Sitzen wir alle in der Geschlossenen? Warum Fachleute immer mehr Zweifel an der Psychotherapie haben
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Sitzen wir alle in der Geschlossenen? Warum Fachleute immer mehr Zweifel an der Psychotherapie haben

Psychische Probleme sagen viel über unsere Gesellschaft aus. Wie wir sie behandeln auch. Kritische Stimmen fordern vermehrt eine Gesellschafts-Diagnostik.

Ein Freund von mir – ich nenne ihn hier Peter – kämpfte jahrelang mit Suizidgedanken und hatte es mit seiner ausschweifenden Fantasie und seinem kindlich-fröhlichen Auftreten in der seriösen Welt der Erwachsenen schwer. Wenn er singend, tanzend und Glitzerstaub werfend durch die Stadt sauste und den Menschen von seinem Heimatplaneten erzählte, wurde ihm meistens gesagt, dass er entweder verrückt sei oder erwachsen werden solle.

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Psychotherapie lehnte er über die Zeit mehr und mehr ab. Anfangs versuchte er es zwei Jahre mit wechselnden Therapeuten und ebenso wechselndem Erfolg, dem Grund für seine "Abweichung" auf die Spur zu kommen. Insgesamt fühlte er sich aber nie richtig verstanden von den Fachleuten und begann, sich sein Anderssein lieber mit esoterischen Theorien zu erklären: Die verschiedenen Persönlichkeiten, die bei ihm vorkamen, seien laut Peter auf die Abstammung von unterschiedlichen Planeten zurückzuführen. Das gab ihm zumindest das Gefühl, gleich viel wert wie seine Mitmenschen zu sein. "Meine Landung auf dem Planeten Erde macht jetzt irgendwie auch mehr Sinn", meinte er zu mir.

Geschichten wie diese sollen nicht dazu ermutigen, eine psychologische Betrachtung der eigenen Gesundheit durch esoterische Vorstellungen zu ersetzen. Im Gegenteil: Solche Theorien sind für die Gesellschaft wohl mindestens so schädlich wie die unreflektierte Stigmatisierung von Menschen durch eine psychische Diagnosen. Aber dass mein Freund keinen anderen Ausweg mehr sah, als sein eigenes Leben zu nehmen, und sich so aus der Gesellschaft zu verabschieden, ließ mich über die Zusammenhänge von Psyche und Gesellschaft nachdenken.

"Depressionen und Angststörungen sind bei Studierenden innerhalb der letzten zehn Jahre um mehr als 80 Prozent gestiegen."

Die Philosophin und Soziologin Bettina Zehetner ist in ihrer Praxis seit Jahren verstärkt als psychosoziale Beraterin für Frauen tätig. Sie hat Erfahrung mit Geschichten von Menschen wie meinem Freund Peter, die vergeblich versuchen, ihre Identität und Rolle in dieser Gesellschaft zu finden. Wenn junge Menschen mit Identitätskrisen zu Zehetner in die Wiener Frauenberatung kommen, freut sie sich. "Die Suche nach der Identität ist etwas sehr Positives. Wenn starre Vorstellungen zerbröckeln, ist das nicht nur Ausdruck eines Problems. Es eröffnet auch einen Horizont voller Möglichkeiten", sagt sie im Gespräch mit VICE.

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Was sie im Gegensatz dazu richtig krankhaft findet, sind der Zeitdruck und der Zwang zur eindeutigen Einordnung. "Was beispielsweise die sexuelle Orientierung angeht, soll man für die Gesellschaft immer noch entweder hetero oder homo sein und dann sein ganzes Leben dabei bleiben." Solche starren Muster würden bei jungen Menschen laut der Expertin vermehrt zu Depressionen und Angst- oder Essstörungen führen.

Auch der deutsche Sozialpsychologe Heiner Keupp setzt sich dafür ein, dass Politik und Gesellschaftskritik auf die psychotherapeutische Couch kommen. Sein zentrales Interessensgebiet ist der Einfluss gesellschaftlicher Wandlungsprozesse auf das Individuum. So beschäftigt ihn zum Beispiel die Frage, wie sich flexible Berufsidentitäten, die wir uns im Job aneignen und anpassen, auf unsere Psyche auswirken.


Auch auf VICE:


Am Telefon, auf das wir wegen Problemen mit seinem Skype-Zugang ausweichen, erklärt Keupp, dass seine Forschungen eine klare Mitschuld unserer Kultur an vielen psychischen Störungen zeigen. Die Gesellschaft einfach nur in psychisch gesunde und kranke (oder zu therapierende) Menschen zu unterteilen, habe für ihn wenig Sinn. Stattdessen sei es wichtig, den Austausch zu fördern und die eigene Perspektive somit immer wieder zu hinterfragen. "So sieht man schnell, dass viele Identitätskrisen eng in Zusammenhang mit den Lebensbedingungen in einer globalisierten, kapitalistischen Welt stehen", erklärt der Sozialpsychologe.

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Ähnlich ging es auch meinem Freund Peter. Seine Probleme wurden durch die Leistungsansprüche seines Vaters – und dem gefühlten Druck, trotz seiner depressiven Verstimmungen in der Arbeitswelt gefälligst funktionieren zu müssen – nur noch größer. Von allen Beschreibungen, die er für seinen Vater übrig hatte, war "patriarchal" noch die netteste.

Auf der einen Seite flüchtete er sich immer mehr in Drogen und Partys, um sich von sich selbst abzulenken. Auf der anderen Seite wollte die Psychotherapie seiner Meinung nach dasselbe von ihm, nur mit leicht abgewandelten Vorzeigen. "Meine Therapeuten wollen mir einfach nur andere Drogen geben", sagte er damals. Antidepressiva waren für ihn genauso eine Form der Ablenkung; keine Beschäftigung mit dem eigentlichen Problem. "Mit einer Therapie ohne Frage nach dem Sinn kann ich nichts anfangen." Das Ziel wäre nur, wieder zu funktionieren.

Diese Einschätzung teilt er sich auch mit der Rapperin Lena Stoehrfaktor, die in ihrem Song “Ausgeschlossen" rappt: "In dieser geschlossenen Gesellschaft muss nicht nur der Dresscode stimmen, ich muss funktionieren und schon bin ich zur Hälfte drin. Ich knips mein Lachen an und meine Fresse ist hier gern gesehen – aber hab ich Depressionen, bleib ich besser draußen stehen."

Auch die Soziologin Zehetner und der Sozialpsychologe Keupp sind davon überzeugt, dass die Psychotherapie immer mehr zum Werkzeug eines kranken Systems wird, wenn sie die Gesellschaftskritik außen vor lässt. Am Telefon beschreibt Keupp die Psychotherapie sogar als "Wegbereiter des Kapitalismus", weil sie seiner Auffassung nach in erster Linie dafür da ist, die Menschen wieder für den Job funktionsfähig zu machen – und nicht etwa gesund.

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Keupp liefert dazu aktuelle Zahlen: "Depressionen und Angststörungen sind bei Studierenden innerhalb der letzten zehn Jahre um mehr als 80 Prozent gestiegen. Hier zeigt sich, dass der Beschleunigungs- und Leistungsdruck gerade im Hochschulbereich enorm zugenommen hat."

Der Experte sieht auch noch einen anderen beunruhigenden Trend: Immer mehr Menschen würden versuchen, ein "unternehmerisches Selbst" zu werden. Viele junge Menschen würden ihr Leben inzwischen nur noch als Abfolge von Projekten sehen, die es erfolgreich zu organisieren gilt, so der Experte: "Wir werden bewusst und unterbewusst dazu motiviert, auf der einen Seite eine möglichst authentische Identität zu finden – aber auf der anderen Seite sollen wir immer flexibel und formbar sein, weil um die Ecke ja immer noch etwas Besseres, noch mehr Ruhm und Geld auf einen warten könnte. Du kriegst auf jeder denkbaren Stufe die Botschaft: 'Hast du wirklich alles aus dir rausgeholt?'"

Die Frage, ob sich das alles in Zukunft ändert, bleibt für Keupp vorerst offen. Was ihm zufolge aber feststeht: "Psychologiestudierende und Psychotherapierende in Ausbildung haben in der Regel noch nie etwas über die gesellschaftlichen Hintergründe von psychischen Problemen gehört, weil dieses Thema im Lehrplan so gut wie keinen Platz erhält."

Für Zehetner ist klar, dass uns die Anpassung an unrealistische Erwartungen und Rollenbilder krank macht. "Krankheit als Verweigerung von Anpassung kann ein Zeichen von psychischer Gesundheit sein", meint sie.

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Die junge psychotherapeutische Schule der feministischen Psychotherapie ermutigt die Menschen deswegen explizit, Kritik an der Gesellschaft zu üben, statt sich nur nach "den aktuellen Ansprüchen an Flexibilität, Selbstvermarktung, Geschwindigkeit und Effizienz" zu richten, wie Zehetner in diesem Text schreibt.

"Wir brauchen nicht nur eine Psychodiagnostik, wir brauchen eine Gesellschaftsdiagnostik."

Beide Fachleute, Keupp und Zehetner, sprechen sich dafür aus, dass die Psychotherapie den Anspruch haben sollte, bei Klientinnen und Klienten ein politisches Bewusstsein zu entwickeln. "Psychotherapie soll Menschen nicht einfach wieder ins Hamsterrad eingliedern", meint Zehetner gegenüber VICE. Und weiter: "Therapie soll Menschen das Werkzeug mitgeben, ein selbstständig denkender Mensch zu werden, der immer neugierig bleibt, neue Facetten seiner Identität kennen zu lernen."

Mein Freund Peter hat sich im Umgang mit seinen eigenen Problemen für ein Erklärungsmodell abseits der Schulpsychologie entschieden, das Platz für seine Fantasie und Spiritualität lässt. Nach einer kurzen Zeit als Pädagogik-Student und einem ebenso kurzen Job als Anwerber bei Amnesty International – beides Dinge, die er aufgrund seines Gesundheitszustands nicht halten konnte –, beschloss er, auszuwandern.

Heute lebt er bei einem abgelegenen indigenen Stamm in Brasilien und folgt einer Mischung aus Hinduismus, Buddhismus, Esoterik und Schamanismus. Damit wurde sein Anderssein für ihn zu mehr als nur einer psychischen Störung. Was genau er nach Ansicht der westlichen Psychologie hat, weiß bis heute niemand; eine endgültige Diagnose wurde bei ihm nie erstellt. Stattdessen wurde er zum Schamanen initiiert; und das ist auch das Letzte, das ich von ihm gehört habe. Aber ist das die Lösung? Und wie können wir verhindern, dass sich Menschen so komplett von unserer Gesellschaft abwenden, wenn sie in ihr nicht "funktionieren"?

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Such dir Hilfe, sei aber wählerisch und bleib kritisch – möglicherweise bist du nämlich eher ein Symptom als das Problem.

Einen Lösungsansatz für besonders schwere Fälle bieten therapeutische Wohngemeinschaften (Soterias), in denen Hilfesuchende zusammen mit Betreuerinnen und Betreuern den Alltag bestreiten. Bei schweren psychischen Störungen zeigen diese Einrichtungen oft herausragende Wirkungen. Dort übernehmen psychisch kranke Menschen in einem geborgenen und sicheren Umfeld eine nützliche Rolle in der Gemeinschaft und werden nicht auf die Rolle von psychisch Kranken reduziert.

Betreuende und Patienten und Patientinnen begeben sich hier auf Augenhöhe. Und der Patient oder die Patientin entscheidet selbst mit, wie der Behandlungsplan aussehen soll. Die Idee dahinter: Leute übernehmen Verantwortung für ihren Alltag, den sie teils mit weniger oder ganz ohne Medikamente bestreiten.

Dass solcher Behandlungen erfolgreich sind, liegt – zumindest laut der sogenannten Affektlogik-Theorie – daran, dass sie für emotionale Entspannung sorgen. Betreuungspersonen sind in dem Fall da, um das Leben der Hilfesuchenden in erster Linie zu verstehen und sich einzufühlen.

Auch wenn unsere Gesellschaft nach wie vor psychische Krankheiten als Tabus sieht und die Strukturen und Gründe dahinter nicht erkennt: Wenn es dir schlecht geht, solltest du dir in jedem Fall professionelle Hilfe suchen. Sei aber auch wählerisch und bleib kritisch – möglicherweise bist du nämlich eher ein Symptom als das Problem.

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