Wenn wir Affen vor Tierversuchen retten, leiden Menschen

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Tierrecht

Wenn wir Affen vor Tierversuchen retten, leiden Menschen

Es ist einfach, gegen Affenversuche zu sein. Zumindest dann, wenn man menschliches Leiden ausklammert.

Illustration von reatch / Nora Gamper Die Frau mit den weissen Haaren und den blassgrünen Augen setzt sich zu Markus ans Bett. Das Gesicht ist ihm fremd. Die feingliedrige Hand hingegen, auf deren Rücken sich zwei dünne, blassblaue Venen entlangschlängeln, nur um kurz vor dem gelbgoldenen Fingerring abzutauchen, diese Hand kommt Markus vertraut vor. Sie hält sanft die seine umfasst und gibt ihm ein Gefühl von Geborgenheit. Genauso wie das Parfüm. Ein frischer Duft von Zitrus mit einem Hauch von Maiglöckchen. Als er den Krankenpfleger fragt, wer denn da neben ihm sitzt, füllen sich die braunen Augen seiner Frau mit Tränen.

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"Eine dumme Schlampe bist Du! Du tust nichts, kannst nichts, bist nichts. Blöd bist Du und wertlos." Anna hat gelernt, ihren Ex-Freund zu ignorieren. Ebenso wie ihre Mutter: "Los, spring jetzt! Der Zug kommt. Tu der Welt einen Gefallen. Spring! SPRING! Spring!" Früher hat sie sich in ihrem Zimmer verkrochen, die Tür versperrt und die Vorhänge gezogen. Doch das macht alles nur noch schlimmer. Dann schreien sie umso lauter, poltern an die Tür, drohen ihr. "Du bist ein unfähiges Stück Scheisse. Warte nur, bis wir Dich erwischen!", schreit ihr die Mutter ins Ohr. Die Stahltür öffnet sich mit einem leisen Saugen und eine grossgewachsene Frau tritt ein. Tommy freut sich, sie zu sehen. Er kennt ihren Namen nicht, aber in den vergangenen Monaten ist sie zu einem festen Bestandteil seines Alltags geworden. Sie bringt ihm Essen, macht sauber, spielt mit ihm. Doch wenn sie wie heute eine blaue Mütze trägt, dann weiss Tommy, dass er in einen abgetrennten Nebenraum gehen muss, um Blut- oder Urinproben zu geben. Heute bekommt Tommy zusätzlich eine Spritze in den Oberschenkel. Wenige Minuten später liegt er bewusstlos auf dem Boden.

"Der Impfstoff gegen Kinderlähmung beruht genauso auf Affenversuchen wie die Entwicklung der 'Tiefenhirnstimulation' bei Parkinsonpatienten."

Als Tommy erwacht, ist er müde und verwirrt; sein Hals fühlt sich rau an und sein Kopf pocht. Ihm ist schlecht. Benommen versucht er, sich aufzurichten, nur um schwindlig wieder hinzufallen. Durch graue Gitterstäbe hindurch blickt er in das ernste und besorgte Gesicht der Frau. Mit der rechten Hand – die linke fühlt sich ungelenk und schwer an – greift er sich an den kahl rasierten Schädel und fühlt dort einen kleinen zylindrischen Metallstift herausragen. Er betastet ihn vorsichtig, zieht daran, versucht ihn zu bewegen.

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Dem Leiden in die Augen sehen

Markus, Anna und Tommy sind erfunden und trotzdem real. Ihr Schicksal ist stellvertretend für das Leid, dem sich die moderne Medizin auf die eine oder andere Weise stellen muss. Es ist das Leid von Menschen wie Markus, der wegen seiner Demenz seine eigene Ehefrau nicht mehr erkennt und sie verletzt, ohne es zu wollen. Es ist die Angst und Verzweiflung der schizophrenen Anna, die von ihrer toten Mutter zum Selbstmord aufgerufen wird und wegen ihrer Krankheit die meisten Freunde verloren hat. Es sind aber auch die Schmerzen des Makakenmännchens Tommy, das in einer mehrstündigen Operation Elektroden ins Gehirn implantiert bekommt, weil Forschende damit das Leiden von Markus und Anna besser verstehen wollen.

Die drei Schicksale sind also eng miteinander verknüpft. Verknüpft auch mit der Frage, wessen Leiden wir höher gewichten; welchen Stellenwert wir Tieren gegenüber Menschen zugestehen; wie weit wir bereit sind zu gehen, um menschliches oder tierisches Leid zu verhindern.

Die Debatte darüber ist entsprechend emotional. Und es fehlt ihr an Ehrlichkeit. Befürworter wie Gegner von Experimenten an Tieren picken sich gerne das heraus, was ihre Haltung stützt, und ignorieren den Rest. Wer für Affenversuche ist, betont deren Harmlosigkeit. Wer dagegen ist, zeigt Bilder von blutüberströmten Affen in kleinen Käfigen. Das ist Politik. Die Wirklichkeit ist etwas komplizierter.

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Forscher guckt Affe an

In der Schweiz werden Tierversuche in vier Schweregrade eingeteilt. Bei Versuchen von Schweregrad 0 erfahren die Tiere keine Schmerzen – es handelt sich oft um Verhaltens- oder Fütterungsexperimente.

Die Kastration eines Katers – für viele Haustierhalter eine Selbstverständlichkeit – gilt nach der eidgenössischen Tierversuchsverordnung als Schweregrad 1, weil das Tier kurzfristige leichte Belastungen ertragen muss. Bei weiblichen Tieren gilt die Kastration hingegen als Eingriff von Schweregrad 2.

Unter Schweregrad 3 versteht man schliesslich all jene Versuche, die eine schwere Belastung für die Tiere bedeuten. Tödlich verlaufende Tumorexperimente, wie sie in der Krebsforschung vorkommen, gehören in diese Kategorie.

"Kein Forscher und keine Forscherin würde auf Ersatzmethoden verzichten, wenn sich damit die gleichen Fragen beantworten lassen wie mit einem Tiermodell."

Von den 198 Schweizer Affen, die 2015 als Versuchstiere dienten, war kein einziger an einem Versuch von Schweregrad 3 beteiligt. Rund die Hälfte der Tiere entfiel auf nicht belastende Experimente von Schweregrad 0, denn ein Versuch taucht auch dann in den Statistiken auf, wenn es sich um ein reines Beobachtungsexperiment im Zoo handelt. "Primatenversuch" bedeutet in der Schweiz also fast nie "Affe mit Elektroden im Hirn", sondern viel eher "Forscher guckt Affe an".

Dennoch gibt es sie, die belastenden Affenversuche. 2015 mussten 23 Affen Experimente von Schweregrad 2 erdulden. In diesen Fällen wäre es zynisch, von "harmlosen" Eingriffen zu reden. Nicht grundlos unterliegen solche Versuche einer ethischen Überprüfung sowie strengen gesetzlichen Vorschriften. Wenn sie harmlos wären, bräuchte es das nicht.

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Ersetzen, Reduzieren, Verfeinern – wo immer möglich

In der öffentlichen Debatte über Tierversuche ist die Darstellung des Tierleids ausgesprochen präsent. Das ist gut so, denn die Schmerzen, die viele Tiere bei biomedizinischen Experimenten erfahren, gilt es anzuerkennen.

Es muss deshalb unser Ziel sein, Tierversuche zu verfeinern, zu reduzieren oder ganz zu ersetzen – wo immer möglich. Dieser letzte Zusatz ist entscheidend: Kein Forscher und keine Forscherin würde auf Ersatzmethoden verzichten, wenn sich damit die gleichen Fragen beantworten lassen wie mit einem Tiermodell. Zellkulturen oder Computermodelle sind nicht nur aus ethischer Sicht unverfänglicher als Tierversuche – sie sind auch günstiger, schneller und einfacher in der Anwendung. Doch solche Komplementär- oder Alternativmethoden können erst dann zum Einsatz kommen, wenn wir die Funktionsweise eines bestimmten biologischen Systems ausreichend erforscht und verstanden haben. Nur dann können wir dieses System genügend detailliert beschreiben und nachbilden.

"Entweder müssen wir uns eingestehen, dass wir zum Wohl von Menschen Tiere töten, oder wir müssen damit leben können, dass das Retten von Tieren Menschen tötet."

Doch die biomedizinische Forschung steckt in vielen Bereichen noch in den Kinderschuhen. Wir wissen immer noch sehr wenig darüber, wie unser Gehirn funktioniert; das vielfältige Zusammenspiel zwischen Krankheitserregern und Immunsystem stellt uns regelmässig vor grosse Herausforderungen; und die molekularbiologischen und genetischen Ursachen von Krebs verstehen wir ebenfalls nur ansatzweise.

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Ein Ja zu Tierversuchen im Allgemeinen und Primatenversuchen im Besonderen bedeutet also nicht, dass die Versuche harmlos sind. Vielmehr hat sich nach ausgiebiger ethischer und rechtlicher Prüfung ergeben, dass der zu erwartende Nutzen die Kosten überwiegt. Dieser Nutzen beinhaltet nicht nur neue Therapien, sondern auch das Grundlagenwissen, das es für die Entwicklung solcher Therapien braucht.

Das Dilemma bleibt

Affenversuche haben in der Vergangenheit wiederholt einen Beitrag zum Verständnis grundlegender biologischer Prozesse geliefert und damit neue Therapien ermöglicht. Der Impfstoff gegen Kinderlähmung beruht genauso auf Affenversuchen wie die Entwicklung der "Tiefenhirnstimulation" bei Parkinsonpatienten. Dasselbe gilt für den gegen Ebola entwickelten Impfstoff und jenen gegen den Zika-Virus. Der Kampf gegen andere Infektionskrankheiten wie Malaria, HIV oder Tuberkulose profitiert ebenso von Versuchen an Affen wie die Erforschung von Hirnschäden, Querschnittslähmungen oder psychischen Krankheiten.

Ja, wir müssen anerkennen, dass die dabei eingesetzten Tiere leiden. Wer einem Makaken wie Tommy eine Elektrode im Kopf implantiert, fügt diesem Schmerzen zu. Der Eingriff ist invasiv und die Belastung real. Das gilt in noch viel stärkerem Masse für einen Affen, der mit Malaria oder Ebola infiziert wird, um ein Gegenmittel zu testen.

Doch nicht nur hinter den Versuchstieren verbergen sich Einzelschicksale, sondern auch hinter den menschlichen Patienten. Markus und die 144.000 anderen Demenzpatienten in der Schweiz leiden ebenso, wenn sie ihre Erinnerungen verlieren, ihre Liebsten nicht mehr wiedererkennen und damit einen fundamentalen Teil ihrer Identität verlieren. Auch das Leiden von Menschen wie Anna ist real. 1 von 100 Schweizerinnen und Schweizer leidet an einer schizophrenen Psychose und damit an Symptomen wie Verfolgungswahn, Halluzinationen, Konzentrationsschwächen oder Antriebslosigkeit. Ihre Krankheit treibt sie in die soziale Isolation und endet überdurchschnittlich häufig im Selbstmord.

Dieses Leiden in der Debatte um Affenversuche auszuklammern, ist unzulässig. Wenn wir an einer ehrlichen Güterabwägung interessiert sind, dann müssen wir sowohl das Leid der Tiere als auch jenes der Menschen berücksichtigen. Und vor allem müssen wir ehrlich zu uns selbst sein. Entweder müssen wir uns eingestehen, dass wir zum Wohl von Menschen Tiere töten, oder wir müssen damit leben können, dass das Retten von Tieren Menschen tötet. Eine perfekte Lösung gibt es nicht – ganz egal, ob wir uns für oder gegen Tierversuche entscheiden.

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