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Sannyas

Dieser Mann war Teil des Kults aus der Netflix-Doku 'Wild Wild Country'

In den 90er Jahren lebte Raymond van Mil als Antar Sangit in Indien und folgte dem Guru Osho. Uns erzählt er von seiner Zeit in der berüchtigten Sannyas-Bewegung.
Alle Fotos: bereitgestellt von Raymond van Mil

Raymond van Mil verdient Geld damit, dass er Betrunkenen seine Kamera ins Gesicht hält. Seit acht Jahren arbeitet er als Partyfotograf in Amsterdam und so gut wie jeder regelmäßige Clubgänger der Stadt hat ihn schonmal bei der Arbeit gesehen. Was kaum jemand weiß: Der 46-Jährige nannte sich früher "Swami Antar Sangit" und führte ein Leben in roten Roben und trance-ähnlichen Zuständen. Van Mil war einst Teil der Sannyas-Bewegung um den Guru Osho – der Kult, der durch die aktuelle Netflix-Dokumentation Wild Wild Country wieder im Gespräch ist.

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Uns erzählt der Niederländer, wie er zu der Bewegung kam, wie es im Sannyas-Meditationszentrum in Indien ablief und was er von den skandalösen Geschehnissen im US-Bundesstaat Oregon hält.

VICE: Vom Osho-Anhänger zum Partyfotografen. Wo fangen wir da am besten an?
Raymond van Mil: In Nijmegen, einer niederländischen Stadt nahe der Grenze zu Deutschland. Ich war damals 20 Jahre alt und kiffte viel. Nach einem schlechten Spacecake-Trip litt ich noch Monate später an Angstattacken. Eine Freundin meiner Mutter wollte mir mit einer Hippie-Heilsitzung helfen. Danach ging es mir tatsächlich besser und meine Neugier war geweckt.

Ich fing mit Yoga an. Währenddessen verfielen meine Freunde total dem Guru Osho, der die Sannyas-Bewegung gegründet hatte und kurz vorher im Jahr 1990 gestorben war.

Und der Bewegung hast auch du dich dann auch angeschlossen?
Meine Freunde empfahlen mir die dynamische Meditation – eine Mischung aus tiefer Atmung und wilden Bewegungen. Damals lebte ich von Sozialhilfe und hatte monatelang nichts anderes zu tun, als alleine in meiner Garage zu meditieren und mir dabei die CD anzuhören, die meine Freunde mir gegeben hatten. Das hat mich zu einem komplett anderen Menschen gemacht.

Und du hattest das Gefühl, Oshos Lehre bringt dich weiter?
Ja. Mein bester Freund reiste nach Indien und rief mich irgendwann an: "Mann, du musst unbedingt herkommen!" Also flog ich nach Pune und lebte dort zusammen mit ungefähr 1.500 anderen Menschen fünf Wochen lang in einem sogenannten Ashram, also einem Meditationszentrum der Sannyas-Bewegung.

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Raymond van Mils Pass, mit dem er den Ashram betreten konnte

Raymonds Pass, mit dem er den Ashram betreten konnte

Wie sah es dort aus?
Wie bei einem spirituellen Festival: Es gab Palmen, einen Buchladen, eine große Gemeinschaftsküche und ein riesiges Meditationszelt. Übernachtet hat man in der direkten Umgebung. Die Leute, die in diesem Teil von Pune lebten, vermieteten Zimmer und Wohnungen.

Und was hast du dann den ganzen Tag lang gemacht?
Morgens kaufte ich mir Frühstück und einen Mango-Lassi und ging zum Ashram. Weil ich kein Geld für die Kurse hatte, machte ich das ganze kostenlose Zeug: Ich hing im Buchladen ab, unterhielt mich mit den anderen Leuten, meditierte und las natürlich Oshos Bücher. Jeden Abend wurde eine große Meditationsrunde mit gut 1.000 Menschen veranstaltet, da war ich immer dabei.

Fünf Wochen lang in einem Buchladen abzuhängen und zu meditieren, das klingt ziemlich langweilig.
Einige der anderen Anwesenden ließen sich dort auch richtig gehen, aber mir ging es vor allem um das Meditieren. Da wollte ich mich so richtig reinlernen.


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Hatten die Leute dort auch in der Öffentlichkeit Sex, so wie man es in der Netflix-Doku Wild Wild Country sieht?
Nein, damit war es damals schon vorbei. Zwar gab es in dem Ashram keine wirklichen Vorschriften, aber dieses ganze "Sex in der Öffentlichkeit"-Ding fand eher in den 70ern statt.

Wie hat man sich diese große Meditationsrunde vorzustellen?
Osho hat viele verschiedene Dinge gelehrt. Manchmal saßen wir einfach nur da, manchmal meditierten wir dynamisch. Ich habe aber auch die Lachmeditation ausprobiert. Dabei lacht man drei Stunden lang und meditiert danach eine Stunde. Oder die "Brabbel"-Meditation: 45 Minuten lang alle Geräusche machen, die einem einfallen, und danach still dasitzen. Dein Verstand ist dann komplett still, der ganze Quatsch wie verflogen.

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Dann wurdest du selbst zu einem Swami, wie kam das?
Nach ein paar Tagen entschied ich mich dazu, der Sannyas-Bewegung offiziell beizutreten und einen anderen Namen anzunehmen. Dazu musste ich meinen Beruf angeben. Damals machte ich viel mit Musik, weshalb ich zu "Swami Antar Sangit" wurde – das bedeutet so viel wie "innere Musik".

Raymond mit seiner Halskette, die er beim Initiationsritual bekam

Raymond während der Zeremonie, bei der er zum Swami wurde

Gab es ein Initiationsritual?
Ja, während der großen Meditationsrunde. Zusammen mit den anderen Anwärtern saß ich in einer Reihe und der Anführer hängte jedem von uns eine Halskette um. Das war alles sehr symbolisch. Dann flüsterte man mir meinen neuen Namen ins Ohr, den ich lange Zeit wirklich annahm, obwohl man das nicht musste. Manche Leute kennen mich auch heute nur als Sangit.

"Jede Woche kamen wir in einem großen Kreis zusammen und redeten über unsere Gedanken und Gefühle."

Wie ging es zu Hause in den Niederlanden weiter? Du warst ja plötzlich nicht mehr Raymond van Mil.
Ich machte kein Geheimnis daraus, dass die Meditation jetzt mein Leben bestimmte und ich nun ein Mitglied der Sannyas-Bewegung war. Ich bat mein soziales Umfeld auch darum, mich nur noch Sangit zu nennen.

Wie hat deine Familie darauf reagiert?
Meine Eltern waren zwar immer sehr verständnisvoll, aber sie wollten mich nie Sangit nennen. Das ging für sie zu weit – und das konnte ich auch verstehen.

Raymond isst ein Reisgericht

Konntest du deinen neuen Glauben auch in deiner Heimat voll ausleben?
Ich trat einer relativ großen Sannyas-Kommune in Beuningen, nahe der deutschen Grenze, bei. In dem dazugehörigen Haus gab es einen Gemüsegarten, ein Meditationszimmer und Naturkost. Jede Woche kamen wir in einem großen Kreis zusammen und redeten über unsere Gedanken und Gefühle.

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Weil ich mich dort aber nicht weiterentwickelte, verließ ich die Gemeinschaft wieder. Danach beschäftigte ich mich jahrelang mit der traditionellen chinesischen Medizin und begeisterte mich für die Kampfkunst Tai-Chi.

Irgendwann hast du deinen Geburtsnamen wieder angenommen. Wieso?
Mit 30 wurde mir klar, wie wichtig mir mein echter Name doch ist. Es war an der Zeit, dieses Kapitel meines Lebens abzuschließen.

Raymond macht eine Yoga-Übung auf einem Stück Rasen

Raymond beim Yoga

Nochmal zu Osho: In den 80er Jahren wollte seine Bewegung im US-Bundesstaat Oregon ja eine eigene Kommune aufziehen, was jedoch gehörig schief ging und auch in Gewalt endete. Wie denkst du darüber?
Davon erfuhr ich erst später. Innerhalb der Bewegung wirkten die Geschehnisse wie ein Trauma, alles geriet außer Kontrolle – und Osho starb dann ja auch unter mysteriösen Umständen.

"Wenn ich über meine Vergangenheit rede, muss ich mich wegen der Ereignisse dort immer rechtfertigen."

Die Geschehnisse und die Bewegung gehören für dich also nicht zusammen?
Die Dinge liefen damals nicht wegen Oshos Lehren aus dem Ruder, sondern weil eine große Gruppe Menschen eine neue Stadt gründete. So entstand eine komplett andere Machtstruktur, weil einige Leute ja Führungsrollen übernehmen müssen.

War die Sannyas-Bewegung eine Sekte?
Für mich nicht. Das Projekt in Oregon könnte man aber schon so bezeichnen.

Ist dir das unangenehm?
Ja. Wenn ich über meine Vergangenheit rede, muss ich mich deswegen immer rechtfertigen. Andererseits passte das ganze Vorhaben auch zu der experimentierfreudigen Natur der Sannyas-Bewegung. Es wurde halt ausprobiert, eine Stadt zu gründen. Und es hat nicht geklappt.

Was ist rückblickend der Aspekt, der dir an der Sannyas-Bewegung am besten gefallen hat?
Dass man über nichts geurteilt hat und total offen war. Jedes neue Mitglied wurde sofort freudig aufgenommen. Ich vergleiche das Ganze gerne mit der Atmosphäre eines richtig guten Festivals.

Wie hat dich diese Erfahrung verändert?
Ich bin jetzt ein komplett anderer Mensch – vor allem wenn es um meine Arbeit und den Umgang mit anderen Menschen geht. Egal wo ich welche Subkultur dokumentieren soll, ich fühle mich meistens sofort wohl. Ich bin froh, Swami Antar Sangit gewesen zu sein.

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