deshalb als „Jihad-Hauptstadt" zu bezeichnen, ist jedoch ziemlich übertrieben. „Wenn das global geäußert wird, ist es falsch", sagt etwa Rüdiger Lohlker, Professor für Islamwissenschaften an der Universität Wien. „Das ist eine völlig verkürzte Meldung, die unnötige Panikmache betreibt."

Dass Wien in der Radikalisierung von westlichen Kämpfern eine Rolle spielt, ist unbestritten. Dass sicher nicht „alle bosnischen Männer", die nach Syrien in den Jihad zogen, hier radikalisiert wurden, auch. „Seit Ende 2010 ist eine verstärkte Vernetzung zwischen österreichischen und deutschen Salafisten zu beobachten", erklärt Thomas Tartsch, Terrorismusforscher und Berater der Initiative Liberaler Muslime in Österreich. Er spricht auch davon, dass Wien „aufgrund seiner Nähe zum Balkan ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt für Aktvivitäten der Szene" geworden ist.

Eine Aussage, der auch Lohlker teilweise zustimmt: „Dass Personen in Wien eine gewisse Rolle bei der Radikalisierung in die Gewalt hinein gespielt haben, ist sicher richtig." Er stellt aber auch die Frage, nach welchen Maßstäben wir den Prozentsatz von Radikalisierung überhaupt messen und wie eine multiethnische, global vernetzte Szene überhaupt einem Land zugeordnet werden kann. Auch verweist der Islamwissenschaftler auf die Bedeutung des Internets: „Ignoriert wird außerdem die Rolle des Internets, das nicht an nationale Grenze gebunden ist."

Thomas Tartsch warnt zwar vor der „wachsenden Zahl autonom handelnder Dschihadisten" und weist darauf hin, dass im Prinzip jederzeit und überall mit Anschlägen auf Soft Targets gerechnet werden müsse. Trotzdem sei die Gefährdungslage in Wien im Vergleich zu Brüssel, Paris und London als Hot Spots extremistischer Islamisten wesentlich geringer. „Dschihadisten sehen Österreich eher als Rerutierungs-, Finanzierungs-, und Rückzugsraum", erklärt Tartsch abschließend.

Paul auf Twitter: @gewitterland