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Sex

Wie es sich anfühlt, mit einer Prostituierten zusammen zu sein

Ein Porträt über einen selbstsicheren Mann mit viel Verständnis für das älteste Gewerbe der Welt.
Illustration: Katrin von Niederhäusern

Wer sind die Männer an der Seite von Prostituierten? Was muss ein Mann haben, um mit einer Frau zusammen zu sein, die anschaffen geht? Dazu gibt es vermutlich in etwa gleich viele abgedroschene Klischees wie zu Prostitution an sich.

Die Idee, dass die eigene Freundin für Geld mit anderen Männern schläft, würde bei den meisten Männern wohl ziemlich am Ego nagen. Daher sind die Vorstellungen von Männern, die mit so einer Situation klar kommen ohne durchzudrehen, recht weit gefächert und alles ausser normal.

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Man könnte sich einen schlaksigen Ja-Sager vorstellen, der noch nie ein Rohr verlegt hat und einfach dankbar ist, dass ihn überhaupt jemand anfasst. Oder einen etwas älteren Herrn mit klassischem „Ich mach Ferien in Pattaya"-Bauch unter seinem Hawaiihemd, der jeden Samstagabend in der thailändischen Karaoke-Bar umgeben von kichernden, knapp volljährigen Mädchen verbringt.

Die Realität denkt jedoch nicht in Stereotypen und ist weder schwarz noch weiss. Die Wirklichkeit präsentiert sich wie so oft in einem kunterbunten Mix aus diversen Grau-Facetten—belanglose Klischees werden dem echten Leben selten gerecht.

Alle Illustrationen: Katrin von Niederhäusern

Ein erster Schritt ist es daher, die Menschen, um die es geht, kennenzulernen. Kürzlich hatte ich die Möglichkeit, den Freund von Tatjana zu treffen. Seit knapp zehn Jahren ist sie nun eine professionelle Prostituierte, vor etwa drei Jahren lernten wir uns über eine Freundin kennen. Ich wollte mit Tatjana und ihrem festen Freund über ihre Beziehung sprechen.

Ihr Freund Markus ist 37 Jahre alt und gelernter Ingenieur. Aufgrund der momentanen Situation in der Branche wurde er entlassen. Er nimmt die Situation aber mit einigem Humor. Trotzdem macht er sich keinerlei Sorgen, bald wieder eine Stelle zu finden. Seine freundliche und optimistische Art ist mir sofort sympathisch. Vom Typ her hätte Markus einer kolumbianischen Seifenoper entsprungen sein können: dunkelhaarig, gross, sportlich gebaut. Ein gutaussehender Kerl. Im ersten Moment wirkt er sogar etwas einschüchternd, mit einer gesunden Arroganz ausgestattet, wie er selber im Verlauf des Gesprächs bestätigt.

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Tatjana und Markus haben sich vor ungefähr sieben Jahren auf einer privaten Feier bei einer gemeinsamen Freundin kennengelernt. Markus fand sie schon damals sehr interessant. Dieses Interesse schien auch seine beste Freundin bemerkt zu haben, die ihn warnte, Tatjana wäre nicht ganz dicht. „Die schafft an," hat sie gemeint. Dies war ihm aber ziemlich egal. Er war schon zuvor mit einer Prostituierten zusammen gewesen—ganze zwei Jahre. Somit war er mit dem Thema bestens vertraut, trotzdem kamen Markus und Tatjana dort noch nicht zusammen. Sie liefen sich aber immer wieder über den Weg, sei es bei Freunden oder auf Partys. Seit einem Jahr sind sie nun ein Paar.

„Meine Ex und Tatjana sind zwei Paar Schuhe und nicht miteinander zu vergleichen", erzählt Markus, als ich ihn bitte über die Unterschiede zwischen Tatjana und seiner Verflossenen zu erzählen. Es sei völlig anders gewesen. Charakterlich hätten sie unterschiedlicher nicht sein können. Dankbar für die zweijährige Beziehung mit seiner Ex-Freundin sei er trotzdem. Die Erfahrungen, die er damals sammelte, halfen ihm zu mehr Verständnis für den Beruf, das Milieu und für alles, was das so mit sich bringt.

Es half ihm, Sexarbeit aus einer professionellen Perspektive zu betrachten, wie er sagt. „Ich verstehe das Ganze als Beruf. Nicht mehr, nicht weniger. Ich bin jemand mit Geschäftssinn und habe deshalb Verständnis. Wenn sie am arbeiten ist, ist sie am arbeiten. Ob sie jetzt Kosmetikprodukte verkauft oder andere Dienstleistungen anbietet, ist für mich dasselbe! Wenn ich mit ihr telefoniere und ihr Geschäftshandy klingelt, dann sage ich ihr sie solle abnehmen—schliesslich ist der Kunde König."

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Markus wünscht sich, die Gesellschaft hätte dasselbe Verständnis gegenüber Prostituierten. Er weiss aber, dass das leider zu viel verlangt ist. Man muss deshalb eine klare Linie ziehen, sagt er—Privates vom Geschäftlichen trennen: „Das eine ist Business und das andere ist das Private—diese zwei Welten dürfen sich nicht miteinander vermischen. Das muss schön getrennt bleiben, weil die Gesellschaft nun mal tickt, wie sie tickt und wir sie nicht über Nacht ändern können."

Mit ähnlicher Gelassenheit geht er auch mit ihren Geschichten aus dem Arbeitsalltag um. „Bei uns ist das Ganze sehr locker. Und ja, sie erzählt mir viel aus ihrem Alltag. Manchmal muss ich sie auch stoppen, wenn es dann doch zu viel wird." Sie sei jung und wisse es manchmal nicht besser.

Tatjana selber meint, sie sei ein Stück reifer geworden: „Ein gutes Beispiel sind die Finanzen. Er hilft mir und erklärt mir die ganzen Sachen rund um die Vorsorge und so." Papierkram sei nicht so ihr Ding. Früher bunkerte sie ihr Geld im Keller, anstatt es anzulegen. Heute lebe sie strukturierter, habe feste Arbeitszeiten und einen fast schon langweilig normalen Alltag. Sie sei wieder mehr Teil der Gesellschaft. „Ich übe aber keinen Druck auf sie aus. Wenn du Tatjana kennst, weisst du, dass du dich damit selbst in die Nesseln setzen würdest."

Er greift ihr aber unter die Arme, wo er kann und regt sie bei gewissen Dingen zum Nachdenken an. „Man kann ihr Ideen geben, wie die Sache mit den Finanzen. Ich nenne das ‚einen Samen setzen', der muss dann alleine wachsen. So sehe ich mich, als Botaniker." Ansonsten gestaltet sich ihr gemeinsamer Alltag am Wochenende ziemlich unspektakulär. „Wir erledigen den Haushalt, gehen einkaufen … " Alltagsdinge eben.

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Markus erzählt: „Treue ist kein Grundpfeiler für eine Beziehung. Diesen Schalter musst du umlegen, sonst funktioniert es nicht." Tatjanas Job sei ja auch kein Zuckerschlecken und wenn einer der Freier gut aussehe, dann gönne er ihr den Spass. Bei einigen davon sei das auch tatsächlich der Fall. „Typen halt wie du und ich. Ausserdem weiss ich, dass diese mir nicht das Wasser reichen können—ich habe ein ziemlich grosses Ego." Weiter erzählt er, er habe die Freiheit, auch mit anderen zu schlafen—obwohl er es im Moment nicht tue. Diesen Raum nehme er sich aufgrund der eher unkonventionellen Situation der beiden.

Tatjana sieht das auch nicht anders, als ich sie wenig später darauf anspreche. „Wenn er möchte, dann darf er mit anderen Frauen Sex haben. Oder bei einem Dreier wäre ich auch dabei. Sie muss mir einfach auch gefallen. Bis jetzt haben wir aber leider keine gefunden."

Ich hake beim Thema Beziehungen nach. Ich möchte erfahren, ob Markus eine Schwäche für das Aussergewöhnliche hat oder es einfach Zufall war, gleich zwei Mal mit Frauen aus dem Rotlichtmilieu zusammen zu sein: „Mir geht es immer um den Kern der Sache, den Kern eines Menschen. Ich beurteile niemanden nach seinem Beruf oder seinem Ausbildungsgrad, sondern nach dem, was er ist."

Beziehungstechnisch folgte bei ihm eine Katastrophe der anderen. Mit seinen Händen gestikulierend erklärt er mir, dass er sich ab einem gewissen Punkt fragte, ob die ganze Welt verrückt spiele oder ob er der Verrückte sei.

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Was ist denn an Tatjana so anders? „Es gibt gewisse Grundsatzwerte, die mir bei Menschen wichtig sind: Ehrlichkeit, Loyalität, Respekt, Anstand. Unabhängig davon, welchem Job man nachgeht, diese Werte findet man heutzutage so selten." Kurz an der Zigarette ziehen und schon fährt er fort: „Sie ist einfach authentisch. Authentische Leute sind fassbar, sind greifbar. Man weiss, wo man bei ihnen steht und was man hat."

Ausserdem schwimme Tatjana eher gegen als mit dem Strom. „Bei 99 Prozent aller Prostituierten färbt das Geschäft auf den Charakter ab," sinniert Markus. „In diesem Milieu nicht im Mainstream unterzugehen, der von Gewalt, übertriebenem Drogenkonsum und ähnlichem geprägt ist, zeugt von Charakterstärke—Tatjana gehört zu diesem einen Prozent." Tatsächlich wirkte Tatjana auf mich, verglichen mit ihrem Umfeld, immer sehr echt. Sie stand immer dazu, wie sie ihr Geld verdient.

Natürlich eckt sie mit diesem Verhalten auch an und stiess schon öfters auf Missverständnis im Millieu. Deshalb üben sich die beiden nun etwas in Diskretion. In seinem direkten Umfeld wissen nur seine beste Freundin und sein Bruder Bescheid. „Nicht weil ich mich schäme. Die Welt ist einfach nicht bereit dazu, mit einer solchen Situation vernünftig umzugehen."

VICE Schweiz auf Twitter: @ViceSwitzerland


Alle Illustrationen von: Katrin von Niederhäusern