Ein Zufluchtsort auf Zeit: Das Internet in Orbáns Ungarn
Eine Demonstrantin hält einen Internet-Router in die Luft. Foto: Ádàm Polhodzik 

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Ein Zufluchtsort auf Zeit: Das Internet in Orbáns Ungarn

Die ungarische Medienlandschaft ist am Ende: Sie ist rechtlich, wirtschaftlich und inhaltlich an ihren Autokraten gekettet. Kann das Internet in einem illiberalen Staat ein Ort der Freiheit sein?

"Die Situation ist hoffnungslos", sagt der Budapester Medienforscher Tamas Tofalvy. Er redet über die Presse- und Meinungsfreiheit in Ungarn. Die repressive Regierung von Viktor Orbán (und der Partei Fidesz) habe fast alle Medien in "Gefangenschaft" genommen. Die neue Strategie habe aber wenig mit klassischer Zensur zu tun, erklärt Tofalvy. "Zensur ist nicht mehr cool und zu leicht zu durchschauen".

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Laut dem Medienforscher habe die ungarische Regierung vier Maßnahmen gesetzt, um die Medien im Land zu kontrollieren – und zwar nicht, indem sie beim Inhalt eingreifen muss, sondern indem sie das Ökosystem gleich als Ganzes verändert. Diese Maßnahmen sind:

1. Totale Kontrolle über die öffentlich-rechtlichen Medien
2. Staatliche Inserate nur für Medien mit regierungsfreundlicher Berichterstattung
3. Scheinbar unabhängige Holdings werden Eigentümer von Medien
4. Aufkauf von kritischen und ausländischen Medien durch diese Holdings

Die öffentlich-rechtlichen Medien könne man "ruhigen Gewissens" als Regierungspropaganda bezeichnen, meint Tofalvy. Die Sache sei klar: Diese Medien sind verloren.

Der zweite Punkt ist etwas feinfühliger und war auch hierzulande schon öfter Thema. Österreich-Herausgeber Wolfang Fellner wehrt sich gegen den Vorwurf, Parteien würden mit Inseraten freundliche Berichterstattung kaufen. Staatliche Inserate würden nur 7 Prozent des gesamten Werbevolumes ausmachen.

In Ungarn sind die Dimensionen anders: Bei PestiSrácok.hu, einer regierungsfreundlichen Website, machen die staatlichen Inserate laut Auskunft des Chefredakteurs "70 bis 80 Prozent" aus. Man muss kein großartiger Betriebswirt sein, um zu erkennen: So ein Medium würde ohne Wohlwollen der Regierung umgehend eingestellt werden müssen.

Wenn man die ungarische Medienlandschaft kennt, wird einem schnell klar, welches politische Ausmaß das Internet hat.

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Die ungarische Regierung dürfte vor einigen Jahren jedenfalls ein gutes wirtschaftliches Gespür gehabt haben. "Die Regierung hat die durch sinkende Werbeeinnahmen verursachte Medienkrise erkannt", sagt Tofalvy. "So wurden viele Medien mit Inseraten oder einem Buyout gerettet".

Freunde Orbáns und andere scheinbar Unabhängige hätten so Macht und Kontrolle über Medien erlangt. Andere Medien verloren ihren Einfluss oder Eigentümer. So stellte die Investmentgruppe VCP die größte regierungskritische Zeitung ein und verweigerte den Journalisten den Zugang zu ihren Recherchen. Der kritische Journalismus sei bestraft worden, meinte der Vize-Chefredakteur. Aus dem Umfeld dieser Gruppe gingen im Juli 2017 alle ungarischen Medien des österreichischen Russmedia-Verlags (zu dem auch die Vorarlberger Nachrichten gehören).

Hinzu kommen extreme rechtliche Einschränkungen durch das europaweit kritisierte Mediengesetz 2010/11 und eine inhaltliche Kontrolle "der ausgewogenen Berichterstattung" durch die nationale Medienbehörde. Die Präsidentin dieser Behörde wird übrigens von Viktor Orbán persönlich ernannt.

"Freie Medien tragen eine Demokratie. Und das ist der Grund, warum Ungarn abfuckt."

"Im Internet", lautet die Antwort des Datenjournalisten Attila Bátorfy vom Investigativmedium atlatszo.hu auf die Frage, wo man unabhängige Berichterstattung über ungarische Politik finden könne. Bátorfy hat unter anderem die Geldströme der Regierung zu Medien recherchiert und visualisiert. Er hält die abhängige Medienlandschaft für den Auslöser sehr vieler Probleme: "Freie Medien tragen eine Demokratie. Und das ist der Grund, warum Ungarn abfuckt". Egal, wie groß der aufgedeckte Skandal ist, die Recherchen seines Mediums würden es so gut wie nie in staatsnahe Medien schaffen.

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Erst, wenn man die ungarische Medienlandschaft kennt, wird klar, welches politische Ausmaß das Internet in Ungarn hat. Für die Opposition dürfte es überlebenswichtig sein. "Die Nachrichten werden zentral vom Kabinett des Ministerpräsidenten, dem Propaganda-Ministerium, dirigiert", meint Momentum-Sprecher Miklos Hajnal.

"Meine Generation schaut kein fucking Fernsehen. Unser politisches Leben passiert auf Facebook."

Die "Hipster-Patrioten" dieser 2017 gegründeten Bewegung, zu der vor allem junge Akademiker mit Auslandserfahrung gehören, wollen Ungarn zu einem modernen, digitalen Land innerhalb der EU machen. Ohne Viktor Orbán. Mit den traditionellen Massenmedien haben sie keine guten Erfahrungen gemacht, erklärt Hajnal: "Attacken gegen Oppositionsparteien sind Alltag. Schmutzkampagnen und gefälschte Berichte werden am Fließband produziert."

Ádám Derda, der die Jugendorganisation ("Y-Gen") der sozial-liberalen Oppositionspartei Together leitet, sieht die Situation ähnlich pessimistisch. Trotz der enormen Reichweite erreiche er über traditionelle Medien kaum Leute, die für seine Botschaft empfänglich seien. Die großen Sprachrohre des Landes sind für ihn zweitrangig geworden. "Meine Generation schaut kein fucking Fernsehen", sagt er. "Unser politisches Leben passiert auf Facebook."

An der Einschränkung des Internets scheitert sogar Orbán

Der freie Zugang zum Internet ist in Ungarn aber keine Selbstverständlichkeit. 2014 wollte Viktor Orbán die Nutzung des Internets besteuern – pro Gigabyte sollte das umgerechnet 50 Cent kosten. "Ungarn wäre das erste Land der Welt geworden, in dem der Kauf einer DVD billiger gewesen wäre als der Download des Films", sagt Balázs Gulyás, der damals zu Protesten dagegen aufrief.

Die später vorgeschlagene Deckelung von 2,50 Euro (es werden maximal 5 Gigabyte besteuert) hätte vor allem die arme Bevölkerung betroffen, glaubt Gulyás. Arbeitslose würden in Ungarn umgerechnet 70 Euro pro Monat bekommen; das Internet wäre zum Luxusgut verkommen. "Ein vielleicht nicht ganz ungewollter Nebeneffekt", meint Gulyás. Dem unzufriedenen, armen Teil der Bevölkerung wäre so der Gebrauch der Meinungsfreiheit im Netz erschwert worden.

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Die Internet-Proteste sind aus vielerlei Hinsicht interessant. Sie belegen, dass die Zivilgesellschaft noch funktionieren kann. Gulyás' Facebook-Seite "100.000 gegen die Internetsteuer" knackte innerhalb von 24 Stunden die 100.000 Like-Marke. Auf die Straße gingen rund 40.000 Ungarn. "Hätten wir die Demonstration organisiert, hätten wir im allerbesten Fall vielleicht 8.000 Menschen mobilisieren können", sagt Ádám Derda. "Eine starke Zivilgesellschaft, die aus dem Stand 40.000 Menschen bewegt, ist deshalb umso wichtiger."

Den Erfolg für die breite Mobilisierung macht Gulyás weniger an der internationalen Berichterstattung, sondern mehr an der strategischen Konzentration auf ein Thema fest. Das holte auch Leute von der Jobbik-Partei, die noch rechtspopulistischer als Viktor Orbáns Partei Fidesz ist, an Bord. Orbán gab schlussendlich nach.

Für das freie Internet geht die junge Generation von Sozialdemokraten und Grünen über Liberale bis hin zu Rechtspopulisten auf die Straße? Dieses Bild ist wohl zu schön. "Das war kein besonders ideologischer Protest", glaubt Forscher Tofalvy, "die Leute sind leider nicht für Meinungsfreiheit, digitale Rechte oder Medienvielfalt auf die Straße gegangen. Die meisten wollten einfach nicht mehr bezahlen."

Das sieht auch Gulyás weinenden Auges so. "Viele Leute sind uns jedes Mal entfolgt, wenn wir auf der Facebook-Seite politische Dinge gepostet haben." Co-Organisator Károly Füzessi ergänzt: "Ich haben mich noch nie in meinem Leben so schlecht gefühlt wie beim letzten Treffen der Internet-Proteste. Wir mussten den Leuten sagen, dass wir nicht weitermachen können." Die Weltanschauungen und Vorstellungen von einer Partei waren so offensichtlich unterschiedlich, dass sie es nicht einmal versuchten.

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"Triumph ist ein ungewöhnliches Gefühl für die ungarische Opposition."

Ganz verpufft ist die politische Energie aber nicht. Das meint zumindest Ádám Derda. Seine Organisation hätte rund 80 neue Mitglieder bekommen, was in Anbetracht der Parteienverdrossenheit der Ungarn nennenswert sei. Und: Viele Jugendlichen, die ihre Smartphones und Internet-Router gen Nachthimmel streckten, kamen erstmals in Berührung mit Politik. Sie fühlten sich vielleicht das erste Mal nicht ohnmächtig. "Die Internet-Proteste haben meine Generation politisiert", sagt Derda. "Triumph ist ein ungewöhnliches Gefühl für die ungarische Opposition", sagt Gulyás, "gewöhnlich macht die Regierung, was sie will."

Auch Leute von Momentum waren bereits bei den Internet-Protesten dabei. Einer der Gründer spielte sogar eine entscheidende Rolle in der Organisation. Aber die Demos seien zu schnell zu erfolgreich gewesen, um schon damals eine politische Gruppierung zu formen, meint Momentum-Sprecher Miklos Hajnal.

Ob Momentum eine relevante Gegenbewegung zu Orbán werden kann, halten viele Beobachter und Kommentatoren für fraglich. Auch unabhängige und oppositionelle Medien haben eine beschränkte Bedeutung, erklärt Tofalvy. Er sieht die Heroisierung des Internets im Zusammenhang mit Protesten eher skeptisch. Die Euphorie der 90er-Jahre, wonach das Netz die Presse- und Meinungsfreiheit egalisieren würde, sei verflogen. Auch im Internet gebe es inzwischen Eliten.

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Unternehmen wie Google und Facebook, die Medieninhalte sammeln, würden Content-Produzenten das Geschäft wegnehmen. Tofalvy nennt das "Aggregator-Problem". Oder anders gesagt: Online kann man zwar unabhängige Nachrichten publizieren, aber es ist schwer, sie – ohne starken Investor – breitenwirksam zu streuen und davon zu leben.

Außerdem unterscheidet Tofalvy zwischen Internetzugang und "digitaler Bildung". Bei letzterer hätte Ungarn großen Aufholbedarf. Viele Menschen könnten zum Beispiel vertrauenswürdige Quellen und aufwändige Recherchen kaum von Propaganda unterscheiden. Auch die Methodik, wie man abseits vom Online-Mainstream und Werbe-Postings gute Quellen und unabhängige Nachrichten-Seiten finde, sei unterentwickelt.

Sich im Internet Gehör zu verschaffen, versuchen dennoch alle, die mit Orbáns Vision eines "illiberalen Staates" nach dem Vorbild Russlands und der Türkei nichts anfangen können. Balázs Gulyás betreibt nicht nur weiterhin die Internet-Protest-Seite, sondern auch – laut eignen Angaben – die größte politische, aber parteiunabhänige Facebook-Seite (Fidesz-Beobachter). Co-Organisator Károly Füzessi arbeitete jahrelang für einen Hungerlohn für einen Blog, den er gerade als erstes Medium Ungarns zu 100 Prozent durch Crowdfunding von Lesern finanzieren lassen will. Und die Oppositionsparteien haben mit Facebook und YouTube ein neutrales Organ zur Botschaftsverbreitung.

So etwas wie einen sicheren Hafen gebe es in der ungarischen Medienlandschaft nicht, erklärt Károly Füzessi. Den eigenen Blog auf eigenen Servern zu hosten, sei ein guter erster Schritt, aber man könne nie wissen, was der Regierung noch alles einfalle. 2016 wurde zum Beispiel die End-to-End-Verschlüsselung eingeschränkt. Das Gesetz, das Blogger und ausländische Medien zur "ausgewogenen" Berichterstattung verpflichtet hätte, wurde nur unter starken Protesten der EU-Kommission zurückgenommen.

Vor vielen Jahren soll Orbán einen Mitarbeiter gefragt haben, wie viele Kopien er von der Partei-Homepage anfertigen lassen hat.

Einen Trumpf dürfte die junge, digitale und weltoffene Generation Ungarns aber noch haben. Orbán sei mit Stolz ein "digitaler Analphabet", meint Gulyás. "Früher hat er vielleicht drei Mal pro Jahr etwas auf Facebook gepostet". Der aktuelle Online-Auftritt sei vor allem von der Partei gepusht worden, ergänzt Derda. Selbst in Facebook-Videos mache er sich über Leute auf Facebook und über das Internet allgemein lustig.

Es kursieren schwer überprüfbare Gerüchte und Witze, die die Ahnungslosigkeit Orbáns illustrieren. So soll er vor vielen Jahren einen Mitarbeiter gefragt haben, wie viele Kopien dieser von der Partei-Homepage anfertigen lassen hat. Was auch immer daran dran ist: Klar dürfte sein, dass Orbán zwar über ausreichend finanzielle Mitteln verfügt, online zu kommunizieren. Die Kultur des Internets und seine Mechanismen dürfte er dennoch noch nicht ganz verstanden haben. Das könnte das Internet als – zumindest theoretischen – Zufluchtsort der Freiheit noch eine Weile bewahren.

Christoph auf Facebook und Twitter: @Schattleitner

Diese Recherche entstand im Rahmen eines Stipendiums von "eurotours 2017". Der österreichische Bundespressedienst im Bundeskanzleramt kam für Reise und Übernachtung auf.