FYI.

This story is over 5 years old.

News

Die Redaktion diskutiert: Wie sollen wir über den Aufmarsch der Identitären berichten?

Im Vorfeld des dritten Aufmarschs der Identitären in Wien lassen wir euch an den Gedanken der Redaktion teilhaben.
Foto: David Prokop (Identitären-Demo 2015)

Foto: David Prokop (Identitären-Demo 2015)

Nehmen wir an, jemand will sein Produkt in der Öffentlichkeit bekannter machen und stellt sich deshalb mit Werbematerial und Plakaten für seine Ware auf die Straße. Das fällt normalerweise unter "Promotion". Nehmen wir an, jemand will ein bisschen subtiler Aufmerksamkeit erregen und wählt deshalb statt dem Werbematerial eine kreative Aktion, bei der sich die Menschen im Idealfall fragen, was dahinter steckt und so am Ende wieder beim beworbenen Produkt landen. Das nennt man dann normalerweise "PR" oder "Guerilla-Marketing".

Anzeige

Und jetzt nehmen wir an, das Produkt ist keine Ware, die man kaufen kann, sondern eine politische Ideologie; und die Leute, die dafür auf die Straße gehen, sind keine Promotoren für irgendwelche Unternehmen, sondern zum Beispiel Mitglieder und Unterstützer der rechtsextremen Identitären Bewegung.

Mehr rund um die Identitären findet ihr hier.

Was davon ist Werbung, was davon sind Nachrichten? Bis zu welchem Punkt muss man als Medium Abstand halten, um nicht zum reinen PR-Sprachrohr zu werden? Ab welchem Punkt sollte man trotzdem darüber berichten, weil die Sache (im Guten wie im Schlechten) relevant genug ist und sich nicht mehr wegdiskutieren lässt? Und in welcher Form sollte diese Berichterstattung dann passieren?

Darüber haben auch wir hier in der VICE-Redaktion viel diskutiert; und so viele unterschiedliche Positionen wie es Mitarbeiter gibt. Damit ihr unsere Berichterstattung besser nachvollziehen könnt, wollen wir euch dieses Mal einfach die Meinungen unserer Redaktion selbst lesen lassen.

Paul Donnerbauer, Redakteur: "Die Identitären sind die erste ernstzunehmende, rechtsextrem organisierte Gruppe seit der VAPO und haben noch dazu gute Kontakte zu FPÖ und Burschenschaften, sowie zur militanten Neonazi-Szene. Wenn eine solche neofaschistische Gruppe versucht, in Österreich wieder öffentlichen Raum für sich zu besetzen, darf man nicht wegschauen. Das hat nichts mit hochschreiben zu tun. Etwas anderes ist es, einen Martin Sellner ins Studio einzuladen und durch die Kamera zu tausenden Menschen sprechen zu lassen—da verhilft man den Identitären dann zu einer sehr große Propagandabühne."

Anzeige

Hannah Schindler, Volontärin: "Ich kann diese Frage für mich persönlich nicht endgültig beantworten. Schenken wir ihnen zu viel Aufmerksamkeit, indem wir über sie berichten? Einerseits ja: Gruppierungen wie diese leben von der Öffentlichkeit, inszenieren sich über sie und freuen sich über die Möglichkeit, ihre Ideologie in die Welt hinauszutragen. Man gibt ihnen Wichtigkeit. Andererseits nein: Journalismus soll über aktuelle gesellschaftliche Geschehnisse informieren und in Zeiten, in denen fast 50 Prozent der Wähler einen rechtspopulistischen Präsidenten haben wollen, ist es vielleicht so wichtig wie nie zuvor, sich öffentlich und kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen. Die richtige Entscheidung liegt also vermutlich irgendwo in der Mitte. Vielleicht sollte man auch stattdessen einfach einen Artikel bringen mit der Überschrift: 'Heute demonstrieren die Identitären. Wir schreiben lieber über die wichtigen Dinge im Leben. Hier unser Artikel zu Wurst'."

Mario Wolf, Social Media Manager: "Im Gegensatz zu anderen rechtsradikalen Gruppen, die immer ein wenig aus der Zeit gefallen scheinen—Burschenschafter sind da das beste Beispiel—, sind die Identitären am Puls der Zeit und versuchen, mit Aktionismus und anderen kulturellen Codes der Linken Anknüpfungspunkte an die Jugendkultur und den eh schon rechten Mainstream zu finden, ohne so altbacken zu wirken. Dazu bedienen sie sich auch bei Konzepten der neuen Rechten, um ihre Ziele in Begriffen zu vermitteln, die nicht so vorbelastet sind (sie sind keine Nationalisten, sondern Identitäre und so weiter).
Dazu gehört auch eine durchdachte Medienstrategie. Insofern ist es als einzelnes Medium sowieso nicht möglich, sie totzuschweigen, weil andere Medien sie covern werden. Außerdem hat die Strategie des Totschweigens noch nie wirklich funktioniert und wird durch die sozialen Medien noch weniger funktionieren. Schenken wir ihnen zu viel Aufmerksamkeit mit einem Live-Ticker? Nein. Schreiben wir sie hoch? Nein. Und was ist in der Berichterstattung vertretbar? Ich würde sagen, die Berichterstattung, die ihnen nicht in erster Linie hilft. Da ist die Form dem Inhalt nachgeordnet."

Anzeige

Hanna Herbst, stellvertretende Chefredakteurin: "Die Identitäre Bewegung ist von ihrer Größe her eine vernachlässigbare Gruppierung. Wie Burschenschafter, Dschihadisten oder Menschen, die glauben, Hitler wohne im Inneren der Erde. Das heißt nicht, dass man nicht über sie berichten darf. Die Identitären werden von der FPÖ unterstützt—einer Partei, die immer mehr versucht, sich moderat zu geben. Durch einen Blick auf die Bewegung muss gezeigt werden, dass sie alles andere als moderat ist und eine Unterstützung durch eine Partei, die mit einer hohen Wahrscheinlichkeit an der nächsten Regierung beteiligt sein wird, ein Skandal ist. Wir möchten außerdem nicht nur über die Identitäre Bewegung schreiben, sondern auch über den immer breiter werdenden Protest, der sich gegen sie bildet, berichten."

Jakob Steiner, Video-Host: "Die Identitäre Bewegung basiert einerseits auf der Angst vor Überfremdung und dem Verlust von Identität und andererseits auf der Selbstwahrnehmung als Opfer der aktuellen Politik, der 'verbrecherische Eliten' und der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Opfermentatlität ist verdammt wirksam, weil Opfer sein immer auch unschuldig sein bedeutet und man somit nicht groß argumentieren muss. Gleichzeitig wollen die Identitären aber ein 'Europa der starken Vaterländer' und im Geiste von Typen wie Prinz Eugen, wo Frauen—also die Hälfte aller Europäer—nichts zu melden hatten. Im Endeffekt ist diese Gedankenwelt der Identitären für mich ein krasses Luftschloss: Eine Art Blick in ein Märchenland von früher, das nie existiert hat. Natürlich kriege ich Angst, wenn ich sehe, dass Personen aus verschiedensten Gründen (und das sind nur selten Rassenhass oder Antisemitismus) den Identitären folgen. Aber Angst ist immer ein schlechter Ratgeber. Die Angst, nicht über die Gedankenkonstrukte und sehr verständlichen Sehnsüchte der Identitären zu berichten, weil man ihnen damit eine Öffentlichkeit bieten würde, wäre kompletter Irrsinn. Damit würde man Diskussion und Fakten und damit Nachdenken nur tabuisieren—und Tabus mag ich nicht."

Anzeige

David Bogner, Head of Content: "Die Identitären versuchen, völlig veraltete Konzepte von Identität und Nation mit modernen Technologien und Kommunikationsformen zu verbinden. Das würde sie zum perfekten Thema einer Ethnologie-Bacherlor-Arbeit machen und damit wär's eigentlich auch genug. Leider gibt es da den traurigen Aspekt, dass Teile ihrer Ideologie mittlerweile fast breitentauglich sind. Diese Tatsache und die Nähe zur FPÖ sind für mich ein guter Grund, sehr genau hinzuschauen, was die Identitären machen. Darüber hinaus halte ich die Argumentation, dass Medien etwas groß schreiben oder klein halten können, in Zeiten von Facebook und 'alternativen Medien' für sinnlos. Ich möchte lieber nicht der Gatekeeper sein. Ich bin dafür, zu zeigen, was ist."

In psychiatrischen Anstalten werden die Ängste der Insassen auch ernst genommen—das heißt aber nicht, dass man ihnen die Anstaltsleitung überlassen sollte.

Verena Bogner, Managing Editor Broadly: "Ich finde, dass man natürlich darüber berichten muss, wenn die Identitären marschieren. Leider kann man sie nicht totschweigen und sie dadurch irrelevant werden lassen, weil sie nun mal Teil der Realität sind. Und die sollten wir eben auch so abbilden, wie sie ist, und nicht, wie wir sie vielleicht gerne hätten. Darüber, wie die Berichterstattung dann aussieht, lässt sich streiten. Meiner Meinung nach gesteht man ihnen mit einem Live-Bericht zu viel Relevanz zu. Einen zusammenfassenden Bericht NACH der Demo, der die wichtigsten Ereignisse enthält—vielleicht in Kombination mit einem Video, falls es dort wirklich zu Zusammenstößen kommt—fände ich besser."

Christoph Schattleitner, Redakteur: "Zuerst mal: Ich finde es richtig, dass wir diesen Diskussionsprozess öffentlich machen. Unsere Leser können unsere Berichterstattung wahrscheinlich besser einschätzen, wenn sie die Gedanken und Bedenken der Redaktion kennen. Ich finde, die Identitären sind gut im Verschleiern ihrer wahren Motive. Wir sollten ihre Inszenierung und Propaganda entschlüsseln, damit sie die Leser wirklich einordnen können. Das geht meiner Meinung nach am besten mit unaufgeregter Recherche. Das klingt allerdings leichter als es ist—auch aufgrund der Erwartungen des Publikums. Die Herausforderung wird also sein, inhaltlich und formell nicht der Emotionalisierung und Sensationalisierung zu verfallen."

Markus Lust, Chefredakteur: "Bereits im vergangenen Jahr gab es heftige Diskussionen darüber, ob ein Ticker zur Identitären-Demo angemessen ist. Ich glaube, ein gut gemachter Live-Bericht—indem es nicht um den Wintereinbruch oder das Erdbeben in Wien geht—kann ein Ereignis nicht nur skandalisieren, sondern auch entmystifizieren. Das Wie ist hier sicher wichtiger als das Was. Wir werden beim Aufmarsch der Identitären deshalb mit viel Hintergrundinfos und auch mit Live-Videos arbeiten—wir wollen zeigen, was passiert, ohne es aufzubauschen. Natürlich ist das Phänomen der Identitären auch ein Ausdruck von ernstzunehmenden Ängsten, aber wie Extra 3 so schön gesagt hat: Auch in der Psychiatrie nimmt man die Sorgen der Patienten ernst—aber man lässt sie nicht die Anstaltsleitung übernehmen. Neben Ängsten geht es aber auch ganz klar um Machtanspruch. Die Identitären wollen nicht 'Europa' schützen, sondern ihr Europa in den Köpfen errichten. Dagegen helfen meiner Ansicht nach keine Artikel mit Disclaimer, die den Leuten sagen, was sie stattdessen zu denken haben. Dagegen hilft nur aufzeigen, hinschauen und selber denken. Deshalb werden wir nicht sensationalistisch live-tickern, aber genau hinschauen und alle Entgleisungen so gut es geht minutiös aufzeigen. Wie wichtig hinschauen sein kann, zeigt gerade die letzte Störaktion der Identitären: Die reine Meldung 'Identitäre stürmen Uni Klagenfurt, attackieren Rektor' gibt der Gruppe viel mehr Auftrieb, als das YouTube-Video, in dem man sieht, wie peinlich die Aktion in Wahrheit war."