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Familiengeheimnis

Wie es ist, das Kind einer Sexarbeiterin zu sein

Wenn "Hurenkind" keine Beleidigung, sondern eine Tatsache ist.
Füße von Mutter und Tocher
Bild: imago/PhotoAlto

Ich erinnere mich zurück in die Schulzeit, andere Kinder erzählten stolz von den Berufen ihrer Eltern. Ärzte, Rechtsanwältinnen und Friseure. Meine Mama ist in der Pflege tätig. Zumindest habe ich das lange Zeit geglaubt.

Zweifeln musste ich nie, ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen: In einem besonders tollen Pflegeheim, in dem meine Mutter zeitweise gearbeitet hat, durfte ich mit meinen Geschwistern im Schwimmbad plantschen. Manchmal habe ich sie zu den Bewohnern aufs Zimmer begleitet, die mir dann Schokolade oder Bonbons zugesteckt haben.

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Es gab Phasen, da hat meine Mutter wirklich und ausschließlich als Pflegerin gearbeitet. Aber es gab eben auch Phasen, in denen sie als Sexarbeiterin gearbeitet hat – nur das bekam ich damals nicht mit.



Zuhause war sie immer einfach nur Mutter von drei Kindern. Es lag kein Sexspielzeug in der Wohnung, es kamen nie mysteriöse fremde Männer zu Besuch, es rannte niemand nackt durch die Wohnung. Selbst als Teenager, wenn ich abends meine jüngeren Geschwister Babysitten musste, war ich überzeugt davon, dass meine Mama einfach im Kino oder ausgegangen ist. Es war ja nur Mama, die schick angezogen und hübsch hergerichtet das Haus verließ. Manchmal war es auch einfach nur das. Und manchmal ging sie arbeiten.

Welches Kind kann Sexuelles überhaupt richtig einordnen? Im Wohnzimmer meiner Eltern war ein sonderbares Holzkreuz wie ein X an die Wand montiert. Für mich war es einfach Deko. Nur die Befestigungshaken im Holz fand ich nicht so schön. Wozu waren die da? Im Flur hingen sonderbare Bilder: nackte Frauenrücken, vor denen Hände mit Seilen gefesselt waren, oder Frauenpos, auf denen eine Peitsche ruht.

Für die meisten Kinder sind ihre Eltern Menschen ohne Sexualität – bis sie eines nachts ins Elternschlafzimmer platzen, weil sie glauben, unter ihrem eigenen Bett lebe ein Monster. Dass Eltern auch Sex haben, merken sie dann, wenn sie selbst anfangen, sich dafür zu interessieren. Bei mir war das anders.

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Verlauf löschen, ausloggen oder zumindest den Browser schließen, kennt sie nicht.

Ich saß manchmal heimlich an Mamas Computer, da war ich vielleicht 12 Jahre alt, und stöberte herum. Dabei bin ich bin auf die Online-Sexportale meiner Mutter gestoßen. Verlauf löschen, ausloggen oder zumindest den Browser schließen, kennt sie nicht. Ein Albtraum für jeden Datenschutzbeauftragten. Schon bevor ich wusste, dass meine Mutter als Sexworkerin arbeitet, war mir also klar, dass sie ihre Sexualität offen auslebt. Sie geht gerne zu Swinger-Stammtischen und in Swingerclubs. So habe ich es zumindest auf ihren diversen Profilen gelesen.

Irgendwann wurde mir klar, wozu sie das Andreaskreuz braucht. Darauf angesprochen hätte ich sie aber niemals. Wir hatten nie eine besonders enge Mutter-Tochter-Beziehung, da ich eines dieser Kinder war, das ständig gegen ihre Eltern rebellierten. Über Sexualität hätte ich niemals mit ihr sprechen wollen.

Ich war 15, als ich mit meinem ersten Freund zusammenkam. Meine Mama machte einen Termin beim Frauenarzt, um mir die Pille verschreiben zu lassen.

Sie saß neben mir, hörte zu, wie ich mit hochrotem Kopf Fragen zu meiner Periode und meiner Jungfräulichkeit beantwortete. Ich selbst hatte keine Fragen, und auf diesen Stuhl wollte ich auch nicht. Sie hatte allerdings gar keine Beklemmungen. Also untersuchte der Arzt meine Mutter, die auch einen Termin hatte, und ich sah zu.

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Den Anblick meiner Mutter, mit gespreizten Beinen auf dem Gynäkologenstuhl, werde ich niemals vergessen. Erstens, habe ich davor noch nie eine andere Vagina so nah vor mir gesehen. Zweitens: HALLO, es ist meine MUTTER.

Das Schöne war, dass ich nie Druck hatte: Druck keinen Sex zu haben, oder hetero sein zu müssen. Ich habe früh gemerkt, dass ich Männer und Frauen attraktiv finde. Aber auch bei sexuell offenen Eltern knallt man das nicht einfach so auf den Tisch – weil es eben Eltern sind.

Ich klickte weiter und fand ein Bild, das nur ihre Brüste zeigt, die Nippel in Wäscheklammern geklemmt. "Leidenschaftliche Hobbyhure", stand darunter.

Als ich 17 war, zerstritt ich mich heftig mit meiner Familie. Den Kontakt zu meiner Mutter habe ich komplett abgebrochen. Sie zog mit meinen Brüdern und meinem Stiefvater ins Ausland. Zufällig fand ich zwei Jahre später meinen Studienplatz in derselben Stadt.

Zur Geburtstagsfeier eines Freundes hielten meine Freunde und ich es für eine superoriginelle Idee, eine Stripperin zu engagieren. Ich übernahm die Organisation. Auf einem Portal auf dem sexuelle Dienstleistungen angeboten werden, begann ich zu suchen. Ich scrollte durch die Profile. Auf Seite drei fand ich meine Mutter.

Auf Ihrem Profilfoto räkelt sie sich mit einem roten Negligé bekleidet und in Strapsen auf einem Sofa. Ich klickte weiter. Das nächste Bild zeigt sie in einer schwarzen Corsage mit einem schwarzen Slip, die Hände vor ihrem Körper mit einem Seil gefesselt. Demütig kniete sie da. Ich klickte weiter und fand ein Bild, das nur ihre Brüste zeigt, die Nippel in Wäscheklammern geklemmt. "Leidenschaftliche Hobbyhure", stand darunter.

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Ich war nicht wirklich geschockt. Ich glaube, weil ich schon wusste, in welcher sexuellen Richtung meine Mutter unterwegs ist.

Natürlich lief sie zu Hause nicht in Dessous und Strapsen herum, oder wedelte mit Dildos um sich. Aber dass sie auf BDSM steht und diese Neigung auslebt, wusste ich schon.

Überrascht hat mich nur, meine eigene Mutter auf einer Website zu entdecken, die sexuelle Dienstleistungen anbietet. Warum verkauft sie sich für Sex? Hatte sie Geldprobleme? Macht sie es deshalb?

Ich stellte mir vor, wie meine Mutter pornolike an Gangbangs oder Bukkake-Partys teilnimmt.

Ich las ihre Vorlieben und Tabus, scannte Kommentare und Bewertungen von Freiern, die sich für die tollen und geilen Stunden bedankten. Ich klickte mich durch Bilder, die man als Kind von seiner Mutter eigentlich nicht sehen möchte. Ich stellte mir vor, wie meine Mutter pornolike an Gangbangs oder Bukkake-Partys teilnimmt.

Über Facebook fanden meine Mutter und ich ein Jahr später, nach knapp drei Jahren, wieder Kontakt zueinander. Die verstrichene Zeit hat mich reifen lassen. Meine Teenager-Trotzhaltung hatte ich abgelegt. Mama war nicht mehr Staatsfeind Nummer eins für mich. Einige Treffen und Gespräche später habe ich mich meiner Mutter näher gefühlt, als je zuvor.

Das gab mir die Sicherheit und das Selbstbewusstsein, um sie zu fragen, was sie beruflich macht. Wir waren auf dem Weg zum Einkaufen, zu Fuß.

"Mama, wo arbeitest du jetzt eigentlich?", fragte ich.

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Sie grinste komplizenhaft, als ob sie wüsste, dass ich ihr Geheimnis kenne.

"Hat die Oma dir das nicht schon erzählt?", fragte sie.

"Nein," log ich sie an.

Sie sollte nicht wissen, dass ich online bereits alles herausgefunden hatte. Die wenigen Sekunden Pause zwischen meinem "Nein" und ihrer Antwort darauf, kamen mir ewig vor. Ich war unglaublich angespannt. Sie begann zu erzählen: davon, dass sie als Sexworkerin arbeitet, und dass es ihr Spaß macht. Weil sie eben gerne mit Menschen arbeitet, sagt sie. Mit einer Freundin hat sie eine kleine Arbeitswohnung. Dort trifft sie sich mit ihren Freiern.

Je mehr ich über die Arbeit meiner Mutter erfahre, desto mehr bewundere ich sie. Nein, ich selbst möchte diesen Weg nicht einschlagen. Aber Sexworker leisten einen Dienst für die Gesellschaft. Menschen mit Behinderung, alte Menschen, einsame Menschen, die wir von Zärtlichkeiten und Zweisamkeit ausschließen, bekommen von meiner Mutter das, was sie brauchen.
Meine Mutter hat nicht nur Sex mit den Männern. Manchmal wollen sie nur gehalten werden oder wollen jemanden, der zuhört und der sie ernst nimmt.

Daher werde ich mich keinen Tag meines Lebens dafür schämen, dass meine Mama als Sexarbeiterin tätig ist. Ich bin verdammt stolz. Kein Sexarbeiter-Kind muss sich für seine Eltern schämen.

Ich kann sie jederzeit fragen, warum ich beim Analsex Schmerzen habe, oder wie mein Freund wieder einen hochbekommt.

Zu meiner Mama habe ich heute eine viel intimere Beziehung als früher. Ich kann sie jederzeit fragen, warum ich beim Analsex Schmerzen habe, oder wie mein Freund wieder einen hochbekommt. Nach Stories über Freier muss ich gar nicht fragen. Für uns ist es normal geworden, einfach darauf los zu quatschen, egal worum es geht. Ihren Geschichten über Freier könnte ich stundenlang lauschen. Der Witwer, der seine Frau verloren hat und mit dem sie erst mal Kaffee trinkt und quatscht, bevor sie ihn in der Badewanne anpinkeln soll. Der Typ, der Kastrationsfantasien hat, und sich unbedingt den Schwanz amputieren lassen will. Oder der Spinner, der nachts anruft und ins Telefon stöhnt.

Als ich kurzfristig eine Übernachtungsmöglichkeit in einer anderen Stadt gesucht habe, hat meine Mutter das möglich gemacht: Ich übernachtete eine Woche lang in dem SM-Studio einer befreundeten Domina.

Vor Kurzem feierte mein kleiner Bruder seine heilige Kommunion. Meine Mutter und ich schlichen aus der Kirche, um eine zu rauchen. Ein Typ, Mitte 20, schlank gebaut, kommt in unsere Richtung. "Hallo", sagte er schüchtern, ging weiter und stellte sich zu seiner Freundin. Beide trugen zueinander passende Outfits. "Was will der überhaupt von uns?", habe ich meine Mama gefragt. "Ach", sagte sie, und lachte, "das ist ein Kunde von mir."

Heute lebe ich in ein paar Stunden von meiner Mama entfernt. Wir sehen uns nicht täglich, aber wenn wir uns sehen, dann ist es, als wäre ich nie weg gewesen. Auf Mama kann ich mich immer verlassen.

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