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Ich habe mich von der Notvorratsliste des Bundes ernährt

Das Katastrophenmenü der BRD ist ein Geschmackssupergau: weder Gewürze noch Schokolade, dafür Dosenspargel, Sauerkraut und Büchsenfleisch.

Alles Fotos: Lukas Keijser

Draußen geht die Welt unter. Drinnen sitzen wir in Warnwesten, ohne Strom, ohne fließend Wasser, jeder Klogang streng bürokratisch geregelt durch eine Klokarte, die "den Träger zum einmaligen Toilettengang" berechtigt. Es riecht nach Desinfektionsmittel, mit dem wir beim Betreten des Schutzbunkers eingesprüht wurden. Auf den Tischen stehen Dosen mit Kidneybohnen und jungen Erbsen, Tüten mit Sauerkraut, Zwieback und Büchsenfleisch. Der Raum wird nur von Kerzen und Campingkochern erleuchtet. Alle flüstern, manchmal kommen eine Radiodurchsage oder ein Lautsprecherbefehl.

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Ich erlebe den Ernstfall in der Bundesrepublik Deutschland: ein Reaktorunfall vielleicht, eine Naturkatastrophe oder ein bewaffneter Angriff. Zumindest könnte der Notfall so aussehen. Das Ende der Welt ist eine künstlerische Simulation, der "Schutzbunker", in dem wir sitzen, ein abgedunkelter Raum an der Universität der Künste (UdK) Berlin. Die Vorräte, die wir auf den Tischen haben, stammen aber von der sehr realen Notvorratsliste des Bundes.

Weitere Ernährungstipps für den Ernstfall findet man in diesem dezenten Guide des Amtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe:

Dieser wird mit folgenden mahnenden Worten beworben: "Ist ein Notfall erst eingetreten, ist es für Vorsorgemaßnahmen meist zu spät. Wenn es brennt, müssen Sie sofort reagieren. Wenn Sie und Ihre Familie evakuiert werden müssen, können Sie nicht erst beginnen, Ihr Notgepäck zu packen. Wenn der Strom für Tage ausfällt, sollten Sie einen Notvorrat im Haus haben." Außerdem rät der Guide dazu, Notfallmedikamente, Desinfektionsmittel und ein Radio zur Verfügung stehen zu haben.

Einen Abend lang sollen wir, 28 Teilnehmer des "Apokalypse-Dinners", spüren, wie sich ein Katastrophenmahl in der Bundesrepublik anfühlen würde, und mittels der Hamsterliste kochen.

Im Sommer empfahl das neue Zivilschutzkonzept der Bundesregierung den Bürgern, einen Notvorrat an Trinkwasser und Lebensmitteln für zehn Tage im Haus zu haben. So eine Empfehlung hat es seit 1989 nicht gegeben—seit dem Ende des kalten Kriegs. Das sorgte für ordentlich Wirbel, zumal der Rat, Essen zu bunkern, zu einer Zeit kam, als die Angst vor islamistischen Angriffen groß war: Die Anschläge in Brüssel und Nizza waren nicht lange her, und in Deutschland wurden viele durchgeknallte Verbrechen erstmal als Terrorangriff verschrien, bevor die Dinge richtiggestellt wurden. Kritiker geißelten das schlechte Timing der Empfehlung und dass sie Angst und Schrecken verbreite. Die Linke-Vorsitzende Katja Kipping sprach von "purer Panikmache" und Thomas Oppermann, der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion sprach davon, dass unnötig Unsicherheit geschürt würde.

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Das wirklich Irre finde ich aber nicht einmal die Vorstellung, dass jeder nervöse Bundesbürger stets 28 Liter Wasser und drei Liter Fett zu Hause hat. Sondern dass wir, würden wir den Bundesempfehlungen folgen, den Weltuntergang ohne Ketchup verbringen müssten. Außerdem ohne Salz. Oder Schokolade. Oder dem, was man am allermeisten brauchen würde: Schnaps.

Dafür mit eingelegtem Spargel, Sauerkraut, Ananas in Dosen und Dauerwurst (behördliche Bezeichnung von Salami). Egal wie sehr wir versuchen, ein Gourmetmahl aus den Zutaten der Hamsterliste zu kochen—wir kommen nicht über das kulinarische Niveau einer 1980er-Jugenherberge hinaus. Dosenmais mit Böhnchen, Nudeln mit Butter und warmen Konservenmörchen. Was nicht nur an den Campingkochern liegt, sondern vor allen Dingen daran, dass die Liste keinerlei Gewürze vorgesehen hat, außer Zitronensäure.

Und dass die Auswahl der Lebensmittel sehr an die Vorratskammer der Großtante erinnert. Dosenaprikosen sind dabei, außerdem Leberpastete und Würstchen aus dem Glas. Es ist keine einzige vegetarische Proteinquelle vorhanden. Ist das weltfremd? Oder ist das die deutsche Essensrealität 2016—in der Hummus, Sesam und Tahini nur in Großstadtszenebezirken vorkommen?

"Wenn ich eines von diesem Experiment gelernt habe: Die Hamsterliste ist ein trauriges Zeugnis deutscher Esskultur", sagt Annika Högner von der studentischen Fachschaft der UdK, die das Kunstexperiment an die Uni gebracht hat. Konzipiert hat den Abend der niederländische Performance-Künstler Lukas Keijser. Befreundete Künstler halfen ihm: Lea St. half zum Beispiel bei der apokalyptischen Deko, Lola Göller sorgte für die bürokratische Atmosphäre im Bunker.

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Wärmedecke dient als Tischdecke, die Prints auf dem Teller sind aus der Dürer-Serie 'Apokalypse'

"Ich habe mich schon immer für apokalyptische Szenarien interessiert", sagt Keijser. "Die Hamsterliste hat mich in ihrer Absurdität fasziniert. Sie war so unglaublich deutsch." Für den Abend hat er drei Mal den empfohlenen 12-Tages-Notvorrat bei Aldi gekauft—und gerade Mal 200 Euro dafür bezahlt.

Gemeinsam fantasieren wir, wie unsere individuelle Notfallliste für den Weltuntergang aussehen würden: auf jeden Fall Kippen für den Stress und Schnaps, um das alles zu vergessen. Und Kondome. Wobei: Wenn die Erde morgen futsch geht, braucht man die auch nicht mehr. Dann kochen wir Würstchen auf dem Campingkocher, singen a cappella "I will survive" und sprechen ein Tischgebet, auf dass höhere Mächte uns "unser WLAN wieder geben und unsere Zuckerration" erhöhen. Die Apokalypse wäre in dieser Ausführung gar nicht so ungemütlich. Nur geschmacklich wäre sie ein Supergau.

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