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Wieso hat die Schweizer Tierindustrie Angst vor "schlimmen" Bildern?

Die Organisation "Tier im Fokus" fordert abschreckende Bilder auf sämtlichen Fleischverpackungen. Der Konsumentenschutz, die Tierindustrie und auch der "Schweizer Tierschutz" sind skeptisch.

Screenshot von YouTube

Klaus Petrus ist freischaffender Autor und Fotograf in den Bereichen Tierschutz und Protestbewegungen und war bis 2014 im Vorstand der Organisation "Tier im Fokus".

Als die Schweizer Tierrechtsorganisationen Pour l'égalite animale (PEA) und Tier im Fokus (TIF) in den vergangenen Monaten Foto- und Videomaterial veröffentlichten, das ihnen zugespielt wurde, zogen zwei Aufschreie durch die Schweiz. Konsumenten und Tierfreunde waren schockiert von den Bildern an sich und die Tierindustrie empörte sich über deren Veröffentlichung, weil sie sich dadurch falsch repräsentiert sieht. Die veröffentlichten Aufnahmen selbst stammen aus Hühnermastanlagen in der Westschweiz und aus dem Kanton Bern und zeigen Tausende von Tieren, darunter verletzte, tote und bereits verweste Hühner, die im Dreck liegen.

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Für Jean Ullmann, Präsident des Ei-Branchenverbandes GalloSuisse, sind solche Aufnahmen alles andere als erfreulich: "Die erschreckenden Bilder bleiben in einigen Köpfen und werden zum Teil von anderen Medien übernommen und der Schaden für die ganze Branche kann sehr gross sein. Skandal und Schrecken verkaufen sich ja gut." Er rät den Bauern, die Ställe richtig abzuschliessen und verletzte oder tote Tiere fachgemäss zu entsorgen. "Leidende Tiere sind für uns selber und für keinen Konsumenten ein schöner Anblick."

Ullmann redet von "schwarzen oder mindestens grauen Schafen", die es in jeder Branche gebe. Das aber seien bloss Einzelfälle, die natürlich bestraft werden müssten. Tobias Sennhauser, Präsident von Tier im Fokus (TIF), dagegen weist darauf hin, dass bei den verdeckten Aufnahmen nur selten krasse Verstösse gegen das Tierschutzgesetz zu sehen seien. "Im Gegenteil, sie zeigen die Normalität der heutigen Nutztierhaltung, auch bei uns in der Schweiz. Und genau dieses Normale ist das eigentlich Schlimme daran."

Auch das Argument des Einzelfalls lässt Sennhauser nicht gelten. "Es geht hier um das System, das hinter der Tiernutzung steht, nicht um den einzelnen Bauer." Und zu diesem System gehöre eben auch, dass Tiere zu Tausenden in eine einzige Halle gesperrt werden und manche schon während der Mast qualvoll sterben müssen.

Dass die moderne Nutztierhaltung eine gewisse Sterblichkeitsrate von Tieren in Kauf nimmt—bei der Hühnermast sind es laut Branchenangaben offenbar ein bis vier Prozent –, räumen auch die Experten ein. Als TIF im Februar dieses Jahres Aufnahmen von toten und verwesten Hühnern aus einer Mastanlage im Berner Seeland veröffentlichte, konstatierte der Berner Kantonstierarzt Reto Wyss nüchtern: "Ein gewisser Prozentsatz an Verlusten ist üblich."

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Sennhauser ist überzeugt: "Die meisten Konsumenten wissen nicht, was in den Schweizer Ställen vor sich geht. Oder sie machen sich ein zu positives Bild von der heutigen Nutztierhaltung." Als Beispiel nennt er die TIF-Recherche vom Februar dieses Jahres. Sie zeigt Aufnahmen aus einer Hühner-Mastanlage, die am Tierwohl-Förderprogramm BTS teilnimmt und deren Fleisch an die Bell AG verkauft wird, die 2015 europaweit einen Umsatz von 2.8 Milliarden Schweizer Franken verzeichnete.

Dabei steht das vom Bund subventionierte BTS für "Besonders tierfreundliche Stallhaltung". Für Sennhauser ein "Etikettenschwindel". "Die Konsumenten denken an Hühner, die unter Obstbäumen fröhlich gackernd nach Würmern scharren. Aber das hat mit der Realität nichts mehr zu tun. BTS erlaubt Hallen von bis zu 18.000 Hühnern und 17 Tiere auf nur einem Quadratmeter. Die Auswüchse dieser Massentierhaltung sind programmiert."

Deshalb hat TIF nun eine Petition lanciert: Sie will die Konsumenten wahrheitsgetreu informieren und fordert daher realistische Bilder der Haltungsbedingungen auf Fleischpackungen.

Eine von TIF vorgeschlagene Fleischverpackung | Zur Verfügung gestellt von Jessica Ladanie

Auch Hansuli Huber, Nutztierexperte beim Schweizer Tierschutz STS, stellt fest: Ein Grossteil der Bevölkerung ist in Sachen Tierwohl und Landwirtschaft ungenügend informiert. "Das ist kein Vorwurf, sondern eine Tatsache: Man kann nicht über alles Bescheid wissen." Huber verweist auf eine Studie des STS von 2013. Sie zeigt auf, wie Werbe- und Imagekampagnen unter anderem der Branchenorganisation Proviande das Bild prägen, welches sich die Konsumenten vom Schweizer Fleisch machen. Und das ist offenbar häufig falsch oder zumindest ungenügend. So wusste zum Beispiel die Hälfte der Befragten nicht, dass in der Kälbermast Einstreu gar nicht obligatorisch ist, und 77 Prozent glaubten fälschlicherweise, dass Mastschweine per Gesetz ins Freie dürfen.

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Was die Petition von TIF angeht, ist Huber allerdings skeptisch: "Nachdem weder die gruseligen Bilder auf Zigarettenpackungen noch einfache Deklarationsmethoden wie das 'Ampelsystem' Verhaltensänderungen bewirkten, dürften auch Tierqualbilder die Leute nicht vom unreflektierten Konsum abhalten." Zudem gebe es ganz praktische Probleme bei der Umsetzung der Petition.

Das sagt auch Urs Meier, Sprecher des Grosshändlers Coop: "Auf allen tierischen Produkten Bilder aus den Ställen fehlbarer Produzenten abzubilden, ist für die ganze Branche rufschädigend und ungerechtfertigt." Umgekehrt sei der Aufwand, auf jeder Fleischpackung ein Foto des jeweiligen Betriebes abzubilden, viel zu gross, ist Meier überzeugt.


Im Affenlabor – Tierversuche an Primaten:


Auch Josianne Walpen von der Stiftung für Konsumentenschutz ist kritisch: "Die Forderung von TIF geht uns zu weit. Denn so würden die Konsumenten nur noch die allerschlimmsten Bilder zu sehen bekommen, und das würde die Realität ebenso wenig abbilden." Für Walpen dient diese Petition denn auch eher als "Diskussionsbeitrag". Sennhauser selber sieht zwar keine unüberwindbaren Probleme bei der Realisierung der Petition, räumt aber ein: "Wir haben die Umsetzung unserer Forderung bewusst offengelassen, um so eine Diskussion anzuregen und keine Optionen auszuschliessen."

Für Ruedi Hadorn, Direktor des Schweizer Fleischfachverband (SFF), nimmt die sukzessiv ansteigende Instrumentalisierung des Lebensmittels Fleisch eine bedenkliche Wende. "Für uns steht die individuelle Wahlfreiheit klar im Vordergrund, sie ist das Wichtigste. Diese Wahlfreiheit wird aber grundlegend gefährdet durch eine zunehmende Bevormundung durch Gebote und Verbote."

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Als Beispiele nennt Hadorn die "inakzeptablen Zwangsvorgaben für fleischlose Tage", die "unverständlichen parlamentarischen Vorstösse für eine verschärfte Deklaration von Importfleisch", die "unsäglichen Krebsstudien der WHO beziehungsweise der Eidgenössischen Ernährungskommission" oder die "unverschämten Forderungen nach einer ausschliesslichen Förderung der vegetarischen beziehungsweise veganen Ernährungsweisen in den Verpflegungsstätten".

Eine Halle zur Hühnermast in der Westschweiz | Zur Verfügung gestellt von TIF

Der letztgenannte Punkt—die Förderung der vegetarischen oder veganen Ernährung—dürfte jedoch nicht überall auf Verständnis stossen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil gerade die Schweizer Fleischindustrie staatlich massiv gefördert wird, wenn es darum geht, ihre eigenen Produkte zu bewerben und gegenüber billigem Importfleisch abzuheben. Allein 2015 erhielt die Branchenorganisation Proviande für ihre Werbekampagnen vom Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) über sechs Millionen Schweizer Franken.

Josianne Walpen von der Stiftung für Konsumentenschutz findet das "stossend": "Es ist nicht Aufgabe des Bundes, den Fleischkonsum zusätzlich anzukurbeln, besonders nicht mit geschönten Bildern." Der Vorwurf dürfte umso schwerer wiegen, als der Bund gemäss Schweizer Tierschutzgesetz die Pflicht hat, die Bevölkerung in Fragen des Tierschutzes adäquat zu informieren.

Für Hansuli Huber vom Schweizer Tierschutz STS ist klar: Mit solchen Werbemassnahmen tut sich die Branche langfristig selber keinen Gefallen. "Sie gaukelt den mangelhaft informierten Menschen eine idyllische Heidiwelt vor." Damit vergrössere sie die "Fallhöhe", sobald die Konsumenten die Realität erkennen, und würde "Skandale" überhaupt erst ermöglichen. Huber ist überzeugt: "Die Fleischbranche verpasst die Gelegenheit, den Leuten mit realitätsnaher Information zu zeigen, wie es heute in der Landwirtschaft wirklich läuft."

Tobias Sennhauser von TIF bleibt skeptisch: "Dass die Branche sich freiwillig bewegt, ist absurd. Wer die Zustände in der Tierindustrie kennt, weiss, dass hier einiges im Argen liegt. Wenn sie mehr Transparenz wollte, hätte sie das längst umgesetzt."

Klaus Petrus auf Twitter: @PetrusKlaus
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