Was ich durch meine Beziehung mit einem gewalttätigen Mann gelernt habe

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häusliche Gewalt

Was ich durch meine Beziehung mit einem gewalttätigen Mann gelernt habe

Ich brauche kein Mitleid. Wie die Gesellschaft Opfern von Gewalt wirklich helfen kann.

Foto: Gerald Gabernig | Flickr | CC BY 2.0

Vier Jahre ist es her, seit ich ihn verlassen habe. Trotzdem habe ich noch immer Probleme, meine Gefühle und Gedanken zu dieser fast dreijährigen Beziehung in Worte zu fassen. Drei Jahre, die von häuslicher Gewalt geprägt waren. Nicht etwa, weil es so wehtut oder furchtbare Erinnerungen aufleben lässt. Nein, ich habe Probleme damit, weil ich mit meinem Leben weitergemacht habe und die Vorstellung hasse, dass dieser Mann noch irgendwelche Macht über mich hat – oder überhaupt jemals hatte.

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Ich war eine junge, optimistische 17-Jährige, als ich mich in einen älteren Mann verliebte. Er war geheimnisvoll, charismatisch und zog Ärger geradezu magisch an – ein Bad Boy wie er im Buche steht. Wir hatten uns über gemeinsame Freunde kennengelernt und unsere Leben hatten sich schnell ineinander verkeilt. Aber es gibt eine Sache, die ich bereue: dass ich nach dem ersten Vorfall bei ihm geblieben bin.


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Es passierte nach einem durchzechten Tag. Er kam nach Hause und wir fingen an, uns zu streiten. Die Stimmung war etwas aggressiver als sonst. Innerhalb weniger Augenblicke hatte er mich plötzlich gegen die Wand gedrückt, seine Hände dabei fest um meinen Hals geschlossen. Mir wurde schwindelig, als der Sauerstoff nach und nach meinem Körper entwich.

Ich bin körperlich immer ziemlich stark gewesen und war entsprechend überrascht, wie wenig ich gegen ihn ausrichten konnte. Es war auch das erste Mal, dass ich überhaupt körperlicher Gewalt in dieser Form ausgesetzt war. Unter Schock rannte ich auf die Straße und schrie um Hilfe.

Ein Nachbar rief die Polizei. Als sie eintraf, hatte er allerdings schon längst das Weite gesucht. Die Beamten fragten mich, ob ich Anzeige erstatten möchte. Ich behauptete, nicht zu wissen, wer er sei, und dass ich keine weiteren Informationen preisgeben würde. Ich tat es aus Liebe. Dachte ich damals.

In meinem Kopf begann ich bereits, mir Entschuldigungen für sein Verhalten zurechtzulegen: "Das war nicht er, das war der Alkohol." "Er macht gerade einiges durch. Das war nur eine einmalige Sache." "Ich hätte ihn nicht provozieren sollen."

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Ich war überwältigt und überfordert. Ich brauchte einen Augenblick, um das Geschehene zu verarbeiten.

Für meine Familie und Freunde war die Sache hingegen eindeutig. Alle waren gegen diese Beziehung und so stieß ich sie alle weg von mir. Ich ignorierte ihre Ratschläge und lauschte stattdessen seinen sehr überzeugenden, tränenreichen Entschuldigungen. Er würde das nie wieder tun. Wie sehr er mich doch liebt. Zur Entschuldigung ließ er sich sogar ein Tattoo stechen – als Symbol dafür, dass er sich ändern wird; dass er mich an seiner Seite für immer behalten will.

Wenn ich zurückblicke, erscheint mir geradezu verrückt, dass ich ihm auch nur ein Wort davon geglaubt habe. Ich war damals aber dermaßen psychisch manipuliert, dass ich überhaupt keine andere Wahl sah, als bei ihm zu bleiben. Heute weiß ich, dass jemand, der dich liebt, nicht versucht, dich von deiner Familie und deinen Freunden zu isolieren. Dass das nur eine Taktik ist, um dich schwächer, verletzlicher und abhängiger zu machen.

Die Zeit danach war düster. Etwa sechs Monate nach dem ersten eskalierten Streit gab es den nächsten – und bald geschah es alle zwei Wochen. Irgendwann hörte ich auf, die Polizei zu rufen – aus Angst, dass er mich umbringt. Seine Übergriffe wurden brutaler, seine Drohungen psychotischer.

Dann gab es noch den täglichen Psychoterror: Er drohte, meine Familie zu töten, sollte ich ihnen jemals sagen, was los ist. Ich begann, mich diesem manischen Kreislauf aus leidenschaftlicher Liebe und chaotischer Gewalt anzupassen. Ich redete mir ein, dass ich "als Künstlerin" doch lieber so etwas habe als eine "langweilige" Beziehung. Ständig hatte ich das Gefühl, auf Eierschalen laufen zu müssen.

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Ich bin mir sicher, dass du diese Geschichte in irgendeiner Form schon unzählige Mal gehört hast. In meinen Augen kommt allerdings ein wichtiger Aspekt viel zu kurz, wenn wir über häusliche Gewalt reden. Und das sind die Lektionen, die wir von jenen lernen müssen, denen das nie widerfahren ist. Wir konzentrieren unsere ganze Aufmerksamkeit auf die Opfer, erklären ihnen die Warnsignale, verweisen auf Anlaufstellen. Aber die Realität ist nun mal die, dass wir alle ein Umfeld erschaffen, in dem Missbrauch toleriert oder zumindest totgeschwiegen wird. Hier sind ein paar Dinge, von denen ich mir gewünscht hätte, dass die Menschen in meinem Umfeld sie gewusst hätten.

Ich will dein Mitleid nicht, niemals

Ich muss niemanden leid tun. Was mir passiert ist, ist bereits passiert. Mitleid hilft mir nicht weiter. Anstatt Trauer brauche ich Wut, Abscheu und absolute Intoleranz gegenüber diesem widerlichen Verhalten. Ich habe viel mehr davon, wenn jemand seinem Kumpel sagt, dass es nicht OK ist, seine Freundin eine "dumme Schlampe" zu nennen oder ein Glas durchs Zimmer zu werfen, als von einem Tränensmiley bei Facebook.

Ich weiß Mitgefühl wirklich zu schätzen, aber eine temporäre Reaktion auf ein bestimmtes Kapitel meines Lebens hilft am Ende niemandem. Ich bin kein Opfer. Ich bin eine verdammte Kriegerin. Der ganzen Scheiße zu trotz, habe ich die Statistiken zu häuslicher Gewalt durchbrochen und bin stärker aus der Sache gekommen, als ich in sie hineingegangen war. Ich brauche kein Mitleid. Ich brauche Hilfe, um Lärm zu machen, den Kreislauf zu durchbrechen und eine Veränderung anzustoßen.

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Bitte versucht gar nicht erst, euch in meine Lage zu versetzen. Außenstehende werden nie verstehen können, was mir passiert ist oder warum es mir passiert ist. Ich selbst verstehe es nicht. Ich bin eine der stärksten Frauen, die ich kenne, und kein Mensch, den man in so einer Lage erwarten würde. Aber es ist passiert. Bis heute kann ich nicht den genauen Augenblick nennen, an dem alles aus dem Ruder gelaufen ist. Ich kann auch nicht erklären, warum ich das alles zuließ. Aber es ist passiert. Und es ist so schleichend passiert, dass ich mich selbst an dem Tag, an dem ich ihn endlich verließ, kaum wiedererkannte.

Seht mich nicht als Opfer

Meinen Peiniger zu verlassen, war das Schwerste, was ich je getan habe – und es war auch das Stärkste. Nachdem ich mich so lange so schwach und armselig gefühlt hatte, hätte es mir wirklich geholfen, wenn mich andere Menschen in meiner Stärke und Kraft bestätigt hätten.

Wenn dir jemand von seiner Missbrauchsbeziehung erzählt, dann will die Person ziemlich sicher keine Diskussion starten. Sie will einfach nur, dass du zuhörst.

Ich wollte einfach nur ein paar dieser schrecklichen Dämonen abladen, die ich so lange mit mir rumgetragen hatte. Oft ist bereits das laute Aussprechen des Geschehenen der erste Schritt zur Heilung. Über bestimmte Erinnerungen, die ich tief in meinem Unterbewusstsein vergraben habe, beginne ich sogar erst heute zu sprechen. Erst jetzt, da ich sie in Worte fasse, kann ich sagen: "Das ist mir geschehen und ich vergebe mir selbst."

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Ich habe durch diese Erfahrung mehr über mich und andere gelernt, als ich je in Worte fassen könnte. Ich habe gelernt, was mein Körper und mein Kopf alles aushalten können. Ich habe meine eigene Widerstandsfähigkeit erfahren und meine Fähigkeit, wie ein Phönix aus der Asche auferstehen zu können. Und nicht zuletzt habe ich in dieser Zeit einige unschätzbare Lektionen über andere gelernt.

Es passiert um euch herum, jeden einzelnen Tag

Das Traurigste an der ganzen Sache ist für mich, dass viele dieser Frauen und Männer alleine leiden und im Alltag ihre Scham überspielen. Scham – genau das ist das Gefühl, das du in einer Missbrauchsbeziehung gegenüber dir selbst empfindest. Absolute und vernichtende Scham darüber, dass du so schwach und erbärmlich bist, dass du eigentlich sogar verdienst, was dir widerfährt. Es erfüllt dich sogar mit einem verqueren Stolz, dass du jeden Morgen aufwachen, deine Wunden versorgen und für den Rest der Welt ein Lächeln aufsetzen kannst.

Das Problem mit häuslicher Gewalt in unserer Gesellschaft ist nicht nur eine Angelegenheit für unsere Gerichte, die Polizei oder anderen Behörden, bei denen wir das Thema abladen. Im Kern geht es nämlich darum, welche Behandlung von Frauen Männer in ihrer Erziehung lernen. Es sind immer noch vor allem Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt werden.

Verfolgt man diese missbräuchlichen Verhaltensmuster zurück zu ihren Wurzeln, findet man Jungen, denen beigebracht wurde, dass verbale und körperliche Gewalt Probleme löst – dass es OK ist, die eigenen Mutter anzuschreien, ihr zu sagen, dass sie dumm ist, oder Geschirr auf dem Boden zu zertrümmern, wenn man man sauer ist. Und ja, du wirst auch Menschen finden, die selbst in einem von Gewalt geprägten Umfeld aufgewachsen sind – größtenteils verursacht von Männern mit geringer emotionaler Intelligenz. Es sind Teufelskreise des Missbrauchs, die über Generationen hinweg fortgesetzt werden. Warum fehlt uns immer noch das nötige Rückgrat, um aufzustehen und zu sagen, dass wir das nicht akzeptieren?

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Meine Beziehung war vorbei, als er meine kleine Schwester angriff. Mein Beschützerinneninstinkt hatte sich eingeschaltet. Es ging nicht mehr nur um mich.

Es benötigte vier Monate sorgfältiger Planung, ihn endlich zu verlassen. Ich baute mir eine elaborierte Lüge zusammen, die mich aus seinen Fängen befreite. Dann dauerte es noch ein weiteres Jahr mit Anwälten und Gerichtsterminen, bis ich endlich eine Schutzanordnung gegen ihn bekommen habe. Er fand immer wieder Ausreden, um Gerichtsanhörungen hinauszuzögern, zog den Prozess in die Länge und ließ mich keinen Frieden finden. Ich hatte mit einer lähmenden posttraumatischen Belastungsstörung zu kämpfen, während das Gericht seine Rechte verteidigte und meine ignorierte.

Klar, es gibt Abermillionen Artikel über häusliche Gewalt. Du liest sie und fühlst dich schlecht für das, was dem Menschen passiert ist. Einen Augenblick später ist das aber wieder vorbei und du machst mit deinem Leben weiter. Lass das hier nicht einfach noch einen dieser Artikel sein. Fang damit an, deinen Freunden zu sagen, wenn ihr Verhalten nicht akzeptabel ist. Fang damit an, die Überlebenden häuslicher Gewalt als Kämpfer und nicht als Opfer anzusehen.

Lasst uns all unsere Emotionen in all ihren Farben und Extremen akzeptieren, aber lasst uns auch gesunde Wege finden, mit ihnen umzugehen. Lasst uns darauf achten, wenn psychische Probleme das Urteilsvermögen einer Person beeinträchtigen, und lasst uns dieser Person dabei helfen, sich selbst zu helfen. Aber bitte, lasst uns damit aufhören, ständig zu sagen, wie schlimm wir häusliche Gewalt finden, nur um am Ende nichts zu ändern.

Das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" ist rund um die Uhr unter der Nummer 08000 116 016 erreichbar. Betroffene werden auch online beraten. Das Angebot gibt es in 15 Sprachen und auch für Gehörlose. Die Hotline wurde vor drei Jahren vom Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben ins Leben gerufen.

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