Bricht am Wochenende in Kiew die große Revolution aus?

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Bricht am Wochenende in Kiew die große Revolution aus?

Obwohl die Polizei vereinzelt mit Schlagstöcken und Tränengas gegen Demonstranten vorgeht, sollen am Wochenende die Proteste zu einer Revolution heranwachsen, damit Janukowitschs Regime gestürzt wird.

Fotos von Ivan Bandura

Seit letzten Donnerstag herrscht wieder Revolutionsstimmung in Kiew. Am Sonntag gingen über 100.000 Menschen in der ukrainischen Hauptstadt auf die Straße, um gegen die Entscheidung der Regierung zu protestieren, die Unterzeichnung eines geplanten Abkommens mit der EU zu verschieben. Obwohl die Polizei vereinzelt mit Schlagstöcken und Tränengas gegen die Demonstranten vorging, versammelten sich so viele Menschen wie seit der „Orangenen Revolution“ 2004 nicht mehr. Sogar Vitali Klitschko war da.

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Heute und morgen hätte die Ukraine eigentlich an einem EU-Gipfel teilnehmen und dort ein Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnen sollen. Obwohl 45% aller Ukrainer das Abkommen unterstützen, hat die Regierung Janukowitsch ihre Teilnahme an dem Gipfel in letzter Sekunde abgesagt. Auf Druck Putins will der Präsident sich jetzt lieber um ein Handelsabkommen mit Russland kümmern. Aus Protest ist die seit Monaten inhaftierte und schwerkranke Oppositionsführerin Julia Timoschenko in den Hungerstreik getreten.

Bis jetzt hat Janukowitsch noch keine Bereitschaft gezeigt, auf die Forderungen der Demonstranten einzugehen. Die haben angekündigt, ihre Proteste fortzusetzen, bis ihre Forderungen erfüllt sind.

Oleksandr Danylyuk von Spilna Sprava [Gemeinsame Sache] hat die Proteste von Anfang an mitorganisiert, er fordert den Rücktritt Janukowitschs. Obwohl gestern sein Auto angezündet wurde, hat er mir kurz am Telefon erklärt, was in Kiew gerade passiert.

VICE: Hi Oleksandr, was ist gerade in Kiew los?
Oleksandr Danylyuk: Ich glaube, das ist der Anfang einer echten ukrainischen Revolution. Leider gibt es viele Leute, die gegen diese Revolution sind—also nicht die Leute auf der Straße, sondern Leute, die sich als Meinungsführer der Bewegung ausgeben. Aber sie sind weder Meinungsführer noch Führer von irgendwas anderem. Nur haben wir in der Ukraine keine freien Medien, und deshalb glauben wir, dass unsere Regierung diesen Leuten Medien- und finanzielle Unterstützung gibt, obwohl sie tatsächlich Provokateure sind, die der Regierung helfen wollen, dieses Problem ohne irgendwelche Zugeständnisse zu lösen. Dabei wollen wir Neuwahlen des Präsidenten und Parlaments und die Unterzeichnung des Abkommens mit der EU.

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Macht die Opposition da mit?
Es geht nicht so sehr von der Opposition aus, es sind eher Aktivisten und andere Leute. Wir haben im Moment Probleme mit neuen „Studentenführern“, die nicht wirklich größere Gruppen von Studenten vertreten.

Wer sind denn diese Leute?
Ich weiß es nicht, weil sie keine Organisation haben und es immer neue Leute sind. Die Medien zeigen sie als Führer dieser Bewegung. Das ist witzig, weil unsere Organisation, Spilna Sprava, bereits im Oktober diesen Prozess begonnen hat. Unsere Presseerklärung wurde schon Anfang November veröffentlicht. Unsere Position war nur, dass man die Wahlen für ungültig erklären muss, weil Janukowitsch keine Absicht hat, das Abkommen mit der EU zu unterzeichnen und eine Marionette Russlands ist. Und viele Leute um ihn herum haben absolut klare, starke Verbindungen zur Russischen Föderation und russischen Sicherheitsdiensten.

Wie reagiert die Polizei auf die Proteste? Ist sie brutaler als bei der Orangenen Revolution?
Nein, ich habe nicht das Gefühl, dass die Polizisten brutaler sind. Sie reagieren aber sehr stark auf alle Versuche, irgendeine Form von Camp zu organisieren. Deshalb ist dieser Protest etwas schwieriger als die Orangene Revolution, weil wir keine Infrastruktur für die Bedürfnisse der Leute auf dem Platz haben. Die Leute sind einfach auf dem Platz und haben keine Unterkunft oder Möglichkeiten, sich auszuruhen. Deshalb stehen sie die ganze Zeit.

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Foto via EPP

Protestiert ihr jeden Tag?
Ja, es ist ein permanenter Protest ohne Pausen. Ich glaube, der interessanteste Tag wird morgen sein. Die Provokateure versuchen jetzt, den Protest zu beruhigen und aufzulösen. Es wird eine Art Höhepunkt geben, und am Samstag wird bestimmt eine halbe Million Menschen auf der Straße sein. Und es wird klar sein, dass dieser Protest nicht nur um das Abkommen mit der EU dreht, sondern um alle Probleme mit Janukowitschs Regime. Es ist eine Revolution gegen ihn und seine Verbündeten. Wenn wir Erfolg haben, werden wir Anfang nächsten Jahres einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament haben. Wir werden dann auch das EU-Abkommen ohne Probleme unterzeichnen können. Denn das größte Hindernis für ein normales Leben und normale geopolitische Beziehungen ist Janukowitsch selber. Und das verstehen die meisten Leute auf der Straße sehr gut.

Wie lange werden die Proteste weitergehen?
Ich glaube, dass das erst der Anfang ist. Ich habe ernste Zweifel, dass man diese Protestwelle stoppen können wird. Deshalb bin ich optimistisch, ich glaube, wir können die Situation unseres Landes, gerade jetzt, wirklich verändern. Ich glaube nicht, dass nächstes Jahr oder die Präsidentschaftswahlen eine bessere Gelegenheit sein werden, um das Problem mit dem Regime zu lösen. Wir haben heute eine einmalige Gelegenheit, und wir müssen diese Chance nützen. Wenn nicht, werden wir ernsthafte Probleme bekommen—nicht nur mit unserer Demokratie, sondern auch mit unserer Unabhängigkeit.

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Sehen das die meisten Menschen in der Ukraine so?
Ja, die meisten schon. Manche Menschen haben nicht genug Informationen und überhaupt keinen kritischen Verstand, deshalb ist es nicht so wichtig, was sie über die Situation denken. Aber die meisten Menschen sehen diesen Protest als ihre Revolution an. Gleichzeitig haben wir ein ernstes Problem mit den Medien, weil sie die Situation nicht wahrheitsgemäß darstellen. Sie manipulieren das wahre Bild. Sie wollen die Situation als einen reinen Protest über das EU-Abkommen darstellen, aber so ist es nicht.

Werden die Proteste deshalb über Social Media organisiert?
Ja, aber das Problem ist jetzt, dass jeder, der will, behaupten kann, er sei der Anführer der Proteste. Ich glaube, dieser Protest hat überhaupt keine Führer. Es ist eine Art direkte Demokratie, und deshalb bedeuten all diese Menschen auf der Straße auch ein Referendum für Neuwahlen. Deshalb ist auch jeder Versuch, sich als Vertreter dieser Menschen zu geben, unfair. In einer direkten Demokratie ist das nicht möglich. Es wäre fairer, wenn wir mit den Menschen sprechen und ihnen sagen: „Wenn ihr das Regime ändern wollt, bleibt auch nach morgen auf der Straße.“ Das wird ein starkes Zeichen für die Menschen in der Ukraine und überall auf der Welt sein, dass wir nicht mehr in solchen schrecklichen Bedingungen leben wollen.

Aber ist die Mehrheit der Leute wirklich da, um Janukowitschs Rücktritt zu verlangen, oder sind manche auch nur wegen des EU-Abkommens oder aus anderen Gründen da?
Ich glaube nicht, dass viele Leute den Unterschied zwischen diesen beiden Sachen sehen. Die meisten Leute sehen, dass Janukowitsch ein sehr pro-russischer Politiker ist, und deshalb waren all seinen Manipulationsversuchen und seine angebliche Bereitschaft, das Abkommen zu unterzeichnen … Ich glaube nicht, dass die Leute glauben, dass er es wirklich vor hat. OK, jetzt muss ich leider los!

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Danke sehr, Oleksandr.