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Drogen

Trotz Rezept: Hamburger Polizei soll Cannabis-Patienten misshandelt haben

Matthias darf legal in der Öffentlichkeit Gras konsumieren. Trotzdem, sagt er, habe ihn die Polizei deswegen schikaniert.
Matthias hat seine Verletzungen mit Fotos dokumentiert, sie sollen ihm von Polizisten zugefügt worden sein || Alle Fotos: Privat | Collage: VICE

Fast dreieinhalb Stunden dauert die Fahrt von Berlin nach Hamburg mit dem Bus. Für Matthias eine lange Zeit ohne seine Medizin. Als er am Hamburger Busbahnhof aussteigt, zündet er sich einen Joint an.

Matthias ist Cannabis-Patient und darf Gras legal auf Rezept konsumieren. Nach Hamburg ist er gereist, um in einer Apotheke neues zu kaufen. Die Apotheke hat immer zuverlässig alle Sorten, die er braucht. Deshalb, sagt er, nehme er den Weg in Kauf. Doch dazu wird es am 6. September dieses Jahres nicht kommen. Was genau an diesem Tag passierte, wird ein Gericht klären müssen. Aber so schildert Matthias die Ereignisse gegenüber VICE.

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Mit seinem Gepäck auf dem Rücken und einem Joint zwischen den Lippen macht er sich gegen 13 Uhr auf den kurzen Fußweg vom Busbahnhof zum Hauptbahnhof. Von dort aus will der 27-Jährige die S-Bahn nach Hamburg-Harburg zu seiner Apotheke nehmen. Doch auf halbem Weg halten ihn mehrere Polizisten an. "Es ist verboten, hier Gras zu konsumieren", soll ihm einer zugerufen haben. Sofort hätten die Beamten ihn geduzt, sagt Matthias. Er verweist auf seinen Patienten-Status, will sich ausweisen und den Beamten sein Rezept zeigen.


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In dem Moment, als er seinen Personalausweis in die Hand nimmt, um sich auszuweisen, hätten ihn die drei Polizisten überwältigt, sagt Matthias: "Sie sprangen auf mich drauf, verdrehten mir den Arm und überspreizten meinen Daumen bis zu meinem Unterarm, sodass mein Joint aus der Hand fiel." Über mehrere Meter sollen ihn die Polizisten über den Asphalt geschliffen haben, während er sich die Seele aus dem Leib geschrien haben will.

Matthias sagt, er habe gerufen, dass sie von ihm ablassen sollen, er chronische Schmerzen habe, seinen Ausweis in der Hand halte, schwerbehindert sei und dazu berechtigt, Cannabis zu konsumieren. Das Rezept dafür sei in seinem Rucksack, habe er gerufen. Dass Matthias wirklich über ein solches Rezept verfügt, bestätigte seine Apothekerin Vanessa Kayn auf Anfrage von VICE.

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Nachdem Matthias fixiert wurde, soll einer der Polizisten gesagt haben: "Jetzt kannst du nie wieder mit deinem Daumen einen Joint drehen."

Ärztlicher Befund belegt die Verletzungen

Am nächsten Tag wird ein Arzt in einer Harburger Klinik bei Matthias eine Prellung am rechten Daumen und eine Halsprellung diagnostizieren, außerdem Schürfwunden an beiden Knien und am Kopf. Der Befund liegt VICE vor. Matthias sagt, er habe noch immer Schmerzen im Daumen und sei deshalb in orthopädischer Behandlung. Außerdem leide er seit dem Vorfall unter Panikattacken, Depression und Angstzuständen. Diese Begleiterscheinungen seiner Erkrankung seien durch seine Cannabis-Therapie ursprünglich zurückgegangen, jetzt aber wieder zurückgekehrt.

Matthias lebt seit seiner Kindheit mit Fibromyalgie, einem chronischen Dauerschmerz in verschiedenen Körperregionen, der Antriebslosigkeit, Migräne, Kopfschmerzen sowie Rücken- und Gelenkprobleme auslösen kann. Fibromyalgie ist nicht heilbar. Gegen die Schmerzen habe Matthias früher Opiate bekommen, die nicht anschlugen, aber teilweise zu heftigen Nebenwirkungen geführt hätten. Erst als er in der Pubertät zum ersten Mal an einem Joint zog, habe sich die Situation gebessert.

"Cannabis ist kein Allheilmittel", sagt Matthias. "Aber schon ein kleines Wundermittel für mich." Seit Juni 2017 hat er ein Privatrezept für Cannabis. Es lindere seine Schmerzen, 100 Gramm im Monat konsumiere er davon – meist als Joints, manchmal in Kekse gebacken.

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Weil die Krankenkasse seinen Antrag auf Kostenübernahme abgelehnt hat, zahlt Matthias bis zu 2.000 Euro im Monat für seine Medizin. Ein Gramm Cannabis kann in deutschen Apotheken derzeit mehr als 20 Euro pro Gramm kosten. Bei drei bis vier Gramm pro Tag – für Schmerzpatienten nicht unüblich – können so schnell hohe Kosten zusammenkommen. Für Matthias lohnt sich diese Investition. "Es lässt meine Probleme nicht verschwinden, aber erlaubt mir im Alltag zu funktionieren", sagt er.

Auch die Apothekerin kann die Beamten nicht überzeugen

Nachdem die Polizei ihn festgenommen hat, habe laut Matthias erst die eigentliche Schikane begonnen. Kurz vor 14 Uhr bei der Ankunft auf der Wache des Polizeikommissariat 11 in Hamburg-St. Georg, soll einer der Polizisten die Vermutung geäußert haben, er sei Drogendealer – er habe ja Bargeld dabei. Matthias sagt, er hatte ca. 800 Euro dabei gehabt, um bei der Apotheke Cannabis zu kaufen.

Schließlich erreicht Matthias am Telefon seine Apothekerin Vanessa Kayn, die die Echtheit seines Rezeptes und des Patientenstatus bestätigen kann.

"Es wirkte in dem Telefonat so auf mich, als hätten die Polizisten gar keine Ahnung von der Materie", sagt Kayn gegenüber VICE. Der Beamte am Telefon habe zunächst nicht mit ihr reden wollen. Erst als ihre Kollegin andeutete, den Dienststellenleiter kontaktieren zu wollen, soll der Beamte ihr zugehört haben. "Trotzdem waren seine Aussagen teilweise absurd, er sagte, in seinem Bezirk erkenne er Drogengeld sofort", sagt Kayn.

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Leider höre sie ständig von Fällen, in denen Patientinnen und Patienten trotz Rezept schikaniert werden. Acht Stunden auf der Wache seien da keine Seltenheit.

Matthias sagt, dass er auf der Wache seinen Anwalt telefonisch nicht habe erreichen können. Aber auch seine gesetzliche Betreuerin habe den Beamten am Telefon seinen Patientenstatus bestätigt. Auf seinen eigenen Antrag hin hilft sie ihm bei behördlichen Dingen, die er aufgrund seiner Erkrankung selbst nicht erledigen kann. Doch auch diese Beteuerung seiner Unschuld nützte laut seiner Schilderung nichts.

Die Polizei hat ein Strafverfahren gegen Matthias eingeleitet

Noch vor diesen Telefonaten soll einer der Beamten zu Matthias gesagt haben, im Gefahrengebiet Hamburg sei auch mit Rezept der Konsum von medizinischem Cannabis illegal. Ob diese Aussage getätigt wurde oder die Rechtslage tatsächlich so ist, wollte die Polizei Hamburg mit Verweis auf das laufende Verfahren auf Anfrage nicht beantworten. Schaut man allerdings in die Rechtsgrundlage für Gefahrengebiete in Hamburg – Paragraf 4, Absatz 2, Satz 1 des Gesetzes über die Datenverarbeitung der Polizei –, steht darin nichts davon, dass jemand bestimmte Medikamente in diesem Gebiet nicht mit sich führen darf.

Die Polizisten sollen laut Matthias ihn anschließend dazu aufgefordert haben, sich auszuziehen. Matthias sagt, er wurde durchsucht, auch zwischen seinen Pobacken und an den Genitalien sei er angefasst worden: "Ich hielt das alles für einen schlechten Scherz." Im Laufe der Befragung sollen ihn die Polizisten zudem mit den Worten "friss Scheiße" beleidigt und ihn ein "Stück Scheiße" genannt haben.

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Nach rund fünf Stunden habe er die Wache verlassen dürfen, sagt Matthias.

Die Polizei hat inzwischen ein Strafverfahren wegen des Besitzes von Betäubungsmitteln sowie Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte gegen Matthias eingeleitet. Auch zu den Vorwürfen könne sich die Polizei nicht äußern, teilte eine Sprecherin gegenüber VICE schriftlich mit – ebenfalls mit Verweis auf das laufende Ermittlungsverfahren. Nach dem Abschluss ihrer Ermittlungen werde die Polizei das Verfahren an die Staatsanwaltschaft Hamburg übergeben. "Sofern dort ein Übermaß bzw. eine Unverhältnismäßigkeit gesehen wird, wird dort ein gesondertes Ermittlungsverfahren eingeleitet", schreibt die Sprecherin. Dann werde sich das Dezernat Interne Ermittlungen um die Vorwürfe kümmern.

Außerdem habe der Beschuldigte die Möglichkeit gehabt, die eingesetzten Beamten anzuzeigen, sich aber dagegen entschieden, schreibt die Sprecherin. Sollten sich die Ereignisse tatsächlich so abgespielt haben, wie sie Matthias beschreibt, hätte er einen zumindest nachvollziehbaren Grund dafür. "Ich hatte Angst, war eingeschüchtert", sagt Matthias. Deshalb habe er vor Ort keine Anzeige stellen wollen: "Man rennt ja nicht zu dem, der einen misshandelt hat, und sagt, dass der dazu eine Anzeige schreiben soll."

Wenn du ebenfalls ein Rezept für medizinisches Cannabis besitzt, trotzdem Probleme mit Behörden hattest und du mit VICE über deine Erfahrungen sprechen möchtest, erreichst du unseren Redakteur Tim Geyer per E-Mail oder Twitter-DM .

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