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Popkultur

Der „Arzt“, der Männer mit Ziegenhoden bestückte und Politiker werden wollte

John Romulus Brinkley war nicht nur ein Quacksalber vor dem Herrn, sondern auch ein Meister der Manipulation. Jetzt wurde mit ‚NUTS!' eine Doku über sein bizarres Leben veröffentlicht.

Foto von John Romulus Brinkley aus dem Film ‚NUTS!' | bereitgestellt von Big Time PR

Von den vielen Dokumentationen, die beim diesjährigen Sundance Film Festival bereits gezeigt wurden, brannten sich einige wirklich ins Gedächtnis ein—darunter zum Beispiel ein bemerkenswert intimes Vérité-Porträt über von Sexskandalen erschütterte Politiker (Weiner), ein eindringliches Interview-Werk von Werner Herzog zur Frage, ob das Internet von sich selbst träumt (Lo and Behold), und ein Doku-Fiktions-Hybrid über die TV-Journalistin Christine Chubbuck (Kate Plays Christine). Wenn man jedoch Ideenreichtum und schlagzeilenträchtige Thematik als Maß nimmt, dann führt kein Weg an Penny Lane vorbei. In der viel diskutierten Dokumentation NUTS! der Regisseurin geht es um den Funk- und Radiopionier, Quacksalber und Gouverneurskandidat John Romulus Brinkley, der impotenten Männern Ziegenhoden einpflanzte und behauptete, dass sie durch dieses Vorgehen geheilt werden würden.

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Entsprach das der Wahrheit? Natürlich nicht. Vom Ende des Ersten Weltkriegs bis 1944 konnte Brinkley die Massen jedoch trotzdem jahrzehntelang von seinen Methoden überzeugen. Mit seinen Operationen, die er in seinem Krankenhaus im US-Bundesstaat Kansas und später auch in Texas durchführte, verstümmelte er Dutzende Männer und viele seiner Patienten starben auch. Die damals entstehende American Medical Association versuchte mehrmals, Brinkley aufzuhalten, und schaffte es schließlich, ihm in Kansas sowohl die Approbation als auch die Funklizenz zu entziehen. Allerdings hatte der „Arzt" mithilfe seines Vorgehens und seiner dubiosen medizinischen Produkte vorher schon mehrere Millionen Dollar verdient.

Durch die Mischung von einfachen, aber effektiven Animationen, unterschiedlichen Sprechern und haufenweise Archivaufnahmen wird ein humorvolles und gleichzeitig packendes Porträt von Brinkley erschaffen und NUTS! lässt den Zuschauer sogar fast an die Überzeugungen des charismatischen „Arztes" glauben, der ohne wirkliche Ausbildung einfach behauptete, Mediziner zu sein. Er konnte aber auch verdammt überzeugend rüberkommen.

„Man würde doch lieber in einer Welt leben, in der seine Geschichten wahr sind", meinte Lane wenige Stunden vor der Premiere ihrer Dokumentation zu mir. Die 37-jährige Professorin an der Colgate University, die auch schon bei der virtuosen Avant-Garde-Doku Our Nixon über den ehemaligen US-Präsidenten Regie führte, konnte es kaum erwarten, ihr aktuellstes Werk zu präsentieren. „Wenn ich anderen Leuten von der ganzen Sache erzähle, dann werde ich oft gefragt, ob seine Methoden auch wirklich funktioniert haben", erzählte sie mir.

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In NUTS! manifestiert sich der Eindruck von Brinkley vor allem durch komisch anmutende Videos und gefundene Audio-Aufnahmen: Darin redet er zuerst über die bizarre Schönheit von Blumen oder Tarpunen, um dann plötzlich darüber zu sprechen, wie altertümliche Inka-Hautcremes die Sehkraft verbessern können. Ein Großteil der Geschichte wird jedoch auch in sechs animierten Kapiteln dargeboten—darin wird Brinkley als ein Mann entlarvt, der um sich herum einen perversen Kult aufbaute (so behauptete seine Frau selbst 40 Jahre nach seinem Tod noch auf ihrem Sterbebett, dass die Ziegenhoden-Transplantationen funktioniert hätten und immer noch durchgeführt werden würden) und für tragische Schicksale verantwortlich war (sein Sohn, der lange und scheinheilige Vorträge über sich ergehen lassen musste, beging in den 70er Jahren Selbstmord). Der Möchtegern-Politiker war ein genauso herausstechender Populist wie Donald Trump, dessen umfassender Einsatz neuer Medien an Brinkleys Vorgehen erinnert.

Nachdem sie in einer Bibliothek über Brinkleys Biografie gestolpert war, wollte Lane sofort einen Film über den „Arzt" machen. „Das wird ein Kinderspiel", dachte sie damals und wunderte sich, dass eine solch außergewöhnliche und skurrile Geschichte noch nicht auf die Leinwand gebracht worden war. Außerdem war Lane davon überzeugt, Brinkleys Leben auf eine sehr direkte Art und Weise aufarbeiten zu können. Letztendlich dauerte der ganze Prozess dann acht Jahre und der Film vermischt animierte Passagen mit etwas traditionelleren Sprechabschnitten und Archivfotos sowie -filmen. Zwei Jahre nach dem Start des Projekts musste Lane feststellen, dass es nicht genügend Archivaufnahmen von Brinkley gibt, um die Geschichte in dem Umfang zu erzählen, den sie sich erhofft hatte. Deshalb entschied sie sich dazu, die bereits erwähnten Animationen einzubauen. „Es war einfach nicht möglich, den Zuschauern diesen Mann allein durch Archivmaterial wirklich nahe zu bringen", meinte die Regisseurin.

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Wenn man sich etwas genauer mit Brinkley auseinandersetzt, dann erkennt man vor allem einen Mann, dessen Vorgehen ruhigen Gewissens als das Werk eines Soziopathen, dem seine Geschichten selbst relativ egal sind, bezeichnet werden kann. Ursprünglich stammte Brinkley aus North Carolina, aber erfand sich in jedem Ort neu. Als schamloser Selbstdarsteller trat er als hitzköpfiger Populist auf, der in einer Ära der wachsenden Einkommensungleichheit dem politischen Establishment drohte. Brinkleys Eigenwerbung wurde dabei in einer vorher quasi noch nie dagewesenen Art und Weise über die Medienkanäle verbreitet, da er mit seinem ungewöhnlich leistungsstarken Radiosender Hörer in den ganzen USA erreichte (später erlangte der bekannte Rock'n'Roll-DJ Wolfman Jack übrigens durch den gleichen Sender Berühmtheit).

Nachdem ihm seine medizinische Approbation entzogen worden war, trat Brinkley im Jahr 1930 bei der Wahl zum Gouverneur von Kansas an und wäre auch als Sieger hervorgegangen, wenn die etablierte Polit-Maschine der Demokraten mithilfe einer kurzfristigen Regeländerung nicht knapp 50.000 Wahlzettel als ungültig erklärt hätte.

Wenn uns Brinkleys Geschichte eine Sache lehrt, dann die, dass Männer wohl alles tun, um ihren kaputten Penis zu reparieren. Wenn man das Ganze jedoch etwas philosophischer betrachten will, dann geht es in NUTS! vor allem darum, wie Menschen durch harte Zeiten dazu gebracht werden, an einfache Erklärungen für komplexe Sachverhalte, an Wunderheilungen und an schwadronierende politische Leitfiguren zu glauben. Genauso wie die zeitgenössischen Politiker, die sich unsere Ängste zunutze machen, war auch Brinkley ein Meister der Manipulation sowie ein Experte der Täuschung. Er war extrem geschickt darin, „die Prinzipien des Populismus zu nutzen, ohne dem Ganzen auch nur den Hauch von Substanz zu geben"—so drückte es Lane aus. Was mir an Brinkley jedoch am meisten Angst macht, ist die Tatsache, wie gut er in die heutige Zeit passen würde.