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​Putin vs. Erdogan: Wer ist der bessere Autokrat?

Geld, Macht, Personenkult – Wir haben die beiden Alpha-Machos direkt gegeneinander antreten lassen.
Alle Fotos in der Fotomontage: imago

Zeitweise war das Verhältnis zwischen Russland und der Türkei so schlecht, dass der Vizepräsident des russischen Parlaments öffentlich darüber nachdachte, eine Atombombe im Meer direkt neben Istanbul zu zünden. Gestern nun trafen sich in St. Petersburg der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und sein russischer Kollege Wladimir Putin und erklärten den Streit zwischen ihren beiden Ländern für beendet. Es war das erste Treffen der beiden, seitdem ein türkischer Pilot im November letzten Jahres ein russisches Kampfflugzeug abgeschossen hatte.

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Aber irgendwie war schon damals klar, dass Putin und Erdoğan wieder zusammenfinden würden. Zu groß sind die Gemeinsamkeiten: Beide haben ein eher kompliziertes Verhältnis zum Westen, fühlen sich oft missverstanden und können ziemlich ungemütlich werden.

Beide sind gleichzeitig felsenfest davon überzeugt, dass es ihrem jeweiligen Land bestimmt ist, zu seinem Großmachtstatus zurückzufinden. Es ist also praktisch vorprogrammiert, dass sie bald auch wieder aneinandergeraten werden. Aber egal ob sie sich gerade vertragen oder gegenseitig die Pest an den Hals wünschen: Erdoğan und Putin sind sich in vielen Aspekten so ähnlich, dass es höchste Zeit ist, die beiden mal einem direkten Vergleich zu unterziehen. Ring frei für den ultimativen Wettkampf der Macho-Autokraten!

Die Liebe des Volkes

Erdoğan: Bei der letzten Präsidentschaftswahl 2014 erhielt Erdoğan ganze 51,95 Prozent der Stimmen. Der gescheiterte Putschversuch im Juli dürfte ihm aber nochmal einen gewaltigen Popularitätsschub gegeben haben: Sogar Erzfeinde wie die republikanische Partei CHP mussten sich zähneknirschend hinter ihm einreihen, um nicht mit den Putschisten in einen Topf geworfen zu werden. Durch ihren gewaltsamen Übernahmeversuch haben die Putschisten also genau das Gegenteil erreicht: Gegen Erdoğan zu sein, ist im Moment für viele Türken dasselbe, wie gegen die Türkei zu sein.

Foto: imago | ZUMA Press

Putin: Was Beliebtheit im eigenen Volk angeht, bläst Putin Erdoğan allerdings locker aus dem Wasser. Bei einer Umfrage im März erklärten stattliche 74 Prozent der Russen, sie würden ihn für eine weitere Legislaturperiode wählen. Das war nicht immer so: Vor vier Jahren waren nur 40 Prozent der Russen so überzeugt von ihrem Präsidenten. Was seitdem passiert ist? Die Krim-Krise, der Ukraine-Krieg und die militärische Intervention in Syrien. Offensichtlich finden viele Russen es besonders attraktiv, wenn ihr Präsident immer wieder schweres Kriegsgerät auffahren lässt und damit den Westen in eine peinliche Situation nach der nächsten bringt.

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Ergebnis: Putin 1, Erdoğan 0.

Die Vision

Putin: Was will Putin eigentlich? Zahlreiche Analysten zerbrechen sich darüber den Kopf—und überraschenderweise kommen dabei nicht wenige von ihnen zu dem Schluss, dass der russische Präsident das selbst nicht so genau weiß. Einen kohärenten Plan scheint er oft nicht zu besitzen, stattdessen wird sein Handeln davon motiviert, Stärke zu demonstrieren und die Schwächen seiner Gegner auszunutzen. Leider ist Politik kein Boxkampf. Auch wenn die Russen ihn bewundern—für das Land enden die meisten seiner Aktionen katastrophal.

Erdoğan: Der türkische Präsident ist zwar auch ein ziemlicher Instinkt-Politiker, aber er hat trotzdem einen Plan: Er will unbedingt noch bis zum hundertjährigen Bestehen der türkischen Republik im Jahre 2023 Präsident sein. Außerdem scheint er tatsächlich eine Vision zu haben, was aus der Türkei unter seiner Führung werden soll. Die kann man ganz gut aus den Bauvorhaben der letzten Jahre ablesen: ein neues, aus Beton und Glas gegossenes osmanisches Reich, nur deutlich frommer als das Original. Sozusagen eine riesige Mall, in der jedes vierte Geschäft eine Moschee ist. Eine gruselige Vision, aber immerhin eine Vision.

Ergebnis: Putin 0, Erdoğan 1.

Der Umgang mit Kritikern

Erdoğan: Die türkische Regierung war schon vorher nicht zimperlich, wenn es darum ging, unliebsame Journalisten, Staatsanwälte und Richter feuern zu lassen oder gleich ins Gefängnis zu stecken. Direkt nach dem Putsch lief diese Maschinerie aber auf Hochtouren. Seitdem wurden in der Türkei insgesamt fast 75.000 Menschen vor allem in der Justiz und im Bildungssystem festgenommen, suspendiert oder entlassen, obwohl es bei den allermeisten mehr als unwahrscheinlich ist, dass sie irgendwas mit dem Putsch zu tun hatten. Auch die mehrheitlich kurdische Oppositionspartei HDP hat es alles andere als einfach. Die türkische Regierung versucht praktisch alles, um sie zu zermürben, hebt sogar die Immunität der Abgeordneten auf. Klar ist: Der Putsch hat es Erdoğan noch einfacher gemacht, die Opposition mundtot zu machen.

Gedenken an den ermordeten Oppositionellen Nemzow, Moskau | Foto: imago | ZUMA Press

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Putin: Auch in Russland gibt es deutlich Angenehmeres, als gegen Präsident Putin die Stimme zu erheben. Nicht nur, dass sich offizielle und weniger offizielle Stellen alles Mögliche einfallen lassen, um oppositionelle Politiker und Aktivisten zu schikanieren. Am unheimlichsten ist, dass Oppositionelle und unbequeme Journalisten in Russland mit schöner Regelmäßigkeit einfach ermordet werden, oft genug auf offener Straße. Erst letztes Jahr wurde der führende Oppositionspolitiker Boris Nemzow in Moskau hingerichtet, und niemand glaubt, dass er der Letzte sein wird.

Ergebnis: Gleichstand

Der Kult

Putin: Der Ex-KGB-Agent mit dem Charisma eines gekochten Weißkohls kommt einem nicht unbedingt vor wie die ideale Projektionsfläche für einen Personenkult, und er wird auch mit Sicherheit nie mit der Verehrung mithalten können, die Josef Stalin umgab. Trotzdem entwickelt sich auch um Wladimir Putin schon länger ein handfester Kult: Zum Beispiel gibt es in Russland eine lange Tradition von Putin-Songs, in denen Pop-Sternchen sich einen "Mann wie Putin" wünschen oder zwei Moskauer Rapper behaupten, sie seien "so hart wie Putin". Außerdem wird Putins Gesicht auf so ziemlich alles gedruckt, was bei 3 nicht weglaufen kann: T-Shirts, iPhone-Hüllen, Parfum-Flakons. Mittlerweile hat sich sogar ein radikal-orthodoxer Aktivist mit der These zu Wort gemeldet, dass Wladimir Putin zwar noch nicht Gott sei, aber wahrscheinlich sehr bald zu einem gottgleichen Status erhoben werden könnte.

Foto: imago | ITAR-TASS

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Erdoğan: Seine Anhänger halten Erdoğan für das Beste, was der Türkei je passieren konnte, und er gibt ihnen da absolut Recht. Wer den Präsidenten kritisiert, so geht die Logik, kritisiert das türkische Volk, das ihn ja schließlich gewählt hat. Mittlerweile stimmen fast 50 Prozent der Medien in der Türkei routinemäßig das Loblied des "Beyefendi" an, des obersten Herrn. Da kann es schonmal so weit kommen, dass verzückte Parlamentarier behaupten, Erdoğan zu berühren, sei "eine Form der Anbetung", ein anderer erklärte 2014, der Präsident trage "alle Eigenschaften Allahs in sich". Das geht mittlerweile sogar einigen seiner alten islamistischen Weggefährten zu weit. Sie müssen allerdings damit rechnen, als "Verräter" gebrandmarkt zu werden, wenn sie es wagen, den Kult zu kritisieren.

Ergebnis: Gleichstand

Der Kriegsherr

Erdoğan: Früher galt Erdoğan als die beste Chance der Türken, den jahrzehntelangen Bürgerkrieg mit den Kurden im Südosten des Landes beizulegen. 2013 hatten die Türkei und die PKK gerade einen historischen Waffenstillstand unterzeichnet, als der Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien die ganze Region wieder durcheinander warf. Die Regierung Erdoğan fing an, in Syrien mit islamistischen Gruppen zu kooperieren, die auch gegen die Kurden in Syrien kämpften. Das sorgte dafür, dass bald auch wieder Scharmützel zwischen militanten Kurden und der türkischen Armee ausbrachen. Die Türken bombardierten kurdische Stellungen, die PKK kündigte den Waffenstillstand wieder auf, und seitdem tobt der Krieg in den kurdischen Regionen. Zuletzt soll die türkische Luftwaffe sogar Streubomben auf Städte in der Südosttürkei geworfen haben. Es gibt so gut wie keine unabhängigen Angaben über die Opferzahlen auf beiden Seiten, aber wahrscheinlich gehen die Toten jetzt schon in die Hunderte.

Eine Frau vor ihrem zertrümmerten Haus im südtürkischen Cizre | Foto: imago | ZUMA Press

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Putin: Anders als Erdoğan wurde Putin der Krieg praktisch in die politische Wiege gelegt. Als eine seiner ersten Amtshandlungen brach er den zweiten Tschetschenienkrieg 1999 vom Zaun, nachdem in Moskau und Südrussland mehrere Wohnhäuser unter ziemlich undurchsichtigen Umständen in die Luft geflogen waren. Bei diesem Krieg verloren zwischen 50.000 und 80.000 Soldaten und Zivilisten ihr Leben. 2008 folgte der eher kurze Georgien-Krieg und 2014 die schleichende Invasion der Krim und der Ostukraine. Seit September 2015 hat Putin Russland zum ersten Mal in einen Krieg außerhalb der ehemaligen Sowjetunion verwickelt: Die russische Militärintervention in Syrien soll seinem Verbündeten Baschar al-Assad den Rücken stärken und richtet sich offiziell nur gegen "Terroristen". Menschenrechtsorganisationen sprechen aber von über 2.000 getöteten Zivilisten, vor Kurzem kam dann noch heraus, dass die russische Luftwaffe in Syrien auch Streubomben einsetzt.

Ergebnis: Putin 3, Erdoğan 1

Das Geld

Erdoğan: Wie viel Geld Erdoğan tatsächlich besitzt, ist schwer zu sagen, da er das Vermögen offenbar auf seine Kinder und Schwiegerkinder, zahlreiche Investitionen und Stiftungen verteilt hat. In Istanbul lebte er immerhin in einem 35 Millionen Euro teuren Villenkomplex, der offiziell seinen Kindern gehört, und er soll ganze acht Schweizer Bankkonten besitzen. Ein paar hundert Millionen sollten ihm also schon zur Verfügung stehen.

Putin: Egal wie viel Mühe er sich noch gibt, mit Putin wird der Türke leider nie mithalten können. Als die Sowjetunion auseinanderfiel, wurde das "Volksvermögen" leider nicht an das Volk zurückgegeben, sondern zwischen einigen mächtigen (und extrem aggressiven) Männern aufgeteilt. Es gibt Analysten, die ernsthaft behaupten, dass Russland eigentlich gar keine Regierung hat, sondern eher eine herrschende Kleptokratie. An der Spitze dieser gigantischen Gelddruckmaschine steht Putin, dessen Vermögen deshalb von manchen Experten auf rund 200 Milliarden Dollar geschätzt wird—damit wäre er nicht nur der reichste Mann der Welt, sondern vielleicht sogar der reichste Mann der Geschichte. Sorry, Erdoğan!

Ergebnis: Putin 1, Erdoğan 0.

Das Ergebnis

Der Gewinner nach Punkten: Wladimir Wladimirowitsch Putin! Da muss Erdoğan schon um einiges früher aufstehen, wenn er noch aufholen will.

Foto: imago | UPI Photo