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Essstörungen

Wie es ist, wenn dir eine Essstörung unterstellt wird

Ich habe nie gelernt, wie es sich anfühlt, wenn mein Gewicht nicht der Mittelpunkt eines jeden Gesprächs ist, das man mit mir führt.

Titelfoto: Ashley Harrigan | flickr | by CC 2.0

Ich sitze meiner Lehrerin gegenüber und warte, bis sie etwas sagt. Ich glaube, es sind mittlerweile ein paar Minuten vergangen, in denen wir kein Wort gewechselt haben. Irgendwie unangenehm.

Aber ich merke, wie schwer ihr diese Unterhaltung fällt - sofern man es eine Unterhaltung nennen kann. Sie ringt um Worte und es wirkt fast so, als würde sie keine passenden finden. Ich weiß nicht, was ich getan habe, aber es muss schlimm gewesen sein.

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"Wir sollten über deinen gesundheitlichen Zustand reden. Ich glaube, wir wissen beide, dass deine Krankheit kein Thema ist, das man verdrängen sollte. Meinst du nicht?"

Ich weiß nicht, was sie damit sagen will. Aber mich interessiert, welche Krankheit ich haben soll, die für eine außenstehende Person so offensichtlich ist, ohne dass ich sie überhaupt bemerkt habe.

"Du hast eine Essstörung und unsere Schulleitung sieht sich gezwungen, das nicht länger mit anzusehen – und dir zu helfen."

Dieses Gespräch ist mittlerweile über zwei Jahre her und ich fühle immer noch dieselbe Fassungslosigkeit, die ich damals gefühlt habe. Zu dieser Zeit war es nicht das erste Mal, dass ich auf mein Gewicht angesprochen wurde. Ich wusste, dass ich viel abgenommen hatte und Leute darüber redeten. Was ich jedoch nicht wusste, war, dass all diese Menschen fest davon überzeugt waren, ich hätte Bulimie.

In meiner Kindheit bemerkte ich, dass ich übergewichtig war. Ich durfte bestimme Nahrungsmittel nicht essen und im Kindergarten bekam ich nie eine zweite Portion. Mir wurde von allen Seiten mitgeteilt, dass Übergewicht etwas Böses ist, von dem ich betroffen war. Ich war mir also bewusst, dass "zu viel wiegen" nichts Erstrebenswertes ist, aber ich wusste nicht, wieso.

Ich akzeptierte mich so wie ich war, obwohl mich viele Leute oft daran erinnerten, dass ich das nicht tun sollte.

Als ich in die Schule kam, hatte ich bereits diätähnliche Phasen hinter mir, bevor ich das Wort "Diät" überhaupt buchstabieren konnte. Je älter ich wurde, umso besser begann ich zu verstehen, was dünn, dick, mollig und dürr hieß. Die Erkenntnis brachte mir nicht viel – außer einer Sache mehr, die ich bedenken und nach der ich mich richten sollte.

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Es machte mir nichts aus, dass ich dick war. Im Gegenteil, ich war ein junges Mädchen, das gern in die Schule ging und am Nachmittag im Park mit ihren Freunden spielte. Es blieb also wenig Zeit, um über Dinge nachzudenken, die ich so belanglos fand wie mein Gewicht. Ich akzeptierte mich so wie ich war, obwohl mich viele Leute oft daran erinnerten, dass ich das nicht tun sollte.


Hier ein Video, das zeigt, wie Mode und Selbstakzeptanz zusammenhängen


Als ich in die Pubertät kam, zweifelte ich – wie jeder Mensch in diesem Alter – an allem. Inklusive mir selbst. Ich wollte viele Dinge an mir ändern und oft ganz von 0 beginnen. Ob es um die Schule, meine Persönlichkeit oder mein Äußeres ging, war egal. Irgendetwas passte nie.

Ich war mittlerweile 16 Jahre alt und konnte mir immer noch anhören, dass ich zu viel wog. Es war fast so, als ob mein Gewicht ein Thema war, zu dem jeder seinen Senf dazu geben konnte. Ich verstand nicht, wieso das alle zu interessieren schien.

Zu dieser Zeit aß ich mehr, als ich es sonst tat. Keine Ahnung, wieso. Man könnte es auf die Frustration schieben, die ich bekam, wenn Leute mich als zu dick abstempelten, oder auf alltägliche Teenagerproblem beziehungsweise darauf, dass ich Essen einfach mochte. Es dauerte nicht lange, bis ich merkte, dass die Sache immer ernster wurde und mein gesundheitlicher Zustand begann, darunter zu leiden. Zu diesem Zeitpunkt wog ich 85 Kilogramm.

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Ich hatte die Pubertät bereits hinter mir gelassen und somit auch alle Probleme, die sie mit sich trug – zumindest fast alle. Kurz vor meinem 17. Geburtstag fühlte ich mich nicht mehr wohl. Ich wollte abnehmen um mich in meiner Haut wieder gut zu fühlen. Ich tat das für mich und teilte diese Entscheidung vorerst niemandem mit. Mein Gewicht war schon seit Jahren ein heiß diskutiertes Thema und ich wollte nicht auch noch, dass mir beim Abnehmen über die Schulter geschaut wurde.

Ich ging regelmäßig ins Fitnessstudio, ernährte mich gesund und hielt mich strikt an alles, was ich mir vorgenommen hatte. Ich weiß bis heute nicht, woher diese Motivation kam. Für gewöhnlich brauche ich drei Anläufe, wenn ich etwas Unangenehmes erledigen will. In diesem Fall passierte es aber ohne dass ich groß darüber nachdachte.

Es dauerte über ein Jahr, bis ich das erreicht hatte, was ich wollte. Ich konnte plötzlich wieder Bussen nachlaufen, ohne das Gefühl zu haben, dem Tod damit ein Stückchen näher gekommen zu sein. Ich fühlte mich befreit. Nicht nur, weil ich mein Übergewicht losgeworden war, sondern auch, weil die Aufmerksamkeit meines Umfelds abnahm.

Zumindest bis die Sache mit der Essstörung aufkam.

Begonnen hat es damit, dass meine eigene Familie mich nach dem Essen schief anschaute, wenn ich auf die Toilette ging. Ich verstehe schon, wenn ich nach jeder Mahlzeit Richtung Badezimmer gerannt wäre, hätte ich genauso reagiert. Nur in diesem Fall, kam das genau so oft vor, wie es nunmal vorkommt, wenn man während des Essens viel getrunken hat. Dass ich also von meiner eigenen Familie gefragt wurde, ob ich Bulimie habe, fand ich nicht sonderlich cool.

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Ich konnte nicht mehr unter Leuten essen, ohne mit Ansprachen rechnen zu müssen.

Die Kleinigkeiten häuften sich und bald hörte ich den Vater einer Freundin, während eines Telefonats im Hintergrund sagen: "Ah, liebe Grüße an die Iris! Und richte ihr aus, sie soll aufhören, nach dem Essen zu erbrechen, haha!"

Ich konnte nicht mehr unter Leuten essen, ohne mit Ansprachen rechnen zu müssen. Wenn ich einen Salat aß, war es noch schlimmer. Ich fühlte mich beobachtet und auf meine nichtvorhandene Essstörung reduziert.

Mittlerweile war ich 18 Jahre alt und ich hatte noch ein paar Kilogramm verloren. Einzig und allein, weil ich mich mitten im Matura-Stress befand. Selbst beim Schreiben dieses Satzes habe ich noch das Gefühl, ich müsse mich rechtfertigen.

Die Geschichte erreichte ihren Höhepunkt, als mir nahegelegt wurde, ich sollte einen Arzt aufsuchen. Ich erinnere mich daran, dass die anfänglich Möglichkeit, selbst zu entscheiden, nicht lange anhielt. Ein paar Tage später wurde ich einfach von Ärzten durchgecheckt. Es dauerte nicht lang, aber es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Ich unterhielt mich auch mit einer Psychologin, die mir Fragen stellte, bei denen ich mir vorkam, als würde sie mich gerade auf frischer Tat ertappen. Sie fragte mich, ob ich mich schon jemals unwohl in meinem Körper gefühlt habe. Ich nickte. So wie vermutlich jeder Teenager nicken würde, wenn er diese Frage ehrlich beantwortet.

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Wenig später wurde mir von Ärzten bestätigt, dass ich keine Essstörung hatte.

Ich weiß, dass es viele verschiedene Essstörungen gibt und der Unterschied zwischen einer solchen Krankheit und einer heftigen Diät sehr gering sein kann. Ich bin mir auch bewusst, dass ich während meiner Abnehm-Phase sehr verbissen war, was auf manche Menschen krankhaft gewirkt haben mag.

Was ich aber nicht verstehe, ist dass niemand gesehen hat, dass das Ende meiner Diät für mich auch das wirkliche Ende war – der Abschied meines psychischen Wohlbefindens, den ich allen Anschuldigungen zu verdanken hatte.

Was man dabei aber nicht vergessen darf, ist wie wichtig es bei einer solchen Thematik ist, aufeinander einzugehen.

Versteht mich nicht falsch: ich verstehe den Gedanken hinter den Taten meiner Freunde und Familie, irgendwie. Sie haben sich Sorgen gemacht und wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten. Auch wenn eine direkte Anrede bei einer Person mit Essstörung nicht die korrekte Lösung ist, haben sie wenigstens nicht tatenlos zugesehen.

Was man dabei aber nicht vergessen darf, ist wie wichtig es bei einer solchen Thematik ist, aufeinander einzugehen. Das Einzige, was mir gefehlt hat, war Empathie. Es gab keinen einzigen Menschen, der auf mich zugekommen ist und mir das Gefühl gab, er versucht meinen Standpunkt anzuhören - und tatsächlich zu probieren ihn zu verstehen.

Auch wenn diese Zeit eine ziemlich schwierige Phase in meinem Leben war, habe ich sie inzwischen ganz hinter mir gelassen. Ich kann mittlerweile sagen, dass mein Gewicht nicht mehr das Zentrum meiner Gedanken und der meines Umfelds ist.

Hier bekommt ihr Hilfe, wenn ihr unter einer Essstörung leidet. Und hier

Iris hat seit neuestem auch Twitter: @irisadelt

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