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Menschen aus Nordsyrien erzählen, wie sie vor den türkischen Angriffen fliehen

"Ich habe Angst, dass sie einen Genozid an uns verüben werden", Fatima, 54, aus Kobane
Ein zerstörtes Auto in Syrien
Foto: imago images | ZUMA Press

Stell dir vor, du wachst eines morgens auf und es ist Krieg. Du hast keine Zeit zu packen, weil deine Stadt schon bombardiert wird. Du nimmst nichts mit. Du fliehst, ohne dich noch einmal umzudrehen, weil jetzt nur noch eines zählt: das Überleben .

Das passiert gerade in Rojava, Nordsyrien. Kurz nachdem die USA am 7. Oktober ihre Truppen abgezogen hatte, marschierte das türkische Militär ein. Dörfer und Städte werden bombardiert. In den Zeitungen und im Fernsehen reden nur Politikerinnen und Kommentatoren. Dabei sind es die Menschen in Rojava, die in erster Linie von diesem Krieg betroffen sind. Sie leiden, auch wenn der Krieg kurzzeitig von einer Feuerpause unterbrochen wurde.

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Wir haben mit ihnen über Whats-App-Call gesprochen. Das sind ihre Stimmen:

Shahin, 35, Arbeiter aus Raʾs al-ʿAin
"Als die Türken angefangen haben, uns zu bombardieren, habe ich nur an meine Mutter gedacht. Sie ist krank und hat eine Behinderung. Ich habe sie aus dem Grenzgebiet getragen. Wir haben keinen Ort, an den wir gehen können. Meine Mutter bekommt nicht die medizinische Versorgung, die sie braucht, weil die Krankenhäuser voll sind mit verletzten und toten Menschen."

Yaro*, 29, Arbeiter aus einem Dorf in der Nähe von Tall Abyad
"Wir haben alles hinter uns gelassen und rennen um unser Leben – weg von den türkischen Bomben. Unser Dorf in Tall Abyad liegt nah an der türkisch-syrischen Grenze. Nun schläft meine Familie auf der Straße."

Badiaa, 55, Hausfrau aus einem Dorf nahe Kobane
"2014 wurde ich aus meiner Heimatstadt Kobane vertrieben, weil der IS uns attackierte. Mein Haus wurde wie der Großteil der Stadt komplett zerstört. Jetzt sind wir wieder in derselben Situation. Dieses Mal wurde sie aber durch den türkischen Staat verursacht. Wir haben unser Haus im Dorf zurückgelassen und sind nach Kobane gegangen. Wir sind Flüchtlinge in unserem eigenen Zuhause – geflohen vor Bomben und Raketen."

Heysem, 34, Journalist aus Kobane
"Kobane wurde vom türkischen Militär und seinen Verbündeten angegriffen. Die Demokratischen Kräfte Syriens (DKS) leisten tapfer Widerstand. Das türkische Militär hat ein paar Dörfer in Raʾs al-ʿAin eingenommen, trotzdem kämpft die SDF dort weiter. Mehr als 190.000 Menschen wurden meinen Informationen nach aus dem Grenzgebiet vertrieben. Sie flüchten weg von der Grenze, um vor den Raketen und Bomben sicher zu sein. Je nachdem wo gerade bombardiert wird, fliehen die Menschen. Mal von den Dörfern in die Stadt, mal andersherum. Momentan wird in allen Grenzstädte, von Kobane bis Qamishli, gekämpft."

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Fatima, 54, Hausfrau aus Kobane
"Wir haben sehr unter dem IS gelitten. Eines meiner Kinder wurde vom IS getötet. Jetzt kommt der türkische Staat mit seinen islamistischen Söldnern. Deren Ideologie ist dieselbe. Ich habe Angst, dass sie einen Genozid an uns verüben werden."

Mustafa, 34, Angestellter in der Verwaltung aus Qamishli
"Der Türkische Staat begründet seinen Angriff auf Nordsyrien damit, dass er Terrorismus bekämpfen will. Dabei greift er Zivilisten an. Unschuldige, Kurden, Frauen und alte Leute."

Salim ,47, Arbeiter aus Qamishli
"Mehr als zehntausend kurdische, arabische und assyrische Kämpfer sind im Kampf gegen den IS gestorben. Sie haben für die ganze Welt gekämpft. Jetzt, nachdem der IS besiegt wurde, hat die USA uns im Stich gelassen. Niemand hat eine Lösung, um uns vor den Bomben und dem bevorstehenden Genozid durch die Türkei und ihren Islamistischen Brigaden zu retten. Ist das die Belohnung dafür, dass wir gegen den IS gekämpft haben?"

Azad, 39, Lehrer aus Kobane
"Der Deal mit dem Assad-Regime ist bitter für uns, weil wir wissen, dass Assad ein Diktator ist. Trotzdem bleibt uns bei der unmenschlichen Politik der Großmächte USA, EU und Russland nichts anderes übrig. Das türkische Militär plant mit ihren islamistischen Verbündeten, ein Massaker an uns zu verüben. Eine ethnische Säuberung, die zu demographischen Veränderungen führen soll. Sie wollen die Kurden vertreiben und syrische Flüchtlinge ansiedeln. Das Assad-Regime könnte unser politisches Projekt zwar zerstören, aber es plant nicht, uns so wie die Türkei zu töten. Wir haben eine Wahl für Assad getroffen, um nicht massakriert zu werden und um unsere Existenz zu schützen."

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Ahmed*, 46, Arbeiter aus Tall Abyad
"Als sie angefangen haben, Tall Abyad zu bombardieren, bin ich mit meiner Familie nach Kobane gegangen. Dort sind viel zu viele Menschen und die Bäckereien können nicht alle mit Brot versorgen. Ich stand dort so oft in der Schlange, aber ich habe nie etwas für meine Frau und meine Kinder bekommen. Wir fliehen vor Raketenangriffen und haben kein Brot zu essen."

Rosin, 40, Kurdisch-Lehrerin aus Tall Abyad
"Als die Türkei angefangen hat, Tall Abyad zu bombardieren, habe ich mit meinen Mann und meinen Kindern das Haus verlassen. Wir haben nichts mitgenommen. Ich wollte nur meine Kinder retten. Wir schlafen jetzt wie viele Zivilisten an öffentlichen Plätzen. Es ist furchtbar kalt draußen und wir haben nicht genug Decken. Wenn meine Kinder über die Kälte klagen, umarme ich sie, um sie zu wärmen. Meine kleine Tochter ist vier Jahre alt. Sie hat viel geweint, als wir das Haus unter Beschuss verlassen haben. Sie weint immer noch wegen ihrer Spielzeuge und Kuscheltiere, die ich nicht mitnehmen konnte. Ich war nur damit beschäftigt, ihr Leben zu retten. Sie fragt oft: 'Sind meine Kuscheltiere noch am Leben?'"

*Namen wurden auf Wunsch der Personen aus Sicherheitsgründen von der Redaktion geändert.

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