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Warum Keith Flint von The Prodigy der einzig wahre Rockstar der elektronischen Musik war

Der ikonische Frontmann ist mit 49 Jahren gestorben. Doch seine übermenschliche, aufwühlende Präsenz lebt weiter, nicht nur in den Kindern der 90er Jahre.
Keith Flint von The Prodigy in 1996
Keith Flint bei einem Auftritt von The Prodigy auf dem schottischen Festival T in the Park, Juli 1996 || Foto: Trinity Mirror | Mirrorpix | Alamy Stock Photo

In aller Welt verschlug es Fans elektronischer Musik am 4. März die Sprache: Am frühen Morgen fanden Polizeibeamte Keith Flint, Frontmann von The Prodigy, tot in seiner Wohnung in der englischen Grafschaft Essex. Er wurde 49 Jahre alt.

Keith Flint hatte immer wie eine Naturgewalt auf zwei Beinen gewirkt, unaufhaltsam. Für viele Kinder der 90er Jahre war und ist Keith eine überlebensgroße Figur, eine Ikone der Ausgelassenheit und des Selbstausdrucks. Er lockte Raver-Kids an, als sei er der Rattenfänger von Hameln mit Septum-Piercing. Wir konnten nicht anders, als ihm in den Tanz zu folgen.

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Wie wichtig The Prodigy für die Musikgeschichte war, lässt sich am besten aus der 90er-Perspektive verstehen. Die Band gründete sich 1990 und hätte auch als seltsames One-Hit- oder Two-Hit-Wonder in der Versenkung verschwinden können, doch stattdessen traf sie den Zeitgeist und wurde zur Verkörperung der Wut und Wildheit, des Lebenshungers einer ganzen Generation. Der "Second Summer of Love" Ende der 80er Jahre hatte der britischen Jugend mit Acid House und MDMA Hoffnung auf eine neue Freiheit gemacht, die nie kam. Ein absurdes neues Gesetz zerstörte 1994 die freien Raves der Insel: Die Polizei durfte nun gegen Partys vorgehen, bei der "repetitive Beats" gespielt wurden – es ging eindeutig darum, die DIY-Rave-Szene zu sprengen.

Keith Flint beschrieb die damalige Szene, in der Gratis-Raves üblich waren, 2014 in einem Interview: "Die Regierung wusste nicht, was das ist. Die Polizei hatte keine Ahnung, wie man das kontrolliert. Die Kids hatten das Sagen." Diese Kids trugen seltsame Kleidung, hatten noch seltsamere Frisuren und eine rebellische Attitüde, wie sie Großbritannien – und der Rest der Welt – seit den Sex Pistols nicht gesehen hatte.

Nach ihrem 92er-Debüt Experience schafften es The Prodigy mit jedem ihrer Alben auf Platz 1 der britischen Charts. Auch in Deutschland, Australien, den Niederlanden und vielen anderen Ländern schnellten sie mit ihren Releases in die Top Ten. Die Platten erreichten stets Platin- und Goldstatus, allen voran The Fat of the Land von 1997, das mit Vierfach-Platin ausgezeichnet wurde.

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Keith Flints eigener Weg an die Spitze der Dance-Musik war von Zufällen geprägt. "Ich fand zur Rave-Kultur, nachdem ich auf Reisen gewesen war", sagte er 2014. "Ich war damals ein wenig verloren." Er habe keine Wohnung gehabt und in Braintree, Essex, auf dem Sofa von Liam Howletts damaliger Freundin geschlafen. "Ein Kumpel von ihr erzählte mir von den Raves im Barn, einem örtlichen Club." Er habe so leidenschaftlich gesprochen, dass Keith sich gedacht habe: "Ich muss Teil davon werden." Am Freitag darauf ging er mit ins Barn. "Ich nahm etwas Acid, etwas Ecstasy, danach war es um mich geschehen." 1989 lernte Keith in der legendären Location Liam kennen, beide waren noch Teenager.

Ein Jahr später war The Prodigy geboren. Ursprünglich war für Keith nur die Rolle eines Tänzers vorgesehen. Wir wissen alle, wofür er stattdessen berühmt wurde.

Ich lernte Keith Flint so kennen wie der Großteil seiner Fans: als stachelhaarige, geradezu übernatürliche Erscheinung, die im Schwarz-Weiß-Video zu "Firestarter" in einem düsteren Tunnel die Zähne fletscht. Als The Prodigy das Video 1997 auf die Welt losließen, war ich erst acht Jahre alt. Im selben Jahr starb Lady Diana, außerdem machte das Klon-Schaf Dolly Schlagzeilen, doch an nichts davon erinnere ich mich wirklich. Die 3 Minuten und 46 Sekunden von "Firestarter" brannten sich dagegen für immer in mein Bewusstsein. Diese seltsame, furchteinflößende Gestalt, halb Clown, halb Buhmann, die in einem verstörenden Tanz durch ihre persönliche Unterwelt springt und zuckt. Ich hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen.

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Damals gab es kein YouTube, viele hatten zu Hause noch gar keinen Internetanschluss. Es sollte also noch lange dauern, bis ich wieder in den Genuss kam, Keith Flint zu sehen. Die BBC verbot das "Firestarter"-Video, weil die Performance des Songs in der Musik-Show Top of the Pops angeblich Kinder verängstigt hatte. Außerdem deute der Songtext darauf hin, dass die Mitglieder von The Prodigy eine "Fixierung auf Brandstiftung" hätten.

Keith hatte die Songs nicht geschrieben, aber für die Öffentlichkeit war er gleichbedeutend mit der Band The Prodigy. Liam hatte das erste Prodigy-Mixtape erstellt, nachdem Keith ihn ermutigte. Es waren Keith Flints Vocals auf "Firestarter" und "Breathe", die die Band auch auf Platz 1 der US-Charts katapultierten und ihrem Big-Beat-Sound dort den Weg ebneten. Das britische Musikmagazin The Face packte 1996 für eine Coverstory nicht die ganze Band aufs Titelbild, sondern lediglich Keith.

Doch es war seine Arbeit auf der Bühne, die den größten Impact hatte. The Prodigy live zu sehen war, als würde man miterleben, wie einem Weißen Hai Beine wachsen und er damit losmosht. Keith tobte über die Bühne; schlug und trat; schnitt Grimassen; kaute auf dem Mikro. Von ihm ging eine unvergleichliche, wahnhafte Energie aus. 2006 erlebte ich mit, wie er die Crowd mit "Firestarter" in solche Ekstase peitschte, dass hinterher eine Gruppe den Song sang, während sie auf dem Campingplatz Zelte in Brand steckte – darunter meins. Ich musste reinpreschen, um meine Autoschlüssel und meinen Schlafsack zu retten. Selbst als mir vom verschmorten Plastik die Augen tränten, konnte ich nur denken: "Das hier ist fantastisch!"

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Keith Flint war nicht nur die Band, ein Stück weit war es auch umgekehrt. Auf The Fat of the Land folgte eine fünfjährige Pause, 2004 erschien Always Outnumbered, Never Outgunned. Bandleader Liam entschied sich diesmal für Gastsänger. Das schadete nicht nur dem Album – die Kritiken fielen lauwarm aus – sondern auch Keith. Er verfiel in Depressionen und wurde abhängig von verschreibungspflichtigen Medikamenten, wie er später erzählte. Nach Invaders Must Die (2009) übernahm er eine größere Rolle, viele der jüngeren Prodigy-Tracks stammen mit aus seiner Feder.

Die Bühne war Keiths angestammter Platz, weil er die Subkultur verkörperte, die er mit erschaffen hat. Er tat, was vor und auch nach ihm kaum jemandem gelungen ist: Er verwandelte elektronische Beats in eine ergreifende, elektrisierende Live-Erfahrung, mit dem Spektakel des Stadionrocks und der unbändigen Energie eines Drum-n-Bass-Raves. Dazu brauchte er keine Daft-Punk-Pyramide und keinen Mau5head, sondern nur seine übermenschliche, wilde Präsenz.

Ende der 90er, als The Prodigy auf dem Höhepunkt ihres Weltruhms waren, hatten Musikmedien die faule Angewohnheit, DJs zu den neuen Rockstars zu erklären. Sie hatten Unrecht. Es gab nur einen elektronischen Rockstar, und er war kein DJ. Er war ein Firestarter.

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