Das letzte Runterkommen
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Drogen

Das letzte Runterkommen

Die Stadt Neuenburg hat 34.000 Einwohner und mehr als 1.000 Abhängige. Es ist die Crystal-Meth-Hochburg der Schweiz.

Dieser Text erschien zuerst in der 'The Hello Switzerland Issue' – dem ersten VICE-Magazin, das vom ersten bis zum letzten Buchstaben in der Schweizer Redaktion entstanden ist.

"Ich kann Menschen töten, dann kann ich auch Schafe scheren", sagt er und streichelt dem Tier sanft durch das lange, weiche Fell. Es klingt ungezwungen, doch Valentin, der eigentlich anders heisst, lacht nicht, wenn er das sagt. Gross ist er, mit breiten Schultern und muskulösen Armen, der eine mit Tattoo. Trainerhosen, ein Shirt mit Totenkopf, darüber eine ärmellose Kapuzenjacke, kurze, gegelte Haare, ein bisschen Bart. Bald werden die Schafe geschoren. Wir sind hier beim Maison de Pontareuse hoch über dem Neuenburgersee, einer Institution inklusive Bauernhof, die ehemaligen Drogenabhängigen helfen will, zurück in ein Leben ohne Sucht zu finden.

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Seit vergangenem Dezember kümmert sich Valentin nicht nur um sich, sondern auch vermehrt um die Tiere: Pferde, Kühe, Ziegen, Schweine, Hühner. "Wenn du aus dem Gefängnis kommst – 24 Stunden am Tag, sieben Tage pro Woche auf drei Quadratmetern gelebt hast – willst du einfach an der frischen Luft sein." Noch nie war er so lange ohne Drogen wie hier. Sein letzter Crystal-Meth-Rausch? Vor einem Monat. Der Einzige in seinen sechs Monaten hier. Mehr als 20 Jahre lang hat Valentin mehrmals täglich Crystal Meth geraucht, am liebsten mit der Pfeife. "Dann brennt es weniger schnell", sagt er. "Du kannst tagelang wach bleiben, es kostet dich weniger als Kokain und du hast nicht die körperlichen Entzugserscheinungen wie mit Heroin." Und dann zitiert er einen Radiosketch von Couleur 3: "La drogue c'est de la merde, surtout quand il y en a plus. Mais", er lacht und fügt an: "c'est bon quand même." Drogen sind scheisse, meint er damit, vor allem wenn es keine mehr hat. Aber gut sind sie trotzdem.

Anfang 2000 wusste die Neuenburger Polizei von rund 20 Crystal-Meth-Konsumierenden, inzwischen sind es über 1.000 – in einer Stadt mit 34.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Abwassertests der Universität Lausanne in Schweizer Städten haben gezeigt: Nirgends in der Schweiz sind es so viele wie in der kleinen Westschweizer Stadt, steil gebaut am Fuss des Juras mit Blick auf den See und die Alpen, die im Winter im Nebel verschwinden. Die Studierenden pendeln lieber aus Lausanne, Freiburg, Biel oder Bern nach Neuenburg, statt in einer Stadt zu wohnen, wo das einzig Urbane die vielen Autos sind. Ausser Crêperien und Thai-Massagesalons gibt es nicht viel.

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Mehr als 20 Jahre lang hat Valentin mehrmals täglich Crystal Meth geraucht

Mit dem Töten von Menschen beginnt Valentins Geschichte, die Jahre später zu einer Verurteilung von vier Jahren Gefängnis führt. Nicht wegen des Tötens, sondern wegen des Drogenhandels. 3.5 Kilo Crystal Meth, 2.100 Thai-Pillen, 1.4 Kilo Marihuana, dazu Heroin und Kokain. Etwas mehr als 400.000 Franken verdiente er mit Drogen, steht im Strafurteil des Kantons Neuenburg. Valentin hat viel Zeit hier; neben der Arbeit auf dem Bauernhof, Gruppengesprächen, Gesprächen mit seiner Bezugsperson, Raucherpausen mit den Bewohnerinnen und Bewohnern. Zeit, über seine Vergangenheit und Zukunft nachzudenken, Zeit, um seine Geschichte zu erzählen, an manchen Stellen vielleicht ein wenig übertrieben und beschönigt.

Er war 18 und hatte gerade die Lehre als Mechaniker begonnen, als er, aufgewachsen in der Nähe von Neuenburg, in die Armee seines zweiten Heimatlandes eingezogen wurde. Gefragt, ob er das wolle, wurde er nicht. Er erzählt vom Krieg, als wäre es nicht er selbst gewesen, der während drei Jahren umgeben war von Waffen, Toten – und Drogen. Nicht Valentin selber spritzte sich einmal pro Woche Benzedrin, ein Amphetaminderivat, sondern die höheren Ränge taten es. "Du schläfst nicht mehr, du machst grausame Dinge, ohne dich zu fragen, ob das gut oder schlecht ist", sagt er. Kriegsführung auf Drogen.

Zurück in der Schweiz fühlte er sich verloren, hatte die Kriegsbilder ständig im Kopf, war bei einem Psychologen und wusste doch nicht, was er mit seinem Leben anfangen soll. "Du kannst nicht einfach normal weitermachen, wenn du Leute getötet hast." Abgeschlossen hat er seine Lehre nie, er fand trotzdem einen Job als Mechaniker. Die Drogen blieben. Ende der 90er-Jahre waren es Thai-Pillen, also Amphetamine, die weniger abhängig machen als Crystal Meth, das ab 2008 immer mehr in Neuenburg auftauchte. Prostituierte der Neuenburger Thai-Massagesalons brachten die Pillen damals aus Myanmar, Laos und Thailand mit. Valentin begann, selber Drogen zu verkaufen, und er merkte schnell: Was er in einem Monat als Mechaniker verdient, macht er mit Drogen an einem Tag. "Und dann sagst du dir: Mais putain! Du gehst einmal nicht zur Arbeit, zweimal, du kannst dir vorstellen, wie das geht. Du sagst dir: Alles geht gut, ich habe die Kontrolle. Doch eigentlich bist du dir überhaupt nicht sicher." Vor der Arbeit 0.1 Gramm Crystal Meth, in der Pause, nach der Arbeit. "Solange du deine Arbeit machst, geht es." Seine Arbeitskollegen wissen offiziell nichts, doch sie ahnen es wohl. Crystal-Meth-Abhängige rufen an, kommen bei der Arbeit vorbei: Ist Valentin da?

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Jetzt im Maison de Pontareuse hat er kein Telefon mehr, kein Facebook, kein Whatsapp. Die ständigen Anrufe früher ärgerten ihn. Verkauft hat er Crystal Meth selbst an Polizisten, behauptet er. An Anwälte, Richter. "Ja, vor allem Richter." Die Neuenburger Polizei kenne sich in der Szene gut aus, anerkennt er. 2016 hat die Polizei 61 Personen wegen Handel mit Amphetamin und Methamphetamin strafrechtlich verfolgt, in diesem Jahr bisher neun. "Weisst du, wie viele Dealer es in Neuenburg gibt?", frage ich. "Ja." Dann lacht er und schweigt. Wenn er spricht, dann tut er es überlegt und locker, manchmal stolz; wenn er zuhört, dann aufmerksam und interessiert, manchmal ungeduldig. Die Polizei geht von 50 bis 100 Dealerinnen und Dealern aus, denn zwischen 100 und 200 Personen sind stark abhängig, brauchen pro Tag mehr als 1.5 Gramm Crystal Meth. Monatlich kostet sie das über 10.000 Franken, die sie häufig mit dem Dealen verdienen, sagt Olivier Guéniat, Chef der Kriminalpolizei, der sich während der Recherche zu diesem Text das Leben nahm.

Der Alltag im Maison de Pontareuse: Arbeiten auf dem Bauernhof, Gruppengespräche, Raucherpausen mit den Bewohnerinnen und Bewohnern

Zusammen mit dem Kanton und dem Suchtzentrum Addiction Neuchâtel hat die Neuenburger Polizei Mitte Januar 2017 das neue Präventionsprogramm "WarningMeth" gestartet. Ein Pilotprojekt, das sich nicht an verurteilte Dealer wie Valentin richtet, aber an Konsumierende: Werden sie von der Polizei verhaftet, können sie einer Strafe entgehen, wenn sie vier Sitzungen in einem Suchtzentrum besuchen. Bisher machten das laut Jean-Marie Coste von Addiction Neuchâtel zwölf Personen. Und damit alle Leute, die mit Crystal erwischt wurden. Es ist das erste Programm dieser Art in der Schweiz. Eine ausführliche Bilanz wird Anfang 2018 gezogen. Integration statt Repression, um den Crystal-Meth-Konsum in Neuenburg einzudämmen.

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"Und woher hattest du das Crystal Meth? Kennst du Leute, die Crystal Meth herstellen?", frage ich.
- Ja.
- In der Schweiz?
- Ja.
- Du hast aber nicht selber hergestellt, also gekocht?
- Doch.
- Und die Polizei weiss das?

Er nickt und grinst. Die Polizei wisse von nichts, sagt hingegen Olivier Guéniat später am Telefon. Die Polizei kennt in Neuenburg bisher nur eine Person, die versuchte, selber Crystal Meth zu kochen. Deren Dealer-Karriere endete im Sommer 2008 nicht mit hausgemachtem Crystal Meth, sondern mit einer Explosion, die die Wohnung in Brand setzte. Für das Kochen von Crystal Meth braucht es viel Wissen: "Ein Rezept im Internet zu finden ist das eine, Crystal Meth nachzukochen das andere", sagt Guéniat. So gehörte Valentin wohl auch eher zu jenen Dealern, die nach Tschechien fahren, um dort Crystal Meth für weniger als hundert Franken pro Gramm in illegalen Labors zu kaufen. In der Schweiz können sie ein Gramm für mehrere Hundert Franken verkaufen. Seit drei Jahren wird laut Guéniat zudem vermehrt über das Darknet Methamphetamin bestellt, das häufig aus den USA oder aus Mexiko kommt.

Drei Monate sass Valentin im vergangenen Herbst im Gefängnis. Danach stellt er den Antrag, den Rest seiner Strafe im Maison de Pontareuse absitzen zu dürfen. Therapie statt Gefängnis, das ermöglicht das Schweizer Gesetz mit dem Art. 60 des Strafgesetzbuches. Im Moment leben hier drei Frauen und 17 Männer zwischen 20 und 52 Jahren. Ein bis eineinhalb Jahre bleiben sie hier. Zehn von ihnen haben Crystal Meth genommen, bei den anderen waren es Heroin, Kokain, Alkohol. Oder alles zusammen.

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Vor sieben Monaten ist Valentins Sohn auf die Welt gekommen. Die Mutter des Kindes, seine Ex-Freundin, nimmt Heroin. Der Sohn lebt in einem Kinderheim. Darum wollte Valentin nach Pontareuse. "Ich möchte ihn besuchen können, und zeigen, dass ich ein guter Vater bin." Zweimal pro Woche kann er ihn für jeweils zwei Stunden sehen und spaziert dann mit ihm durch den Hof und ums Heim herum. Er hofft, bald bis an den See zu dürfen. Wenn der Sohn weint, nimmt ihn Valentin in den Arm. "So", er zeigt uns, wie er das macht, hält die Arme vor seinen Oberkörper, als läge darin ein Baby, blickt in seine Ellbogenbeuge als wäre da dessen Gesichtchen, einen Moment lang scheint er uns zu vergessen. Und dann sagt er: "Ich habe meinen Pass hier, wenn ich wollte, dann könnte ich… – wusch."

Er macht eine ausladende Handbewegung und meint: abhauen. Im September, vor dem Antritt der Gefängnisstrafe, hat er versucht nach China zu fliegen. Er kenne da Leute, mit denen er Geschäfte machen wolle. "In China ist das einfacher als in der Schweiz. Hier kannst du nicht einfach zu einem Pharmaunternehmen wie Roche gehen und sagen: Ich hätte gerne eine Tonne Ephedrin. In China kannst du das. Die chinesische Mafia ist stark." Er war schon am Flughafen, als ihn die Polizei verhaftet hat. Neun Monate später sagt er aber: "Nein, ich kann nicht einfach weggehen. Ich habe jetzt mein Kind."

Statt in China aus Ephedrin Crystal Meth herzustellen, geht er jetzt im Neuenburgersee tauchen und Badminton spielen. Dazu besucht er an seinen freien Halbtagen zwei Sportclubs. Sich bewegen, verausgaben, an seine Grenzen kommen. Es ist der Versuch, ein neues Leben zu beginnen. "Es ist schwierig", Valentin atmet tief ein und langsam aus. Dann fährt er fort: "Sie sagen mir hier: Du musst etwas finden, was dir gefällt, etwas, das dich auf andere Gedanken bringt, ein neues soziales Umfeld. Das weiss ich doch!" Wie aber neue Freunde finden, wenn man in Neuenburg – kaum zehn Meter weit gegangen – auf ehemalige Kundinnen und Kunden trifft, die von ihren durchgefeierten Nächten erzählen, wenn man in den Zug steigt und da nach Drogen gefragt wird? Wie auf andere Gedanken kommen, wenn in Pontareuse alle jeden Tag von Drogen und Abhängigkeit sprechen, die Mitbewohnerinnen, die Sozialarbeiter?

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Im Maison de Pontareuse versuchen 20 Leute, von den Drogen wegzukommen

Diese fragen: Was hast du am Wochenende gemacht? "Du musst es nicht erzählen, du kannst lügen, das ist aber nicht der Sinn der Therapie." Das einzige Mal, als Valentin am Sonntagabend positiv auf Crystal Meth getestet wurde, war er bei Freunden gewesen. "Was hat dich dazu gebracht, das zu tun?", war die besorgte Sozialarbeiterinnenfrage. "Du hast nicht unbedingt Lust, darüber zu reden", sagt Valentin. Die Konsequenzen: zwei Wochen Ausgehverbot. Statt ganz auf Drogen zu verzichten, wäre Valentin für einen kontrollierten Konsum. "Das ist wie Schokolade essen. Wenn du keine Schokolade essen darfst, versuchst du trotzdem irgendwann ein kleines Stück zu naschen – so, dass niemand merkt, dass die Tafel angebrochen ist."

Wenn Valentin von Crystal Meth spricht, klingt es harmlos. Und nicht nach der weiss-kristallinen Droge, die schon nach kurzer Zeit abhängig macht und zu Gedächtnisverlust, Aggressivität, Herz- und Hirnschäden führen kann. Zu Paranoia, Depressionen, Schlafproblemen. Wir alle haben die Bilder von Crystal-Meth-Süchtigen aus den USA gesehen, die abgemagert, mit fahler und pickeliger Haut, faulen Zähnen und ausgefallenen Haaren leer in die Kamera blicken. Valentin aber scheint es körperlich gut zu gehen, einzig ein Backenzahn fehlt ihm.

Und nein, süchtig nach Crystal Meth sei er nicht gewesen. Obwohl er den Stoff jahrelang mehrmals täglich genommen habe? "Ja", sagt er, vielleicht eine Spur zu locker: Einen körperlichen Entzug – wie bei Heroin etwa – spüre er nicht, nur die Erinnerung an etwas Gutes, das Bedürfnis nach dem nächsten Rausch. Nach einer Weile habe Crystal Meth keinen grossen Effekt mehr gehabt. Rauchen, um das Niveau zu halten. "Wenn ich jetzt rauche, ist das anders." Er atmet beim Gedanken daran lustvoll aus. Zwei Jahre lang spritzt er sich auch Heroin. Doch der körperliche Entzug der Droge macht ihm zu schaffen. "Du brauchst immer deine Dosis." Also stieg er zuerst auf Methadon um, dann ganz aus. Was aber machen, wenn die Lust nach Crystal Meth bleibt? In Phasen leben, wird empfohlen: "Du kannst zum Beispiel ein Stück Kuchen essen. Wenn die Lust auf Crystal dann immer noch da ist, kannst du eine Runde am See drehen. Wenn die Lust auch dann noch da ist, gehst du – sagen wir – ins Kino. Das ist frustrierend. Das Einzige, was du also den ganzen Tag lang gemacht hast, ist zu versuchen, auf andere Gedanken zu kommen. Und am nächsten Tag beginnt das von vorn."

Valentin wird nachdenklich. "Ich bin nicht mehr jung. Morgen kann ich tot sein und was gab es dann in meinem Leben ausser Drogen? Nichts! Vielleicht sollte ich etwas anderes machen. Aber was? Keine Ahnung. Ich weiss nur: Als Mechaniker will ich nicht mehr arbeiten." Irgendwann wird er vielleicht ein stabiles Leben haben, eine stabile Arbeit, eine stabile Familie – ohne Drogen, ohne das Dealen. Das ist es, was er sich wünscht. Wohl aber ohne die Mutter des Kindes, die weiter Heroin nimmt. "Ich kann ihr sagen, sie soll aufhören, aber ich kann nicht für sie handeln." Und bevor er eine Zigarette aus dem Päckchen klaubt, aufsteht und zur Tür geht, sagt er: "Aber ich weiss nicht, was ich machen würde, wenn ich selbst draussen wäre und die Wahl hätte."

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