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Sex

Was denken Asexuelle über unsere sexbesessene Gesellschaft?

„Ich verstehe nicht, warum es so viele Songs über Sex, aber fast keine über Schokolade gibt."
Mann auf einer Bank (Illustration)

Sex, überall Sex. In der Werbung, im Fernsehen, in der Musik, in der Kunst. Es gibt unzählige Songs über das Flachgelegt- bzw. Nicht-Flachgelegtwerden. Es gibt Hunderte Bücher über irgendwie geartete Formen des sexuellen Erwachens. Es gibt haufenweise Filme, die im Grunde nur davon handeln, wie die beiden Hauptcharaktere am Ende miteinander in der Kiste landen, und es gibt in nicht wenigen Sitcoms unglaublich lange Plotstränge, in denen sich alles nur um die Frage dreht, ob bestimmte Figuren es irgendwann miteinander treiben werden.

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Wenn du jemand sein solltest, der sexuelle Anziehung noch nicht mal auf einer ganz grundlegenden Ebene begreift, wenn du nicht nachvollziehen kannst, warum Menschen dieser Kram so viel Spaß macht, dann könnte das alles ziemlich verwirrend für dich sein. Wie würdest du dann zum Beispiel eine Rom-Com wahrnehmen? Wie könnte dir irgendwelche Musik gefallen, die nach 1950 entstanden ist? Wenn du nie in deinem Leben das Bedürfnis verspürt hast, Sex zu haben, wie kann diese Welt dann überhaupt Sinn für dich ergeben?

Um das herauszufinden, habe ich einen Blick in einige Online-Foren für Asexuelle geworfen und dort ein bisschen rumgefragt. Vielleicht ist dir das schon bekannt, aber Asexualität beschreibt Menschen mit einem sehr geringem oder nichtexistenten Sexualtrieb. Drei solcher Personen waren damit einverstanden, ihre Geschichte mit uns zu teilen und uns ihre Sicht auf unsere moderne Kultur zu schildern. Hier ist, was sie zu berichten hatten.

Alle Illustrationen von Carla Uriarte

Zak

Rückblickend würde ich sagen, dass ich mit 12 schon gemerkt habe, dass ich anders bin als die anderen. Es dauerte aber, bis ich 17 war, dass ich mir dessen völlig sicher war. Den Moment der Gewissheit hatte ich bei einer wilden Party mit ein paar Freunden. Eins der Mädchen zog sein Oberteil aus und alle Kerle drehten total durch. Ich selber interessierte mich aber kaum dafür. Bis dahin hatte ich meine Asexualität immer in Frage gestellt, aber als ich hier eine halbnackte Frau vor mir sah und noch nicht mal mit der Wimper zuckte, da wusste ich es sicher.

Der Grund ist dieser: Egal, ob asexuell oder nicht, jeder findet irgendwelche Sachen schön. Aber Kunst, Sonnenuntergänge, Blumen, Gemälde und Lieder sind nicht unbedingt mit sexuellem Verlangen verbunden. Auf die gleiche Art kann ich den nackten Körper einer Frau schön finden, ohne dass er eine sexuelle Konnotation für mich hat. Für mich ist es eine Form ästhetischer Schönheit und genau so war es auch, damals eine halbnackte Frau zu sehen. Würdest du anfangen, wegen eines Gemäldes rumzujohlen und durchzudrehen?

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Darum ergeben bestimmte Sachen auch niemals Sinn für mich—wie zum Beispiel eine Frau, die versucht ihrem Knöllchen zu entgehen, indem sie mit dem Polizisten flirtet. Ich weiß nicht, warum die Hoffnung auf Sex jemanden zu etwas verleiten sollte, was er sonst nicht tut. Das Konzept von einem Restaurant wie Hooters werde ich nie verstehen. Dort zu essen, wird dich bestimmt nicht mit einer der Angestellten in die Kiste bringen. Eine hygienische Kellnerin ist ein großer Pluspunkt, eine in engen Shorts wahrscheinlich nicht so sehr.

Es überrascht mich immer wieder, wie viele Dinge in unserem Alltag durch sexuelles Verlangen bestimmt und getrieben werden. Die Beispiele weiter oben, aber auch so gut wie jede andere soziale Interaktion. Egal, ob Vorstellungsgespräche, das Kennenlernen von potenziellen neuen Freunden oder selbst kurze Interaktionen mit Fremden auf der Straße. Die Art, wie Menschen auf dich reagieren, ist oftmals nur davon getrieben, wie attraktiv sie dich finden. Ich finde das komisch.

Wagner

Ich komme aus Rio de Janeiro. Ich bin ein Stadtkind, Einzelkind, und ich durfte nie das Haus verlassen, weil Rio zu gefährlich war. Also verbrachte ich die meiste Zeit mit meinen Spielsachen, Zeichentrickserien oder Computerspielen.

Als ich sechs Jahre alt war, wettete ich mit meinen Cousins, dass ich nie mit jemandem ausgehen werde. Sie lachten mich aus und versprachen mir ein McDonalds Happy Meal für jedes Jahr, das ich nach meinem 16. Geburtstag Single bleiben würde. Für mich war es die perfekte Wette und ich gewann jedes Jahr, aber nur einer von ihnen löste seine Wettschulden ein. Die anderen sagten, sie könnten sich nicht daran erinnern, damals eingeschlagen zu haben.

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Es hat mich immer gewurmt, dass selbst gebildete Menschen an Sex und Beziehungen interessiert sind. Freunde, die ich durchaus als intelligent bezeichnen würde, redeten immer über dieses „besondere etwas", das sie nicht beschreiben und ich nicht fühlen konnte. Die Tatsache, dass ich von dieser Erfahrung ausgeschlossen bin, war und ist für mich furchtbar. Ich habe viele Jahre gegrübelt, ob ich nicht doch von einem anderen Stern komme.

Warum überhaupt Sex? Wir als Zivilisation sind doch viel fortschrittlicher als dieser primitive Impuls. Warum stellen wir nicht einen anderen Impuls an erste Stelle? Das könnte doch Nahrung oder unsere Atmung sein. Seit In-vitro-Fertilisation erfunden wurde, ist Sex doch noch nicht mal mehr notwendig für unser Überleben. Und ich verstehe auch nicht, warum es so viele Songs über Sex gibt und darüber, wie toll er sich anfühlt, aber fast keine über Schokolade oder anderes Essen. Wie viele Lieder kennst du, in denen es um irgendwelche Speisen geht? So gut wie keine. Das habe ich nie verstanden.

Kristopher

Zuerst dachte ich immer, ich wäre bisexuell—bis vor zwei Jahren. Ich hatte die Schnauze voll davon, ständig mit Pimmelbildern bombardiert zu werden, sobald ich meinen OkCupid-Account aufmachte, also suchte ich nach anderen Antworten. Als ich einen Artikel über Asexualität gelesen hatte, musste ich erst einmal sehr lange weinen. Endlich gab es ein Label, das wirklich auf mich zutraf: homoromantisch, gray-asexuell. Das heißt, dass ich mich romantisch zu Männern hingezogen fühle, aber über einen sehr geringen Sextrieb verfüge. Der Trost, den ich in dieser scheinbar bedeutungslosen Aneinanderreihung von Wörtern fand, war unbeschreiblich.

Die beste Erklärung, die ich für mein fehlendes Interesse an Sex liefern kann, hat etwas mit Eis zu tun. Das klingt vielleicht absurd, aber hör mir zu: Wenn Beziehungen das Waffelhörnchen ist, dann ist Sex das Eis. Ich habe schon Vanille und ich habe schon Schokolade ausprobiert, aber am Ende war es immer das Hörnchen, das mich wirklich umgehauen hat. Ich könnte total glücklich den ganzen Tag an ein und demselben Hörnchen rumknabbern, aber dann schauen die Menschen immer auf mein Hörnchen und sagen mir, dass ich es doch mit Eiscreme füllen soll. Ich brauche aber die ganzen Geschmacksrichtungen, die mit der Eiscreme kommen, gar nicht. Ich bin vollkommen zufrieden mit meiner Waffel. Alles, was ich will, ist der gemeinsame Nenner: das Hörnchen, die Grundlage, die anziehende Persönlichkeit.

Meine Mutter hat mir mal aus Spaß gesagt: „Ich liebe Frankreich, aber ich hasse Franzosen." So denke ich manchmal auch über unseren Planeten. Wir haben atemberaubende Gebäude gebaut, Kulturen erschaffen, uns gegenseitig versklavt, die Sklaverei abgeschafft und uns wieder versklavt. Die Menschheit hat so viel Potenzial, aber am Ende dreht sich immer alles um die falschen Sachen.

Wenn ich ganz ehrlich bin, dann hatte ich eine Zeit lang das Gefühl, dass ich gegenüber 99 Prozent aller Menschen im Vorteil wäre—einfach nur weil mein Urteilsvermögen nicht von diesen animalischen Instinkten vernebelt war. Ich glaube, viele Asexuelle schauen irgendwann in ihrem Leben abfällig auf sexuell aktive Menschen herab. Das passiert, wenn du zu so einer kleinen Minderheit gehörst.