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In der Türkei verhängt Erdogan den Ausnahmezustand, in Frankreich ist er mittlerweile Normalität

Caesar nutze den Ausnahmezustand aus, Hitler auch. Warum das Aushebeln der Demokratie auch heute gefährlich ist.

Foto: imago | Depo Photos

In Zeitungen spricht man oft lapidar von Ausnahmezustand, wenn etwas Großes und Unerwartetes passiert: Wenn plötzlich Schnee fällt und eine Stadt lahm legt, oder wenn Fußballfans nach einem gewonnenen Spiel die Straßen fluten. Gilt jedoch der juristische Ausnahmezustand in einem Land, werden viele demokratischen Regeln außer Kraft gesetzt. Prinzipien, nach den Rechtsstaaten funktionieren, liegen auf Eis. Nach dem gescheiterten Putschversuch verkündete Präsident Recep Tayyip Erdoğan gestern nun den Ausnahmezustand in der Türkei. Für drei Monate soll er gelten—erstmals, aber niemand weiß heute, ob es dabei bleiben wird.

Laut der türkischen Verfassung bedeutet der Ausnahmezustand, dass Erdoğan weitgehend per Dekret regieren kann, also Gesetze mehr oder weniger in Eigenregie erlassen kann. Er kann Ausgangssperren verhängen, die Versammlungsfreiheit einschränken und Demonstrationen verbieten—sogar Versammlungen in geschlossenen Räumen. Die Regierung kann nun unliebsame Zeitungen, Magazine oder Bücher jederzeit verbieten. Sie kann den Verkehr in der Luft, auf See und auf dem Land kontrollieren und in bestimmten Gegenden sogar ganz abriegeln.

Erdoğan beschwichtigte und sagte, dass er die Rechte und Freiheiten nicht beschränken werde. Und der Ministerpräsident Mehmet Şimşek twitterte: "Das Leben der normalen Leute wird nicht beeinträchtigt und nicht unterbrochen, alles wird Business as usual sein."

6. Life of ordinary people and businesses will go un-impacted, uninterrupted, business will be as usual. We're committed to market economy
— Mehmet Simsek (@memetsimsek) 20. Juli 2016

International applaudiert aber trotzdem niemand. Zu groß ist die Angst, dass Erdoğan den Ausnahmezustand nutzt, um seinen autoritären Kurs weiter voranzutreiben. Schon jetzt wurden über 6.000 Menschen in der Türkei verhaftet und Tausende Beamte entlassen, darunter ein Fünftel aller Staatsrichter. Der Ausnahmezustand wird es noch einfacher machen, unliebsame Menschen zu verhaften und die Opposition weiter zu unterdrücken. Das war zum Beispiel schon in Thailand 2010 so: Dort wurden Notstandsrechte benutzt, um Hunderte Verdächtige ohne Anklage und Urteil festzuhalten. Die Regierung hat persönliche und geschäftliche Bankkonten eingefroren und Politiker, Journalisten und andere Personen des öffentlichen Lebens in militärischen Anlagen gefangen gehalten. In Frankreich ist der Ausnahmezustand mittlerweile Normalzustand. Er gilt bereits seit den Terroranschlägen vom 13. November 2015. Nun, nach dem Anschlag in Nizza verlängerte ihn die Regierung gestern erneut bis Anfang 2017—zum vierten Mal. Der Innenminister hat so das Recht, Verdächtige unter Hausarrest zu stellen und die Bewegungsfreiheit einzuschränken. Die Polizei darf ohne die Erlaubnis eines Richters nachts Wohnungen durchsuchen. Der französische Senat möchte außerdem dafür sorgen, dass Kundgebungen leichter verboten werden können. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kritisierte schon bei den ersten Verlängerungen, dass der französische Staat die Menschenrechte verletzt. Nächtliche Durchsuchungen hätten Betroffene stigmatisiert und traumatisiert. Einige der 60 verhörten Personen sollen nach Hausdurchsuchungen ihren Job verloren haben. Laut Amnesty gab es seit den Anschlägen über 3.000 Hausdurchsuchungen und mehr als 400 Hausarreste. Geholfen, Terror zu verhindern, habe der Ausnahmezustand jedoch nicht. Der Mörder, der 84 Menschen in Nizza tötete, tat dies, obwohl der Ausnahmezustand galt. Die größte Gefahr bei Staaten wie der Türkei ist, dass die Ausnahme zur Regel wird. Zu oft haben sich Politiker an die große Macht während der Notzeiten gewöhnt. Schon im antiken Rom gab es einen rechtmäßigen, halbjährlichen Ausnahmezustand. Um Notstände wie Kriege abzuwehren, wurde alle Macht auf eine Person übertragen. Diese Maßnahme hieß: Diktatur. Aber der zeitlich beschränkte Notstand wurde schon damals missbraucht, um die Macht zu übernehmen. Caesar war der Erste, der sich im Bürgerkrieg zum Diktator auf Lebenszeit ernennen ließ. Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich in vielen Staaten die gesetzlich verankerte Diktatur zum Dauerzustand, zum Beispiel in Italien (Mussolini), Spanien (Franco) oder Portugal (Salazaar). Selbst die nationalsozialistische Diktatur in Deutschland kam formal durch verschiedene Notverordnungen zustande. Letztendlich ist der ständige Ausnahmezustand immer ein staatliches Eingeständnis von Schwäche, er sagt aus: Mit unseren demokratischen Mitteln bekommen wir die Lage nicht in den Griff. Er soll für Stabilität sorgen, indem er ein demokratisches System aus den Fugen hebt. Die Gefahr ist groß, in Frankreich und der Türkei, dass der Ausnahmezustand so eben das verhindert, was er schaffen soll: Sicherheit und Stabilität.