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Flucht

Die "Lifeline" ist nur eines von vielen Beispiel dafür, wie Europa Geflüchteten beim Sterben zusieht

Wenn Seehofer Menschenleben nutzt, um seine politische Agenda durchzusetzen, ist das nicht nur zynisch – sondern verantwortungslos.
Die "Lifeline" am 21. Juni | Foto: imago | epd

234 Personen auf engstem Raum, sechs Tage lang, zwei Toiletten, eine Dusche und weder medizinische Hilfe für die Verletzten noch Nahrung für die Hungrigen. Berichten zufolge war so wenig Platz auf dem Rettungsschiff "Lifeline", dass Menschen auf der Reling ausharren mussten, eine Frau war an Bord ins Koma gefallen. Nachdem die Dresdner Seenotrettung vor der libyschen Küste 234 Geflüchtete gerettet hatte, trieb das Schiff fast eine Woche orientierungslos auf dem Meer, weil Italien und Malta sie nicht an ihren Häfen anlegen ließen. Die Behörden der Länder forderten die Besatzung sogar auf, die Geflüchteten zurück nach Libyen zu bringen. Selbst als die "Lifeline" drohte, vor Malta in ein Unwetter zu geraten, reagierten europäische Regierungen nur zaghaft – und zeigten, dass sie Migranten und Migrantinnen im Ernstfall lieber beim Sterben zusehen, als sie aufzunehmen.

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Bis zum Mittwoch trieb die "Lifeline" auf See, die Besatzung informierte die Welt auf Twitter über die Situation an Bord. Doch selbst konkrete Berichte über die katastrophale Lage der Menschen schien nur wenige Politiker und Politikerinnen zu bewegen – im Gegenteil: Die Tweets der Besatzung lasen sich wie der Live-Ticker zu einem dramatischen Drehbuch – mit dem Unterschied, dass auf der "Lifeline" reale Menschen und zum Teil sogar Kinder in Gefahr waren.


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Die allermeisten Europäer und Europäerinnen werden in ihrem Leben nie nachfühlen, wie es ist, ohne Orientierung und Versorgung auf einem Schiff im offenen Meer herumzutreiben. Für Tausende Menschen ist diese Erfahrung aber real: 2018 kamen bis zum 28. Juni über 44.000 Migranten und Migrantinnen über das Mittelmeer nach Europa. 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, waren es insgesamt über eine Million. Einem UN-Bericht zufolge sind 33.761 von ihnen zwischen 2000 und 2017 im Mittelmeer ertrunken oder werden noch vermisst. Doch anstatt zu versuchen, mit allen nur denkbaren Mitteln Fluchtursachen zu bekämpfen, schützt die Politik statt der Migranten und Migrantinnen die eigenen innenpolitischen Interessen – und die Geflüchteten auf den Booten werden zu den Opfern einer Asylpolitik, in der die nächste gewonnene Wahl mehr zu zählen scheint als ein Menschenleben.

Die asylfeindliche Haltung Europas ist eine Symbolpolitik

Es ist schlimm genug, dass Politiker und Politikerinnen den Menschen beim Sterben zuschauen. Im Falle der "Lifeline" bewiesen einige von ihnen, dass sich selbst mangelnde Empathie noch durch zynisches Arschlochverhalten übertrumpfen lässt. Am Sonntag twitterte der italienische Vize-Ministerpräsident Matteo Salvini ein Selfie mit Motorbooten im Hintergrund und schrieb dazu die Zeile: "Keine Angst, die Boote hinter mir transportieren keine Illegalen!" Die Menschen auf der "Lifeline" trieben zu dem Zeitpunkt schon seit fast 96 Stunden auf See.

Auch der deutsche Innenminister Horst Seehofer sah keinen Grund, einzugreifen und der deutschen Besatzung dabei zu helfen, der Odyssee ein Ende zu bereiten. Als sich unter anderem Frankreich, Luxemburg und die Niederlande dazu bereit erklärten, einige der Geflüchteten auf dem Schiff aufzunehmen, sagte Seehofer im Bundestag, es bestehe "nach momentanem Stand keine Handlungsnotwendigkeit für Deutschland". Dabei hatten sogar Berlin und Kiel angeboten, die Geflüchteten aufzunehmen. Seehofer sagte, die Regierung werde die Situation "im Auge behalten" und sich dabei an den Grundsatz "Humanität und Ordnung" halten. In Anbetracht der Tatsache, dass Seehofer aktuell mit allen Mitteln versucht, seinen Asyl-"Masterplan" durchzusetzen, um Menschen schneller abschieben und an den Grenzen zurückweisen zu können, scheint es, als sei der Innenminister in der Verfolgung seines humanitären Grundsatzes noch orientierungsloser als die "Lifeline" am vergangenen Wochenende. Wahrscheinlicher ist aber, dass Seehofers Haltung im Bundestag nur die passiv-aggressive Version seiner aggressiven Anti-Asyl-Agenda ist. Wie die Linken-Abgeordnete Petra Pau berichtet, soll Seehofer in einer nicht-öffentlichen Sitzung des Innenausschusses gesagt haben, das Schiff sei "zu beschlagnahmen und die Crew strafrechtlich zu verfolgen".

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Kritiker sagen, die NGOs betrieben naiven Aktivismus, dabei retten sie Menschenleben

Am Mittwoch durfte die "Lifeline" nach sechs Tagen in Malta anlegen. Alex Steier, einer der Mitgründer der Organisation "Mission Lifeline", sagte am Donnerstag, der Kapitän sei am Morgen bereits zum zweiten Mal von der maltesischen Polizei vernommen worden, das Schiff wird vermutlich beschlagnahmt. Kritiker werfen der NGO vor, sie sei einem naiven Aktivismus verfallen und sähe das Problem nicht in seiner Gesamtheit. Allerdings tut das auch die Politik nicht, wenn sie ihre gesamte Energie für die Abwehr Geflüchteter einsetzt.

Die asylfeindliche Haltung der europäischen Regierungen ist eine Symbolpolitik: Die Probleme, die Menschen dazu bewegen, sich für viel Geld auf einem Schlauchboot übers Mittelmeer fahren zu lassen, wird sie nicht lösen. Aber sie wird den Geflüchteten zeigen, dass ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben in den europäischen Ländern nicht jeder erfüllen will. Und diese Erkenntnis ist vielen Politikern und Politikerinnen noch immer wichtiger als die Leben anderer Menschen.

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