Bijan, 29, hat Tourette – und will in den Hessischen Landtag
Fotos, sofern nicht anders gekennzeichnet: Dennis Dirksen

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Tourette-Syndrom

Bijan, 29, hat Tourette – und will in den Hessischen Landtag

Seit er sechs ist, hat Bijan Kaffenberger unkontrollierbare Ticks. Doch das hält ihn nicht davon ab, sich vor Tausenden Menschen ans Rednerpult zu stellen.

Erst denkt Bijan, es wäre nur eine schlechte Angewohnheit. Als er im Unterricht sitzt, sein Kopf plötzlich nach vorne ruckt, sein Arm unkontrolliert unter dem Tisch zuckt. Bijan Kaffenberger sitzt in der Grundschule im südhessischen Darmstadt. Er ist gerade dabei, die Kontrolle über seinen Körper zu verlieren – auch wenn er das damals noch nicht weiß. Er ist ja gerade erst sechs. 23 Jahre ist das nun her. Plötzlich kann Bijan nicht mehr ruhig sitzen, stehen oder laufen. Auf einmal will seine Motorik nicht mehr so, wie er will. Sein Kopf, seine Beine, seine Zunge – sie gehorchen ihm nicht mehr. Immer jeweils nur für ein paar Sekunden zwar. Diese Sekunden aber werden ihn von nun an sein Leben lang begleiten. Bijan hat das Tourette-Syndrom.

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Seit dem Tag hat sich viel verändert in Bijans Leben. Die Ticks aber sind die gleichen geblieben, manchmal erwischen sie ihn mitten im Satz. Ganz plötzlich setzt seine Stimme dann aus, nur ein paar Laute dringen noch aus seinem Mund. Wahrscheinlich sagt es eine Menge über Bijan aus, dass er jetzt um einen Job kämpft, bei dem ihm Tausende Menschen im Fernsehen beim Reden zuschauen würden. Er kandidiert für den Hessischen Landtag. Dass er nicht vorhat, sich von seiner Krankheit aufhalten zu lassen, hat Bijan schon lange bewiesen.

Mehr als 40.000 Menschen in Deutschland leiden am Tourette-Syndrom. Was die Nervenkrankheit auslöst, ist bisher nur ansatzweise erforscht. Man geht davon aus, dass die meisten Fälle genetisch bedingt sind. Entwickeln kann sich "Tourette" aber wohl nur, wenn während der Schwangerschaft negative Faktoren wie Rauchen oder Sauerstoffmangel dazukommen. Erkrankte haben mit Ticks zu kämpfen – rasche, meist plötzlich einschießende Bewegungen, die sogar im Schlaf auftreten. Oft haben sie zudem Probleme, sich aufs Lesen, Schreiben und Rechnen zu konzentrieren. Sie können zwanghafte Rituale entwickeln oder leiden unter Depressionen und Schlafmangel.

Bijan identifiziert sich so sehr mit Darmstadt, dass er sich das Wappen der Stadt tätowieren lassen hat

Bijans Wahlkreis ist der Süden von Darmstadt, inklusive einiger Vororte. Die Stadt im Süden Hessens ist nicht für viel bekannt. Zuletzt hat man vor ein paar Jahren aber in ganz Deutschland mitbekommen, wie der SV Darmstadt 98 mit wenig Geld und in nur drei Jahren den Weg von der Dritten Liga in die Fußball-Bundesliga schaffte: mit viel Kampf und Leidenschaft – Tugenden, die gut zu Bijan passen. Auch er hat einen außergewöhnlichen Weg hingelegt, seit er in Darmstadt geboren wurde und in Roßdorf, einem Vorort, aufwuchs. Die Lilie, das Wappen der Stadt und ihres Vereins, hat er sich von einem Freund auf den Knöchel tätowieren lassen.


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Heute ist der 29-Jährige Doktorand der Wirtschaftswissenschaften. Unter anderem. Dazu SPD-Kommunalpolitiker, Referent für Breitbandausbau im Thüringer Wirtschaftsministerium und Buchautor. Mit Tourettikette hat er seine eigene Ratgeber-Sendung bei "Funk", dem Online-Angebot für junge Leute von ARD und ZDF.

Bijan sieht nicht aus, wie man sich einen Kandidaten für den Hessischen Landtag vorstellt. Über dem Hemd trägt er einen blauen Zipper, im Gesicht einen Siebentagebart, auf der Nase sitzt eine Hornbrille.

Bijan wächst ohne seine Eltern auf

Um zu begreifen, wie er so weit geschafft hat, bis kurz vor den Plenarsaal des Wiesbadener Landtags, muss man 23 Jahre zurück in die Vergangenheit.

Als Bijan sechs ist, stirbt seine Mutter. Der Vater lebt zu der Zeit schon lange in Marokko und interessiert sich nicht für seinen Sohn. Bijan wächst fortan bei den Großeltern auf. Es sei eine schwere Zeit gewesen, erzählt er heute. Die vielen Besuche bei den Kinderärzten, die Verunsicherung, als keiner der Ärzte erklären kann, was dem Kleinen fehlt. Ein Spezialist in der Uniklinik Göttingen erkennt schließlich die Krankheit. Da ist Bijan bereits elf Jahre alt. "Den Ärzten war nicht bewusst, dass meine Ticks Teil von etwas Komplexen sein könnten", sagt er heute. Tourette habe damals noch nicht so in der Öffentlichkeit gestanden wie heute.

Bijan hat sich nie von seiner Krankheit aufhalten lassen und ist seinen Weg gegangen

Doch Bijan lässt sich nicht abschrecken. "Ich war schon immer ein cleveres Kerlchen und ziehe mein Ding durch", sagt er. Nur: Wie schafft man das, mit Tourette? Es klingt, als wisse es Bijan selbst nicht recht. Glück mit den Großeltern habe er gehabt. Sie seien oft mit ihm in den Urlaub gefahren, sagt er. Wenn er mal wieder wegen seiner Krankheit einen Spruch abbekam, zum Beispiel, ob er überhaupt ohne Helm das Haus verlassen dürfe, dann wusste Bijan, dass seine Freunde ihm den Rücken freihalten. Diese Erfahrungen stärken das Selbstwertgefühl, auch wenn Bijan betont, dass er schon immer seinen eigenen Weg gegangen sei. Helmut Schmidt habe mal gesagt, man brauche Willen und Zigaretten. "Sehe ich ähnlich", sagt Bijan, "allerdings versuche ich, auf die Zigaretten zu verzichten."

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Der Einzug in den Hessischen Landtag? "Die Chancen stehen fifty-fifty"

Bijans Weg zur Politik klingt wie eine Geschichte aus längst vergangenen, westdeutschen BRD-Zeiten, fast ein bisschen kitschig. Schon als Kind sei er oft an den Wahlplakaten stehen geblieben, erzählte ihm die Oma später. Bei einer Wahlkampfveranstaltung auf dem Marktplatz in Roßdorf tätschelt ihm der damalige SPD-Landrat den Kopf, auf dem Sofa bleibt er auch sitzen, wenn im Fernsehen die Nachrichten laufen. Später, auf dem Gymnasium, ist Politikwissenschaft sein Lieblingsfach. Und weil er in sozialdemokratischem Kernland aufwächst und seine Großeltern aus Arbeiterfamilien stammen, liegt es nahe, dass er mit 17 Jahren in die SPD eintritt. Er engagiert sich bei den Jusos und sitzt im Vorstand des Stadtschülerrats.

Bijans Augen strahlen, wenn er über Politik redet. Sein Kopf wippt noch ein bisschen stärker nach links und rechts als sonst. Das Engagement habe ihm einfach immer Spaß gemacht, vor allem politische Bildungsarbeit mit Gleichaltrigen. Teilweise sei er aber entsetzt, wie wenig manche Leute Bescheid wüssten. Neulich habe er einem 20-Jährigen den Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimme erklären müssen. "Ganz ehrlich", sagt Bijan, "dafür muss ich kein Grundlagenseminar in Politikwissenschaften besuchen."

Bijan sitzt seit 2016 im Kreistag von Darmstadt-Dieburg, der Landtag wird im Oktober gewählt. "Die Chancen stehen fifty-fifty", sagt er. In Darmstadt kann die SPD noch gewinnen – in anderen Regionen in Hessen ist das ja längst keine Selbstverständlichkeit mehr. Aber der Wahlkampf geht gerade erst in die heiße Phase, Bijan ist viel unterwegs, deswegen wohnt er zur Zeit wieder bei seiner Oma in Roßdorf.

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Am Rednerpult werden die Ticks weniger

Die Vorwahl der SPD gewann er mit 42 zu 20 Stimmen gegen seinen Konkurrenten. Der deutliche Erfolg überraschte ihn selbst. Er dachte, dass es Genossinnen und Genossen gebe, die ihm die Kandidatur nicht zutrauten. "Doch die belehre ich eines Besseren", sagt er. Es schwingt viel Selbstvertrauen mit in Bijans Sätzen. Warum auch nicht? Er weiß schließlich, worauf er sich einlässt. Auch im Kreistag musste er Reden halten. Deshalb weiß er, dass es funktioniert. "Wenn ich da vorne stehe und rede", sagt er, "bin ich so auf meinen Text konzentriert, dass die Ticks weniger werden." Klar, die Bühne im Landtag ist größer. Was das für ihn heißt, lässt er auf sich zukommen. Vielleicht ist er nervöser, vielleicht werden die Symptome stärker. Doch selbst, wenn die Leute komisch gucken sollten: Bijan weiß längst, dass solche Situationen immer mal wieder auf ihn zukommen werden. Ein Problem habe er damit nicht, sagt er. Die Reaktionen würden ihm sogar helfen, sich ein Bild zu machen von den Leuten, die er trifft, sie voneinander zu unterscheiden.

Manchmal helfe das Tourette-Syndrom ihm sogar, Verbindungen zu den Wählerinnen und Wählern aufzubauen, sagt Bijan

Im Wahlkampf sind die meisten Bühnen eh noch nicht ganz so groß. Seit einigen Wochen tingelt Bijan schon durch die Vororte: Roßdorf, Ober-Ramstadt, Mühltal. Er trifft sich mit der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen, organisiert mit einem Freund, dem Musiker Joe Astray, ein Konzert in der Darmstädter Orangerie, macht Hausbesuche. Manchmal erzählt Bijan den Menschen, dass er Tourette hat, wenn sie ihn irritiert anschauen. Manchmal hilft es sogar, eine Verbindung zu den Wählerinnen und Wählern aufzubauen. Zum Beispiel wenn er die Flyer zum Ausbau des öffentlichen Personennahverkehr verteilt. Schließlich ist er selbst betroffen, wegen seiner Krankheit kann er kein Auto fahren.

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Viel Freizeit bleibt gerade nicht, der Terminkalender ist voll, Wahlkampf eben. Für Bijan ist die Herausforderung aber besonders groß: Unter Stress werden die Ticks stärker. Wenn er ein Interview vor der Kamera gibt, das Adrenalin durch seinen Körper strömt, dann wippt sein Kopf häufiger und die Arme zucken stärker. Deswegen muss er seinen Alltag genau planen.

Manche Situationen lassen sich trotzdem nicht vermeiden. Natürlich werden Termine auch mal kurzfristig verschoben. Oder die Bahn hat Verspätung. "So ist das nun mal", sagt er, "ich bin ja nicht alleine auf der Welt."

Auf YouTube versucht Bijan, die Menschen für Tourette zu sensibilisieren

Vieles, was Bijan sagt, klingt überraschend entspannt, beinahe lässig. Sein Leben versucht er so normal wie möglich zu halten. Medikamente zum Beispiel nimmt er keine. Sie würden die Ticks abschwächen, er wäre dann aber auch ständig müde und könnte kein Bier mit seinen Freunden in der Kneipe trinken. Viele Einschränkungen muss er trotzdem hinnehmen: Beim Gemüseschneiden muss er aufpassen, dass er sich nicht mit dem Messer verletzt. Die Blicke der Leute in der Bahn gehören eh zu seinem Alltag.

Dem 29-Jährigen ist es trotzdem wichtig, offen mit seiner Krankheit umzugehen. Er glaubt, dass er durch seine satirische Ratgeber-Sendung Tourettikette einen Beitrag geleistet hat, die Krankheit stärker in den öffentlichen Fokus zu rücken. Die Kommentare unter den Videos auf YouTube beweisen, dass er tatsächlich schon viele Menschen sensibilisiert nat.

In seiner Sendung auf YouTube beantwortet Bijan Fragen von Zuschauenden – auch über das Tourette-Syndrom | Foto: Hyperbole TV | Benjamin Kahlmeyer

In der Sendung sitzt Bijan in einem Kaminzimmer auf einem braunen Ledersessel, neben ihm steht eine Stehlampe, auf dem Boden liegt ein Bärenfell, er trägt einen Anzug. Er beantwortet alle möglichen Fragen der Zuschauer, egal wie absurd: "Wieso müssen Männer immer ankündigen, dass sie kacken gehen?", will jemand wissen. Ein User fragt: "Wie sage ich meinem Vater, dass ich auf meine Schwester stehe?" Seine Krankheit steht als Thema nicht immer im Vordergrund, sie ist aber ständig präsent, das ist ja die Idee. "Hat der Typ wirklich Tourette?", fragt zum Beispiel jemand skeptisch. Eine Politiker-Antwort gibt Bijan nicht, er sagt: "Nur weil ich nicht die ganze Zeit 'Ficken', 'Limbo' oder 'Scheiße' sage, heißt das doch lange nicht, dass ich kein Tourette habe!" Vieles an der Sendung ist Geschmackssache, für den Politiker Bijan aber zählt unterm Strich die mediale Aufmerksamkeit. Und die bekommt er: Er ist schon bei Hirschhausens Quiz des Menschen aufgetreten, war Gast im Sat.1 Frühstücksfernsehen, und Spiegel TV begleitete ihn einen Tag lang beim Wahlkampf.

Darmstadt, Stadtteil Bessungen, an einem Samstagnachmittag. Es regnet. Bijan muss zum nächsten Termin. "Ich mache jetzt noch ein bisschen Wahlkampf bei einem Tennisturnier", sagt er und grinst, "sozialdemokratische Arbeitszeiten sind das nicht!" Sein Körper zuckt, der Kopf ruckt nach vorne, der rechte Arm fliegt in die Luft. Wie "ein Muppet unter Starkstrom", schrieb einmal eine große Tageszeitung über Bijan. Man könnte auch sagen: Wie ein junger Politiker, der verdammt hart arbeitet. Der eine Menge hinter, aber vielleicht noch deutlich mehr vor sich hat.

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