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The Magic Hour Issue

Ein Land auf der Flucht vor seiner korrupten Vergangenheit

Die albanische Wirtschaft boomt. Einer der größten Exportschlager ist dabei das organisierte Verbrechen.

Nachtclubs, Kunstgalerien, Luxuspools, elegante Hotels. Ich spreche nicht von New York, Paris oder London, sondern von Tirana, der Hauptstadt von Albanien.

Viele Menschen würden Albanien nicht einmal auf einer Karte finden. Doch Tirana hat mehr als 800.000 Einwohner und wächst heute mit der Rückkehr der Generation, die Anfang der 1990er floh. Das Land hat sich stabilisiert und die Wirtschaft wächst, während das Finanzklima im gesamten restlichen Westen stagniert. In den 41 Jahren unter Enver Hoxha, einem der unerbittlichsten kommunistischen Diktatoren, war Albanien von der Welt abgeschnitten. Wo einst die Menschen wegzogen, eröffnen sich heute neue Möglichkeiten.

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Wie könnte ich neutral von dem wirtschaftlichen Boom Albaniens sprechen, der sich so von der hoffnungslosen Lage in Griechenland, Spanien und meinem Heimatland Italien unterscheidet? Viele europäische Unternehmen wandern nach Albanien ab. Das Land hat Investoren, weil es dort geschäftliche Chancen gibt, die andere Länder nicht bieten können. Zwar ist Albanien vom organisierten Verbrechen geschwächt und hat ein Rechtssystem mit enormen Problemen, doch das ist in vielen anderen Ländern nicht anders. Albaniens 15 Prozent Körperschaftsteuer sind ein Risiko, das einige Geschäftsleute nicht abschreckt. Der sozialistische Premierminister, ein Maler namens Edi Rama, betont stolz das „vollständige Fehlen von Gewerkschaften", die, seiner Meinung nach, die Privilegierten und nicht etwa die Schwächsten der Gesellschaft schützen. Allein die etwa 400 italienischen Unternehmen in Albanien beschäftigen Regierungsangaben zufolge 120.000 Menschen.

Gleichzeitig stellen Kritiker Fragen über Arbeiterrechte und knappe Löhne, die mit denen anderer europäischer Nationen nicht mithalten können. Betrug, Bestechung und Vetternwirtschaft sind feste Bestandteile von Politik. Und auch wenn sich Albanien grundlegend verändert hat, sollte man nicht vergessen, wie tief das organisierte Verbrechen in der Gesellschaft verankert ist. Es ist leicht, sich von all den Hochhäusern und glamourösen Boutiquen blenden zu lassen, doch wirklich verstehen kann man Albanien nur in dem Aufeinandertreffen von Tradition und Moderne.

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Die einheimische Mafia hat zwei konkurrierende Organisationen: die albanische Mafia mit Basis in Tirana und die kosovarische mit Basis in Priština. Die Klans haben Verbindungen zur italienischen Mafia und werden nach eisernen Prinzipien von Loyalität und Disziplin geführt. Es gibt einen seit Jahrhunderten unveränderten Kodex, den Kanun, der alle Aspekte des Alltags regelt. Im Fall einer Fehde, bei der sich die Mitglieder zweier Familien umbringen, sieht er zum Beispiel vor, dass jemand, der innerhalb seines Hauses Schutz sucht, verschont werden kann. Er muss sich allerdings damit abfinden, sein Haus nie mehr verlassen zu dürfen.

Trotz der modernen, demokratischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte hat diese Mentalität noch immer einen großen Einfluss sowohl auf den Alltag als auch die Politik Albaniens. Auch wenn dies offiziell totgeschwiegen wird, so wissen doch alle, dass der Hauptgrund für die Trennung von Kosovo und Albanien—dort, wo die Leute sich fühlen wie Geschwister und gern eine gemeinsame Flagge hätten—der Konflikt zwischen den kriminellen Banden der zwei Länder ist. Die kosovarische und die albanische Mafia sind verfeindet.

Die albanische Seite unterhält ein globales Netzwerk und ist vor allem in den USA seit geraumer Zeit mächtig. Zef Mustafa ist einer der berüchtigtsten amerikanischen Bosse sowie ein bekannter Geldwäscher für die Gambinos, eine der fünf Familien von New York. Der albanische Klan hat seine Macht auch in anderen Teilen der Welt ausgebaut, zum Beispiel in Schweden und Belgien. Naser Xhelili, den die schwedischen Behörden „the Albanian Connection" nennen, betreibt Drogenschmuggel und verschiedene andere Geschäfte, während Kapllan Murat, nach mehreren Gefängnisausbrüchen als „Ausbrecherkönig" bekannt, einer der gefürchtetsten Mafiosi Belgiens ist.

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Jahrelang versuchte die albanische Mafia, europaweit die Kontrolle über die Geschäfte mit der Prostitution zu erlangen, da die italienische und korsische Mafia eine solche Tätigkeit als ehrlos ansehen. Das brachte die Albaner mit den Italienern in Berührung, und schließlich verbündeten sich die Organisationen, um den Heroin- und Marihuanahandel unter sich aufzuteilen.

Die kosovarische Mafia ist ebenfalls bekannt für ihre internationalen Verbindungen, vor allem nach Italien. Während der 1990er verbündete sie sich mit der apulischen Mafia in Süditalien, bekannt als Sacra Corona Unita, und nannte sich Sacra Corona Kosovara. Tschechische Ermittler berichteten, die UÇK, die Guerillabewegung für die kosovarische Unabhängigkeit von den Serben, habe den Kosovo zu einem Mafiastaat gemacht, der sowohl der Camorra—den neapolitanischen Mafiosi—sowie der Sacra Corona Unita zur Verfügung stünde.

Von 2008 bis 2010 führte der Schweizer Politiker Dick Marty im Namen des Europarats Ermittlungen gegen Hashim Thaçi, den Premierminister des Kosovo, durch. Er stellte fest, dass Thaçi Drahtzieher eines Netzwerks war, das international mit Waffen, Drogen und menschlichen Organen handelte. Thaçi ist zwar nicht länger Premierminister, doch er bekleidet noch die Ämter des Außenministers und Vizepremiers. Die Berichte über seine kriminellen Aktivitäten haben seiner Karriere nicht im Geringsten geschadet.

Wenn ich an das neue Albanien denke, dann denke ich aber nicht an die schwierige Vergangenheit und Gegenwart, sondern vor allem an die verzweifelte Hoffnung der Menschen auf einen Neuanfang. Ich werde nie vergessen, wie ich Ende der 1990er meine ersten albanischen Freunde kennenlernte. Ich war ein italienischer Student in Deutschland und im Bus kam ich eines Tages mit ein paar Typen ins Gespräch. Die Männer arbeiteten auf einer Baustelle außerhalb der Stadt. Ihr gutes aber nicht akzentfreies Italienisch verriet mir, dass sie Albaner waren—die meisten Albaner konnten die Sprache gut, denn dieses Volk hatte sich lange nach Italien orientiert, so wie die Italiener nach Amerika. Dennoch wollten sie mir nicht sagen, aus welcher Stadt sie kamen oder wie sie in Köln gelandet waren.

Ich lernte sie im Laufe der Zeit besser kennen und verstand, dass sie sich schämten. Sie schämten sich für ein Land in Trümmern, geplündert von Tyrannen und Verbrechern. Sie schämten sich, in Italien Asyl zu suchen, denn das Land hat seine eigenen Auswanderer vergessen und fühlt sich seit Jahrzehnten von Immigranten aus aller Welt überlaufen. Heute erwartet Einwanderer in Italien dieselbe Gastfreundschaft, die Italiener einst in den USA, Deutschland und der Schweiz erfuhren, wo man sie wie Tiere behandelte. Diese Männer waren wie ich, doch während ich Bücher las, mussten sie auf der Suche nach Arbeit durch halb Europa ziehen. Zu jener Zeit sahen nur wenige den Zusammenbruch der westlichen Märkte voraus, und ich schätzte mich glücklich. Glücklich, Italiener zu sein. Nun sehe ich denselben Optimismus in Albanien, einem EU-Beitrittskandidaten. Zwar ziehen noch immer viele nach Italien, doch immer häufiger nur, um dort zu studieren und dann in ihr Heimatland zurückzukehren, da Italien und die meisten anderen europäischen Länder aktuell wenig zu bieten haben. Die Zeilen des Dichters Pashko Vasa, der eine wichtige Figur der albanischen Nationalbewegung zur Zeit des Osmanischen Reichs war, scheinen besser zu passen denn je: „Wacht auf, Albaner, wacht auf aus eurem Schlaf, / Schwören wir alle einen brüderlichen Eid, / Nicht auf Kirche oder Moschee zu schauen. / Der Glaube der Albaner ist das Albanertum!"

Doch es gibt auch Zweifler, so wie den skeptischen Autoren Fatos Lubonja, der während der Diktatur 17 Jahre lang Zwangsarbeit in einem Gulag verrichten musste. Lubonja ist der Meinung, die Ideologie des Regimes habe lediglich ihre Form geändert und sei von einem national-kommunistischen zu einem national-europäischen Weltbild übergegangen, das es Albanern erlaube, ihre Vergangenheit zu begraben. Die Worte des Unternehmers Agron Shehaj spiegeln diese Entwicklung deutlich wieder. Heute ist Shehaj 37 Jahre alt und hat sich in Tirana niedergelassen, nachdem er in Bozen gelebt, ein Wirtschaftsstudium in Florenz abgeschlossen und Zeit in New York verbracht hat. Shehaj, der Albanien mit seiner Familie verließ und 2006 heimkehrte, ist ein gutes Beispiel für die zurückkehrende Flüchtlingsgeneration. Er eröffnete das erste Callcenter für den italienischen Markt und ist heute Geschäftsführer einer Firma mit 3.000 Angestellten. Er hofft auf den EU-Beitritt Albaniens und sagt oft zu seinen Freunden: „Um zu leben wie Deutsche, müssen wir arbeiten wie Deutsche." Das ist eine verbreitete Sichtweise in Albanien—und eine, die einen Beigeschmack von Flucht vor der eigenen Identität hat.

Das neue Europa hat eine Keimzelle in Albanien, einem Land mit fast drei Millionen Einwohnern, das für immer die Narben vergangenen Leids tragen wird. Diese werden in seinen tiefgreifenden Widersprüchen sichtbar: ein moderner kapitalistischer Staat zu sein, der ein optimistisches Wirtschaftswunder erlebt, und zugleich eine zutiefst korrupte postkommunistische Gesellschaft, die ihre alten Laster in die Welt trägt: Frauenhandel, Geldwäscherei, Waffenhandel und Verkauf illegaler Drogen. Diese klaffenden Wunden werden sich nicht in ein paar Jahren schließen lassen. Um sie zu heilen, bedarf es auch der Aufmerksamkeit derer, die aus der Ferne beobachten, analysieren und Verbindungen herstellen, ohne zu urteilen.