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„Wir machen’s ohne“ – Dürfen HIV-Positive Sex ohne Kondome haben?

Wir haben mit der AIDS-Aktivistin Michèle Meyer über ihre neue Selbsthilfe-Offensive auf Facebook geredet.

Foto: MIKI Yoshihito | Flickr | CC BY-2.0

Heute ist Welt-Aids-Tag 2015. Weltweit leben etwa 35 Millionen Menschen mit HIV. In Österreich sind es rund 7.000 bis 8.000 HIV-infizierte Personen. Sie erleben in verschiedenen Lebensbereichen noch immer Zurückweisung und Herabwürdigung, vor allem wenn es um Sex geht. Man will nicht mit ihnen aus einem Glas trinken oder beschimpft sie als „Gefahr für die Allgemeinheit". Gegen solche Vorurteile geht die diesjährige Kampagne zum Welt-Aids-Tag unter dem Motto „Positiv zusammen leben" vor. Statt einem—wie es oft bei diesen Themen der Fall ist—die Botschaft mit unangenehm anbiedernden Plakaten und Sprüchen wie "Ich mach's mit Latex" zu vermitteln, setzt die Welt-Aids-Tag-Kampagne 2015 auf die Beseitigung irrationaler Ängste mithilfe von Alltagsfragen: „Was macht ihr, wenn euer Stürmer HIV hat?"—„Hoffentlich viele Tore!"

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Eine neue Facebook-Seite wirkt dieser Botschaft schon seit gestern unterstützend voraus und klärt über einen wichtigen, bisher wenig bekannten Punkt auf: HIV-Therapie kann die Übertragung des Virus genauso zuverlässig verhindern wie Kondome. Im Klartext: Safer Sex durch HIV-Therapie. Für wie skandalös diese Tatsache in der Öffentlichkeit gehalten wird, zeigt die Geschichte des nun ehemaligen Sprechers des Aufklärungsprojekts SchLAu NRW, Christian N. Dieser postete vor zwei Wochen auf Facebook: „Ich habe HIV und würde es wieder tun! Ich habe regelmäßig Sex ohne Kondom. Schutz durch Therapie macht es möglich. Menschen mit HIV sind nicht kriminell!" Es folgte ein Schwall von Hasskommentaren und Beschimpfungen gegen ihn. Sogar zwei Abgeordnete der FDP stellten der Landesregierung zu den Äußerungen von Christian N., wonach „Sex mit häufig wechselnden Partnern ohne Kondom bedenkenlos sei", eine kleine Anfrage.

Screenshot von der Facebook Seite „Wir machen's ohne, Safer Sex durch Therapie"

Auf der neuen Facebook-Seite „Wir machen's ohne, Safer Sex durch Therapie" machen HIV-positive Männer und Frauen nun vereint öffentlich, dass sie aufgrund ihrer wirksamen Therapie auf Kondome verzichten, ohne dass ein Übertragungsrisiko besteht. Auch HIV-negative Menschen haben sich mittlerweile auf der Seite solidarisch erklärt.

Über 380 Likes und mehr als 50 Posts hat die Page seit gestern morgen um 10 Uhr, als sie online ging. Laut Initiatorin Michèle Meyer hat die Seite darüber hinaus schon über 15.000 Interaktionen und eine Reichweite von mehr als 12.000 Nutzern. Michèle Meyer ist eine Schweizer AIDS-Aktivistin und ist selbst HIV-positiv. Wir haben uns mit ihr über die neue Facebook-Seite unterhalten.

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VICE: Wer steckt hinter der neuen Facebook-Seite?
Michèle Meyer: Ich bin die Hauptinitiatorin, aber insgesamt sind es elf Leute, die hinter der Seite stehen. Wir sind gemeinsam auf dem Titelbanner der Seite abgebildet. Die Leute kenne ich alle durch meine Arbeit als AIDS-Aktivistin.

Was ist die zentrale Botschaft?
Die zentrale Botschaft ist die Erkenntnis, dass HIV-positive Menschen unter erfolgreicher, langfristiger Therapie nicht mehr sexuell infektiös sind. Diese Erkenntnis gibt es seit bald acht Jahren. Sie ist 2008 zum ersten Mal in der Schweiz publiziert worden und wurde daraufhin auch in verschiedenen Studien wissenschaftlich erwiesen.

Es ist einfach höchste Zeit, dass wir als Betroffene offen über dieses Thema sprechen. Das Thema wird schon seit Langem in Präventionsbotschaften und Kampagnen angesprochen. UNAIDS spricht davon, die Ärzte sprechen davon. Alle dürfen darüber sprechen, nur wir nicht. Es ist wichtig, dass wir gemeinsam sagen: „Wir sind nicht infektiös und wir dürfen das auch aussprechen." Denn Schutz durch Therapie ist es eine anerkannte Präventionsmethode. Es gibt bis jetzt keinen dokumentierten Fall der Übertragung einer HIV-Infektion auf diese Art und Weise [Anm.: Laut der Deutschen AIDS-Hilfe gibt es einen dokumentierten Fall]. Es ist mindestens so sicher wie ein Kondom. Aufklärung ist das Wichtigste und Fakten gehören auf den Tisch.

Warum ist diese Erkenntnis nicht in der breiten Öffentlichkeit angekommen?
Das hat unterschiedliche Gründe. Allgemein orientiert sich die gesellschaftliche Wahrnehmung von HIV/AIDS nicht am medizinischen Fortschritt.
Damals, in den 80er Jahren, ist AIDS über die sehr bewegte und befreite Gesellschaft der westlichen Welt eingestürzt. Gleichzeitig ritt man damals auf einer medizinischen Fortschrittswelle. Es herrschte eine Art Euphorie: Man hatte das Gefühl, alle Krankheiten besiegt zu haben. Dann kam AIDS und brachte unheimlich viel Leid und Elend und man wusste nicht, wie man diese Krankheit bekämpfen sollte. Natürlich war die Angst, sich anzustecken, sehr groß. Mit dieser Angst musste man irgendwie umgehen. Es wurde immer wieder behauptet, AIDS betreffe nur Randgruppen, nur die Anderen. Das konnte man natürlich gut nutzen, um zu sagen: „Das sind die Anderen. Das sind die Bösen. Ich will nicht sterben. Ich will mich nicht anstecken." Daraus ist das Stigma entstanden und ist bis heute geblieben. Aus einer fremden, bedrohlichen Krankheit wurden fremde, bedrohliche Kranke.

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Wie kann man dieses Stigma überwinden?
Ich weiß nicht, ob es wirklich überwindbar ist. Es gibt aber die Möglichkeit, den Leuten klar zu machen, dass wir genauso dazu gehören wie alle anderen, HIV-negativen Menschen auch. Und das versucht die Facebook-Seite zu tun.

Ist der Fall mit dem jungen Mann auf Facebook der Auslöser für die Seite gewesen?
Nicht unbedingt. Wir wollten seine Geschichte zwar definitiv aufgreifen, aber mit dem Gedanken, eine solche Seite zu erstellen, hatte ich schon lange gespielt. Der Gedanke kam mir schon 2008, als ich selbst Druck machte, dass die Erkenntnis über den Schutz durch HIV-Therapie veröffentlicht wird. Denn ich persönlich wusste schon seit 2000 von meinem Arzt, dass ich nicht infektiös bin. Als es dann 2008 endlich publiziert wurde, gab es viele Stimmen dagegen. Sie sagten: „Das darf man nicht sagen. Das ist ja wissenschaftlich noch gar nicht belegt." Da kam mir schon der erste Gedanke, dass es vielleicht an der Zeit ist, sich gemeinsam hinzustellen und zu sagen: „Wir leben das seit Jahren und es gibt keinen einzigen dokumentierten Fall der Übertragung auf diese Weise und wir bekennen uns jetzt dazu."

Du bist selbst HIV-positiv, verheiratet mit einem HIV-negativen Mann und praktizierst Safer Sex mithilfe einer wirksamen, langfristigen Therapie.
Das ist richtig.

Was muss man dabei beachten?
Das wird in verschiedenen Ländern unterschiedlich gehandhabt, aber grundsätzlich muss die Viruslast seit mindestens einem halben Jahr unter der Nachweisgrenze liegen und die Medikamente müssen regelmäßig eingenommen werden. Dazu lässt man sich alle drei Monate testen. Natürlich ist es vor allem bei Menschen, die oft wechselnde Sexualpartner haben, sinnvoll, sich auch regelmäßig auf sonstige sexuell übertragbare Infektionen testen zu lassen. Für mich selbst genügt es, wenn ich einmal im Jahr einen Test machen lasse. Das ist mit meinen Ärzten so beschlossen, denn ich bin seit 2000 unter der Nachweisbarkeitsgrenze und bin therapie-treu.

Wie schätzt du die Reaktionen auf die Seite bisher ein?
Ich bin sehr erfreut, dass es bisher so viele positive Reaktionen auf die Seite gab. Ich hätte nicht gedacht, dass sie so schnell zum Selbstläufer wird. Interessant ist, dass es trotzdem einen Aufschrei gibt. Manche Leute behaupten, unsere Seite sei ein Aufruf zu Sex ohne Kondom und wir würden überhaupt nicht an STIs denken. Unsere Aktion ist kein Statement gegen Kondome. Schutz durch Therapie ist einfach eine weitere Möglichkeit. Man muss dazu noch sagen, dass Kondome keinen vollständigen Schutz vor allen STIs bieten. Wenn man sicher sein will, dass man keine STIs hat, dann muss man sich einfach regelmäßig testen lassen.